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Rezension / 05.05.2020

Samuel Salzborn: Kollektive Unschuld. Die Abwehr der Shoah im deutschen Erinnern

Leipzig, Verlag Hentrich & Hentrich 2020

Mit diesem Essay übt Samuel Salzborn scharfe Kritik an der angeblich erfolgreichen deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Oftmals werde versucht, die Shoah zu vergessen und den Rest der deutschen Geschichte überzubetonen. Es sei während der 1950er- und 1960er-Jahre Konsens gewesen, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung passiv zu Opfern geworden sei. Dieser Opfermythos habe sich auf die nachfolgenden Generationen übertragen. Gerade die antisemitische Gegenwart erzwinge heute die Notwendigkeit der Erinnerung. Daher sei die Debatte, die Salzborn anstoßen will, wichtig und richtig, schreibt Vincent Wolff.

„[Die] deutsche Gesellschaft [ist] über die Jahrzehnte hinweg aus der Tätergemeinschaft des Nationalsozialismus zur Erinnerungsabwehrgemeinschaft der Bundesrepublik geworden“ (14, Hervorhebung im Original), konstatiert Samuel Salzborn. Er widmet sich in dieser recht kurzen Abhandlung der angeblich erfolgreichen deutschen Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Dabei stellt Salzborn einen Hinweis voran: Vieles in dem Essay sei nicht neu, sondern ein Rekurs auf bestehende Arbeiten. Das beeinträchtigt die Qualität und Bedeutung des Textes keineswegs, vielmehr gelingt es dem Autor, der Thematik eine Schärfe zu verleihen, die bisher in der öffentlichen Debatte gefehlt hat.

Salzborn orientiert seinen Essay an den von Aleida Assmann und Ute Frevert vormalig eingeführten Begrifflichkeiten der Geschichtsvergessenheit und der Geschichtsversessenheit, um die viel beschworene deutsche Aufarbeitung der eigenen Geschichte zu analysieren. Für den Autor ist klar: Oftmals werde versucht, den Nationalsozialismus und die Shoah zu vergessen und den Rest der deutschen Geschichte überzubetonen. Insbesondere der Vertreibung von Deutschen aus Osteuropa nach dem Zweiten Weltkrieg komme dabei in der Öffentlichkeit eine herausragende Bedeutung zu, die oftmals zur Relativierung der Shoah genutzt werde. Dies diene der Entwicklung eines deutschen Opfernarrativs. So sei während der 1950er- und 1960er-Jahre die „Unterstellung, dass ein Großteil der deutschen Bevölkerung passiv zu Opfern geworden sei“ (5) immer Konsens in der bundesdeutschen Geschichte gewesen, bis weit ins linke Spektrum hinein. „Der Opfermythos der Deutschen gehört zu den Gründungsmythen der Bundesrepublik“ (5). So sei die Selbstviktimisierung zum zentralen Element der deutschen Erinnerungskultur geworden. Dabei werde nicht nur die Beteiligung der in Osteuropa ansässigen Deutschen an der Unterdrückung und deutschen Täterschaft heruntergespielt und verleugnet, sondern es werden diese auch durch die Schaffung eines neuen Opferstatus ihrer Schuld absolviert. Es sei durchaus richtig, dass es in der Nachkriegszeit immer wieder kritische Stimmen gegeben habe, diese seien aber zumeist von Outsidern der Gesellschaft erhoben worden.

In allen drei Nachfolgestaaten (Bundesrepublik Deutschland, DDR, Österreich) des NS-Regimes sei eine Selbstinfantilisierung durch Verantwortungsabwehr erfolgt. Salzborn nimmt auch führende deutsche Politiker in den Fokus, vergleicht so zum Beispiel Helmut Kohls historische Sinngebung seiner Politik mit dem heute praktizierten Ansatz von Alexander Gauland, der mit einer kompensatorischen Aufzählung deutscher kulturgeschichtlicher Leistungen die Relevanz des Nationalsozialismus relativiert. Auch die Idee der Gnade der späten Geburt bleibe ein Bekenntnis ohne Inhalt, eine „funktionale Entsorgung der NS-Vergangenheit“ (40).

In diesem Zusammengang spiele die Umwandlung des bundesdeutschen Antisemitismus vom rassistischen NS-Antisemitismus in einen Schuldabwehr-Antisemitismus eine zentrale Rolle, so der Verfasser. Gerade die antisemitische Gegenwart, die sich facettenreich zeigt, erzwinge heute die Notwendigkeit der Erinnerung. Der gegenwärtige Antisemitismus fuße dabei auf der Tradierung der Erinnerungsverweigerung, so Salzborn. Konkret bedeutet das, dass die Weigerung in die Einsicht dominiert, dass die Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern schuldig waren. Diese Unwilligkeit und Unfähigkeit, die eigene Vergangenheit der unerträglichen Verstörung aufzuarbeiten, tue den Opfern ein weiteres Mal Gewalt an: eine Gewalt des Vergessens. Das heißt auch: Jeder in Deutschland wusste um die Vielzahl der Täterinnen und Täter, diese blieben aber immer abstrakt – und es wurde nicht erkannt, dass die eigenen Eltern oder Großeltern Täter waren, die am Abendtisch vom Krieg erzählten. Nicht selten breche dies heute als Schuldabwehr, Israelhass oder Palästina-Solidarität hervor. Auf diese Weise werde der heutige Antisemitismus auch Stück für Stück als „Israelkritik“ trivialisiert.

Für den Autor stellt der aktuelle Antisemitismus dabei einen wichtigen Aspekt dar. „Die Mobilisierungsmöglichkeiten des Antisemitismus haben ihre Ursache in der Mitte der Gesellschaft, insofern ist das dröhnend laute Schweigen weiter Teile der Gesellschaft zum Antisemitismus auch einer der wesentlichen Gründe für dessen zunehmende Mobilisierungsfähigkeit“ (23), so Salzborn. „Insofern muss auch betont werden, dass die gerne herbeigeredete bundesdeutsche Erfolgsgeschichte erinnerungspolitisch eine freie Erfindung ist“ (44, Hervorhebung im Original).

Salzborn verschont niemandem in diesem Essay. Seine harte Rhetorik und seine starken analytischen Fähigkeiten resultieren in einem ungemein dichten und provokativen Werk. Dieses Buch hat großen Symbolcharakter: Salzborn stößt eine lange verdrängte und nie wirklich offen ausgetragene Diskussion an. Es ist zu hoffen, dass sich dies in der breiten gesellschaftlichen Debatte niederschlägt und dieses Thema nicht, wie in der Vergangenheit, beschämt ignoriert wird. Zurecht weist Salzborn darauf hin, dass auch die deutsche Forschung den Umgang mit Antisemitismus kollektiv vermieden habe. Es sei nicht überraschend, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg ausgerechnet Politikwissenschaftler*innen und nicht Historiker*innen mit dem Thema befasst hätten. Die Debatte vorangebracht hätten überwiegend nicht-deutsche Historiker. Eine große Ausnahme sei Götz Aly, der „die meisten seiner Fachkollegen […] in Detailkenntnissen wie Ideenreichtum um Lichtjahre überragt“ (102). Insgesamt wird sich Salzborn mit diesem Essay vermutlich keine Freunde machen. Doch die Debatte, die er anstößt, ist wichtig und richtig. Dieses Buch sollte gelesen werden.

 

CC-BY-NC-SA
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