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Aus der Forschungslandschaft / 02.01.2017

Radikalisierung: Forschung für die Praxis

Nicht erst mit der Genese des „Islamischen Staates“, aber beschleunigt durch dessen auf Diaspora-Muslime ausgerichtete Anwerbestrategie, gewinnen Forschungen im Bereich der Radikalisierung und De-Radikalisierung zunehmend an Bedeutung und politischer Relevanz. Mit diesem Überblick werden ausgewählte Forschungseinrichtungen kurz vorgestellt.

 

Erschienen am 2. Januar 2017, zuletzt aktualisiert im September 2020.

Nicht erst mit der Genese des „Islamischen Staates“, aber beschleunigt durch dessen auf Diaspora-Muslime ausgerichtete Anwerbestrategie, gewinnen Forschungen im Bereich der Radikalisierung und De-Radikalisierung zunehmend an Bedeutung und politischer Relevanz. Mit diesem Überblick werden ausgewählte Forschungseinrichtungen und -netzwerke kurz vorgestellt.

 

Alliance National des Sciences Humaines et Social

Das französische „operationelle Interface“ ATHENA-TRANSFERT der Alliance National des Sciences Humaines et Social (ATHENA) ist als hybride Organisation konzipiert, die vom Präsidenten der Alliance und einem Mitglied des Parlaments geleitet werden soll. Sie ist strukturell am Beispiel des Radicalisation Awareness Network orientiert und soll künftig Arbeitsgruppen anleiten, die sich aus Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen zusammensetzen.
Das „Observatoire“, eine digitale Plattform, soll alle Forschungsdaten der Sozial- und Humanwissenschaften in Frankreich dokumentieren sowie zum Austausch und Datenexport bereitstellen, aber auch einen Ort für strategische und disziplinäre Reflexionen und Analysen bieten. Institutionen, Forschungsgruppen und Projekte werden auf der Plattform ebenfalls katalogisiert und auf einer Karte verzeichnet. Die Plattform soll zum wichtigsten human- und sozialwissenschaftlichen Forschungsportal werden. Sie wird von der Fondation de la Maison des Sciences de l’Homme (FMSH) konzipiert und von allen der Alliance angehörenden Institutionen unterstützt. Auch die Agence Nationale de la Recherche (ANR) beteiligt sich an diesem Projekt und stellt Daten zur Verfügung, zusätzlich bietet das Observatoire des Sciences et Techniques (OST) seine Expertise an.

Siehe hierzu auch den Beitrag von Christina Müller: Macht die französische Terrorismusforschung bald Politik?, soziopolis, 18. März 2016



Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam

Das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam versteht sich selbst als Think-Tank zu aktuellen Geschehnissen und Tendenzen in der islamischen Welt. Es verbindet regionale und nationale mit transnationalen und globalen Perspektiven. Dabei werden aktuelle Entwicklungen auch vor dem Hintergrund ihrer Relevanz für Deutschland betrachtet. Besonders empfehlenswert für einen schnellen Überblick ist das Dossier zum Thema Salafismus und Jihadismus. Hier werden, nach Ländern sortiert, prägnante Informationen zum islamischen Extremismus sowie zu seinen salafistischen und dschihadistischen Spielarten in unterschiedlichen Ländern der Welt zum Herunterladen zur Verfügung gestellt. Weiterhin sind auch /index.php?option=com_content&view=article&id=41317zentrierte Beiträge zum Dschihadismus (unter anderem zu den Aspekten Geschlechterverhältnisse, Finanzströme, Problematiken der Einwanderungsgesellschaften) in Planung.



International Center for the Study of Radicalisation

Das 2008 mit Sitz in London gegründete International Center for the Study of Radicalisation (ICSR) ist auf die gegenwärtigen Kontexte von Radikalisierung und politischer Gewalt fokussiert. Es hat den Anspruch, explizit für die Verwendung der Ergebnisse durch politische Entscheidungsträger zu forschen. Alle Publikationen sind kostenfrei über die Website zu beziehen. Unter anderem bietet es eine Datenbasis zur Onlineaktivität dschihadistischer Akteure sowie Interviews mit diesen. Erfreulich ist ebenfalls die Aktualität der jeweiligen Publikationen, mit denen häufig auf Ereignisse und politische Diskussionen im Tagesgeschehen reagiert wird. Dies macht die Website des Instituts zu einer ersten Anlaufstelle für gegenwärtige Fragen.



Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel

Abteilung: Terrorismus- und Radikalisierungsforschung

Seit 2014 besteht das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (ISPK) als stiftungsfinanzierte, gemeinnützige GmbH, bleibt aber weiterhin an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel angegliedert, wie es seit dem Gründungsbeschluss von 1983 der Fall ist. Auch viele Arbeitsschwerpunkte bestehen fort: Seit 2006 gibt das ISPK zum Beispiel das Jahrbuch Terrorismus heraus, in dem diverse Autoren allgemeine und regionalspezifische Entwicklungen des Terrorismus, mögliche Gegenmaßnahmen und methodische Fragen der Terrorismusforschung untersuchen. In Kürze wird ein weiteres Format aufgelegt, mit dem einzelne Studien aus dem Bereich der Terrorismusforschung als Monografien veröffentlicht werden. Außerdem pflegt das ISPK eine Datenbank über terroristische Anschläge weltweit.
Ein nach der jüngsten Umstrukturierung neu hinzugekommener Schwerpunkt des ISPK ist die Radikalisierungsforschung. Entsprechende Projekte befinden sich momentan noch in der Anlaufphase, orientieren sich aber an der derzeitigen Debatte in diesem Forschungsfeld. Konkret soll zum Beispiel das Problem der Spezifität durch kontrafaktische Forschungsdesigns adressiert werden, die auch und besonders Menschen aus dem Umfeld von extremistisch auffällig gewordenen Personen berücksichtigen, die trotz ähnlicher Umstände eine andere Entwicklung oder ein anderes Verhalten aufweisen. Das ISPK erhofft sich damit, einen Beitrag zur Verifizierung und Vertiefung von modernen Radikalisierungstheorien zu leisten, die zwar vielversprechend scheinen, aber auf komplexen und schwer untersuchbaren Faktoren wie Identitätsbildung u. Ä. aufbauen.



KURI: Konfigurationen von gesellschaftlichen und politischen Praktiken im Umgang mit dem radikalen Islam

Ein gemeinsames Projekt von IFSH und HSFK

Mit dem vom BMBF gefördeten Projekt des Insituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH) und des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) wird das Spannungsfeld im Umgang mit dem radikalen Islam zwischen Prävention und strafrechtlichen Sanktionen untersucht. „Ziel ist es, einerseits die gesellschaftlichen Anforderungen an den Staat und an zivilgesellschaftliche Einrichtungen zu beleuchten. Andererseits geht es aber auch um die Frage, wie das Problem des radikalen Islam wahrgenommen wird und welche Handlungsmöglichkeiten, Konzepte und Praktiken der Politik, Verwaltung, den Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen zur Verfügung stehen, um auf radikale Islamist*innen in Deutschland und Europa angemessen zu reagieren.“ In die Analysen werden auch rechtspopulisitsche und rechtsextremistische Entwicklungen und Dynamiken einbezogen. Die Laufzeit des Projekts reicht bis August 2024.



Leibnitz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK):

Projekt: Gesellschaft Extrem: Radikalisierung und Deradikalisierung in Deutschland

Das am 1. Juli 2017 begonnene Projekt dient dazu, systematisch vergleichend den Stand der Forschung über Radikalisierung in Deutschland aufzuarbeiten. Es ist nicht auf islamistische Radikalisierung begrenzt, sondern gefragt wird allgemein nach den Mechanismen der individuellen und kollektiver Radikalisierung, um der herausbildung einer „Gesellschaft der Extreme" vorzubeugen. Das Projekt ist auf 18 Monate angelegt und erfolgt in Zusammenarbeit mit sechs Partnerinstituten aus Forschung und Praxis. Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert.



Leibnitz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK):

Projekt: Salafismus in Deutschland: Forschungsstand und Wissenstransfer

Es handelt sich hierbei um ein umfangreiches Forschungsprojekt, das zum einen darauf zielte, den Wissenstand zum Thema Salafismus und Dschihadismus in Deutschland aufzuarbeiten und zum anderen Bedarfe an Beratungen für die politische Praxis zu ermitteln und hierfür entsprechende Instrumente des Wissenstransfer zu entwickeln. Unter anderem koordinierte die HSFK hierfür die bundesweite Zusammenarbeit einschlägiger Experten zu diesem Thema. Das Projekt erfolgte in Kooperation mit der Deutschen Stiftung Friedensforschung (DSF) und wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Die Forschungsergebnisse aus den sechs Projektmodulen zu den Themenbereichen Datenlage, Organisations- und Rekrutierungsformen, Motivationen der Hinwendung zum Salafismus, Rechtfertigungsnarrative der Bewegung und ihres dschihadistischen Zweiges, transnationale Dimensionen salafistischer Netzwerke sowie Erkenntnisse der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit werden auf einer eigenen Website der HSFK in Form von Berichten, Filmen und eines Blogs bereitgestellt.

Aus diesem Projekt ist außerdem der Sammelband von Janusz Biene et al.: „Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen“ hervorgegangen.



Projektverbund PANDORA

Seit März 2017 analysiert ein breit aufgestellter Projektverbund aus Forschung und Praxis mit dem Titel Propaganda, Mobilisierung und Radikalisierung zur Gewalt in der virtuellen und realen Welt. Ursachen, Verläufe und Gegenstrategien im Kontext der Debatte um Flucht und Asyl (kurz: PANDORA), inwieweit gewaltförmige Diskurse auf die Gesellschaft zurückwirken und Radikalisierungsprozesse befördern. Das Vorhaben umfasst sowohl salafistische und islamistische als auch rechtsextreme Mileus. Laut Projektbeschreibung des beteiligten Leibniz-Instituts „Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) ist es das Ziel, „Aufschluss über die Interaktion zwischen virtueller und realer Welt sowie über Radikalisierungsverläufe zu erhalten. Gleichzeitig soll untersucht werden, inwieweit sich Diskurse und Propaganda des rechten und salafistisch-dschihadistischen Spektrums ähneln. Gemeinsam mit sieben Partnern aus der Praxis werden Maßnahmen entwickelt, Gewaltdynamiken frühzeitig zu erkennen und präventiv einer Radikalisierung entgegen zu wirken. Weiterhin trägt der Verbund dazu bei, eine Software zu entwickeln, die den Sozialwissenschaften, aber auch den Sicherheits­behörden neue Möglichkeiten der Meta-Datenerhebung und -analyse von Online-Aktivitäten eröffnet.“
An dem Projekt sind neben dem HSFK Wissenschaftler*innen aus den Universitäten, Hamburg, Mainz, Marburg und der TU Berlin sowie ein Internetunternehmen und sieben Praxispartner*innen beteiligt.



Radicalisation Awareness Network

Das Radicalisation Awareness Network (RAN) der EU ist als Plattform konzipiert, die den Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis fördern soll. Dazu soll es Praktiker*innen aus beispielsweise Polizei, Lehramt oder Jugendarbeit mit Wissenschaftler*innen verbinden und einen aktiven Austausch neuerer Forschung mit der praktischen Ebene bieten. Das Netzwerk ist, analog zur terroristischen Bedrohung, transnational angelegt. Ziel soll es sein, Best Practices zu sammeln, mit denen gefährdete Personen schon vor einer möglichen Radikalisierung wieder aufgefangen werden sollen. Auch richtet sich das Netzwerk an politische Entscheidungsträger, denen RAN ermöglichen möchte, ihre Konzepte auf eine praktische Umsetzbarkeit zu prüfen. Innerhalb des Netzwerkes besteht das RAN Centre of Excellence (CoE) als Koordinierungs- und Steuerungsgremium. Finanziert wird das RAN aus dem Fonds für innere Sicherheit.



Verbundprojekt "Junge Menschen und gewaltorientierter Islamismus"

Mit dem im Herbst 2017 abgeschlossenen Projekt wurde von drei Forschungsinstituten aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven untersucht, wie und warum sich Jugendliche radikalisieren. Insbesondere wurde nach der Bedeutung individueller Faktoren und der Rolle des sozialen und sozialräumlichen Umfeldes gefragt. Beide Aspekte spielen den Ergebnissen zufolge für die Hinwendung zum Islamismus eine entscheidende Rolle, während ideologische Gründe vor allem in der Anfangsphase weniger ins Gewicht fallen.

Mit den Projekten, die vom BMFSFJ im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben“ gefördert wurden, soll ein vertieftes Wissen für die Weiterentwicklung der Präventionsarbeit geschaffen werden.

Zu weiteren Informationen der drei beteiligten Institute:
- Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld
- Deutsches Jugendinstitut
- Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

 

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