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/ 03.06.2013
Philip Zelikow / Condoleezza Rice

Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas

Berlin: Propyläen Verlag 1997; 664 S.; geb., 58,- DM; ISBN 3-549-05600-1
An Büchern zum Ablauf der deutschen Vereinigung herrscht mittlerweile kein Mangel. Sowohl wissenschaftliche Analysen als auch Erinnerungsbände von beteiligten Politikern und Beamten existieren zuhauf. Leider hat es insbesondere unter den hochrangigen Politikern den einen oder anderen gegeben, der seine Rolle im Vereinigungsprozeß in einem allzu hellen Licht erscheinen lassen wollte und offensichtlich nur mit Mühe der Versuchung widerstehen konnte, seine Erinnerungen unter den Titel "Wie ich Deutschland wiedervereingte" zu stellen. Das Buch von Zelikow und Rice hebt sich von alldem wohltuend ab. Die beiden Autoren waren in herausgehobenen Funktionen an den umfangreichen diplomatischen Anstrengungen zur Bewältigung der Vereinigung beteiligt: Zelikow, ein Karrierediplomat, als für die Europapolitik zuständiger Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats und die Stanford-Professorin Rice als Expertin für die Sowjetunion. Da sie unbeschränkten Zugang zu allen relevanten Dokumenten im Weißen Haus und dem State Department erhielten und damit einen ungeheuren Wissensvorsprung vor allen anderen ausnutzen konnten, waren sie in der einzigartigen Position, darüber berichten zu können. Außerdem werteten sie auch sowjetisches Quellenmaterial aus und führten ausgiebige Interviews mit den Akteuren in anderen Ländern. Das Resultat ihrer Arbeit ist eine beeindruckende, rundum gelungene und dramaturgisch geschickt aufgebaute "Sternstunde der Diplomatiegeschichte". Die Darstellung besticht inbesondere durch ihre Ausgewogenheit. Zwar nimmt der interne Entscheidungsprozeß in den USA breiten Raum ein, aber auch die Abläufe in der Sowjetunion, der Bundesrepublik sowie in Frankreich und England werden geschildert und analysiert. Dabei wird deutlich, daß die treibende Kraft hinter dem Vereinigungsprozeß nicht Genscher, nicht einmal in erster Linie Kohl und schon gar nicht Gorbatschow waren. Vielmehr speiste immer wieder der feste Wille des amerikanischen Präsidenten Bush, die Gelegenheit beim Schopf zu packen, die Dynamik der Vereinigung und steuerte den vielfach von sowjetischem Taktieren sowie von französischen und britischen Querschüssen gefährdeten diplomatischen Prozeß. Der in Deutschland oft geradezu hymnisch gefeierte Gorbatschow wird als zerissener, von unterschiedlichen Interessen ständig in andere Richtungen gedrängter Politiker geschildert, und die Autoren fragen sich einigermaßen erstaunt, was ihn dazu gebracht haben könnte, der Vereinigung und vor allem der NATO-Mitgliedschaft Deutschlands zuzustimmen, um am Ende mit leeren Händen vor dem Scherbenhaufen eines zerfallenen Imperiums zu stehen. Während Gorbatschow mithin von dem hohen Sockel, auf den ihn insbesondere in Deutschland viele gestellt haben, herabgeholt wird, bewerten Zelikow und Rice die Rolle des deutschen Bundeskanzlers ausgesprochen positiv. Kohl erkannte rechtzeitig die Rückendeckung der Amerikaner, handelte entschlossen und baute ein Vertrauensverhältnis zu Bush auf, das die tragende Säule des ganzen Prozesses werden sollte. Genscher kommt bei den Autoren weniger gut weg. Sie werfen ihm vor allem sein Lavieren in der Frage der NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland vor. Die übergroße Vorsicht des Taktierers im Auswärtigen Amt hätte zweifellos die Chance zunichte gemacht, das Unmögliche zu erreichen, wenn die Vereinigten Staaten nicht auf der weiteren Zugehörigkeit Deutschlands zur NATO als einem ihrer "essentials" im Vereinigungsprozeß beharrt hätten. Wer die Geschichte der deutschen Vereinigung bisher nur aus Memoiren kennt, tut also gut daran, das vorzügliche Werk von Zelikow und Rice zu lesen. Es wird zweifellos für lange Zeit eine fazsinierende Lektüre bieten und ein Meilenstein in der Aufarbeitung des Einigungsprozesses bleiben.
Walter Rösch (WR)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 4.214.222.3132.64 Empfohlene Zitierweise: Walter Rösch, Rezension zu: Philip Zelikow / Condoleezza Rice: Sternstunde der Diplomatie. Berlin: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/3148-sternstunde-der-diplomatie_4136, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 4136 Rezension drucken
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