/ 30.06.2016
Micha Brumlik
Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums
Berlin: Neofelis Verlag 2015 (Relationen – Essays zur Gegenwart 3); 130 S.; 10,- €; ISBN 978-3-95808-032-4„Das Judentum war, ist und wird auch künftig Vieles, vieles Verschiedene sein: ein Volk, eine Nation, eine Ethnie, eine Kultur, eine Lebensweise, aber auch: eine Religion.“ (32) Micha Brumlik, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft der Universität Frankfurt und Senior Professor am Zentrum Jüdische Studien Berlin‑Brandenburg, fragt in diesem Buch nach der Zukunft des Staates Israel und des Judentums. Hierzu beleuchtet er mehrere Themenkomplexe, in deren Zentrum die Frage nach dem Selbstverständnis und der Selbstverortung des Judentums in Israel und der Diaspora steht. Ausganspunkt seiner Überlegungen ist die Absage einer Zwei‑Staaten‑Lösung durch die Regierung Netanyahu sowie deren Versuch, Israel gesetzlich als „Staat des jüdischen Volkes“ zu erklären. Diese Politik führe, so der Autor, zu einer wachsenden Entfremdung zur jüdischen Diaspora, vor allem in den USA und der Bundesrepublik, die gleichzeitig jedoch unter einem verstärkten Antisemitismus leide. Doch genauso wenig die Politik der israelischen Regierung mit dem Judentum gleichgesetzt werden kann, genauso wenig ist das Judentum eine einfach zu fassende Größe. Der Autor legt zunächst die historischen Ursprünge des Judentums offen und erläutert die Bedeutung des Landes Israel in der jüdischen Mystik. Anschaulich erläutert er die verschiedenen Spielarten des Zionismus. Hier geht er auch auf den religiösen Extremismus ein, der eine Bedrohung für den Staat Israel und den Friedensprozess darstelle, denn „an die Stelle des demokratischen Volkes tritt die jeweils beanspruchte, nicht mehr diskutierbare Souveränität Gottes, an die Stelle eines von den Nachbarn anerkannten Territoriums das heilige Land, das Siedlungsgebiet eines Stammes, an die Stelle eines Staatsvolkes tritt das Volk Gottes“ (68). Nachfolgend vertieft der Autor verschiedene Möglichkeiten einer binationalen Staatenlösung unter Rückbezug auf Martin Buber oder Michael Wolffsohn – handelt es sich um eine „konstitutionelle Utopie“ (108)? Nicht unbedingt, denn der skizzierte und zu gründende biethnische Staat scheint durchaus realisierbar, wenn sich „politische Kräfte [sowohl] in Israel als auch Palästina finden, die diese Ziele akzeptieren“ (110). Das Buch stellt keine simple Israel‑Kritik dar, sondern zeigt differenziert und kritisch die unterschiedlichen Positionen und Haltungen innerhalb des Landes und der Diaspora auf. Dabei vergisst der Autor nie die Bedrohungen durch den wachsenden Antisemitismus und das iranische Atomprogramm. Solidarität mit Israel bedeutet eben auch das Eintreten für den Frieden in Nahost. Es ist ein kluges und detailreiches Buch.
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Rubrizierung: 2.23 | 2.35 | 2.63 Empfohlene Zitierweise: Fabrice Gireaud, Rezension zu: Micha Brumlik: Wann, wenn nicht jetzt? Berlin: 2015, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/39793-wann-wenn-nicht-jetzt_48209, veröffentlicht am 30.06.2016. Buch-Nr.: 48209 Inhaltsverzeichnis Rezension druckenCC-BY-NC-SA