Der Autor legt ein pointiertes Gesellschaftsbild der Türkei von der Gründung der Republik durch Atatürk bis in die jüngste Gegenwart vor. Im Mittelpunkt der Darstellung liegt dabei die Interdependenz der Verfasstheit des Staates mit der türkischen Gesellschaft. Umfassend setzt sich Hermann mit dem Konflikt zwischen alter und neuer türkischer Elite auseinander. Dabei handelt es sich nicht um die klassische Frontstellung zwischen alter Elite in Form von Militär und Bürokratie und neuer Elite in Form der Intellektuellen. Hier treten die Intellektuellen und die Bürokratie als alte Elite und Erben Atatürks auf, die sich der neuen Elite der muslimisch-konservativen AKP entgegenstellt. Tatsächlich aber, so führt Hermann aus, finde gerade unter der AKP ein beachtlicher Modernisierungsschub statt. Gläubige Muslime forcieren einen enormen Wirtschaftsaufschwung und auch deren Frauen wollen an die Universitäten – allerdings mit Kopftuch. Der Autor sieht im Land einen Kulturkampf toben, der Parallelen mit dem aufweise, was sich zu Zeiten Bismarcks in Deutschland ereignete. Die neue anatolische Gegenelite werde, so Hermann, zu misstrauisch beäugt, längst sei die „Säkularisierung fest verankert“ (11), die „Gesellschaft auf Kosten des Staates stärker geworden“ (12) und auch Erdoğan und Gül blickten fest nach Europa. Entsprechend hält der Autor auch, ohne die gewalttätigen Schattenseiten der türkischen Gesellschaft zu verschweigen, ein sachliches und überzeugendes Plädoyer für einen EU-Beitritt der Türkei und stellt fest: „Europas Grenzen sind willkürlich“ (178). Das Kulturraumargument legt er ad acta, denn die Antike fand auch in der Türkei statt. Hermann argumentiert aber auch strategisch: „Sollte Europa die Türkei aufnehmen, reichte die EU bis an die Ölquellen des Nahen Ostens und erlangte Einfluss auf eine Region, deren Bedeutung für Europa zunimmt“ (177).