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/ 03.06.2013
Rafael Biermann

Zwischen Kreml und Kanzleramt. Wie Moskau mit der deutschen Einheit rang

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 1997 (Studien zur Politik 30); 799 S.; 88,- DM; ISBN 3-506-79350-0
Politikwiss. Diss. Bonn; Erstgutachter: K. Kaiser. - Die Fülle von Memoiren, die bislang zum Prozeß der deutschen Einheit 1989/90 erschienen sind, widersprechen sich nicht unwesentlich und bieten dem Leser nur eine je einseitige Sicht der Dinge. Gerade hinsichtlich der Person und des Einflusses von Michail Gorbatschow finden sich unterschiedliche Einschätzungen. Biermanns Buch schließt hier eine wesentliche Lücke. Die Arbeit ist die umfassendste systematische Aufarbeitung der sowjetischen Politik in den entscheidenden Monaten. Sie stützt sich nicht nur auf die bisherige Literatur, sondern in vielen zentralen Punkten auf Gespräche mit Zeitzeugen. Biermann, heute Mitarbeiter im Planungsstab des Verteidigungsministeriums, war 1990 im Bundeskanzleramt tätig. Die eigenen Eindrücke hat er durch Gespräche mit 26 hochrangigen sowjetischen Politikern und Wissenschaftlern sowie 24 Vertretern der deutschen Seite angereichert. Zudem hat er die einsehbaren Akten und Dokumente vornehmlich aus Berlin und Moskau in die Arbeit einfließen lassen. Im Zentrum der Arbeit stehen die Fragen nach den Entscheidungsstrukturen im Kreml, nach erkennbaren Phasen der sowjetischen Deutschlandpolitik sowie den Gründen für ihren Wandel. Darauf aufbauend geht es schließlich um die Motivation und die Bedingungen für den fundamentalen Kurswechsel, den Moskau durch die Billigung von Wiedervereinigung und NATO-Mitgliedschaft vollzog. Nach der Darlegung von sechs verschiedenen Entscheidungsebenen im Kreml, die sich zusätzlich durch die Verfassungsänderungen Gorbatschows "permanent im Fluß" (776) befanden, verfolgt Biermann chronologisch die Entwicklung der Einstellungen, Verhandlungspositionen und Kompromißbereitschaft der sowjetischen Führung. Dabei bezieht er sowohl die internationale Großwetterlage als auch die Entwicklungen innerhalb Deutschlands und schließlich auch persönliche Verbindungen der Hauptakteure in seine Darstellung mit ein. Nicht zuletzt durch diese Vielzahl der Perspektiven wirkt das Buch (es handelt sich um eine Kurzfassung der Dissertation) mit seinen knapp 800 Seiten stellenweise etwas zu detailliert. Andererseits wird jedoch gerade dadurch die enorme Vielfältigkeit der Interessen und die dominante Gleichzeitigkeit einer Vielzahl von Problemen deutlich, deren Lösung oftmals eine Frage des Timing war. Außenpolitische Entscheidungen mußten vor allem gegen die verschiedenen Kreml-internen Fraktionen durchgesetzt werden. Und gerade hier habe Gorbatschow letztlich sehr viel Geschick bewiesen. Biermann bewundert die Konsequenz und das Timing der Positionsverschiebungen, die Gorbatschow einleitete, und stellt fest: "[E]r vollzog seine Wenden mit einer Geste politischer Großzügigkeit, die bei vielen Respekt hervorrief. Dies erforderte von Gorbatschow persönlich erhebliche innere Überwindung, da er gegen seine eigene Überzeugung handelte." (782) Das Bild bleibt also notwendigerweise ambivalent und bekommt noch einige neue Akzentuierungen, wie zum Beispiel die maßgebliche Rolle von Gorbatschows Berater Anatolij Tschernjajew, dessen Rolle laut Biermann "kaum hoch genug veranschlagt werden kann" (782), und den er in einem Atemzug mit Gorbatschow und Schewardnadse nennt. Biermann eröffnet in seinem Buch einen äußerst kenntnisreichen Einblick in den Machtapparat Kreml, der sich deutlich von der "Kreml-Astrologie" früherer Tage abhebt. Sein Buch wird das Standardwerk zur sowjetischen Position im Einheitsprozeß werden und setzt gleichzeitig Maßstäbe für eine politikwissenschaftlich motivierte Zeitgeschichtsschreibung.
Manuel Fröhlich (MF)
Prof. Dr., Juniorprofessur für Politikwissenschaft, Universität Jena (www.manuel-froehlich.de).
Rubrizierung: 4.224.212.3132.62 Empfohlene Zitierweise: Manuel Fröhlich, Rezension zu: Rafael Biermann: Zwischen Kreml und Kanzleramt. Paderborn u. a.: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/3405-zwischen-kreml-und-kanzleramt_4483, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 4483 Rezension drucken
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