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/ 05.06.2013
Udo Di Fabio

Das Recht offener Staaten. Grundlinien einer Staats- und Rechtstheorie

Tübingen: Mohr Siebeck 1998; 172 S.; brosch., 78,- DM; ISBN 3-16-147009-5
Das Anliegen dieser Reflexionen ist es, die Staatswissenschaft im Schnittbereich mehrerer Wissenschaften (Politikwissenschaft, Soziologie, Rechtswissenschaft und Philosophie) als Experimentierfeld zu beleben und für alte und neue Gedanken der Rechtswissenschaft zu gewinnen (IV). Die Hauptthese, die gleichzeitig die Notwendigkeit dieser Reflexionen begründet, lautet: Die Lockerung der (bisher engen) strukturellen Verbindung von Recht und Politik im Staat wird durch die ständig steigende Produktion kollektiv verbindlicher Entscheidungen des gesellschaftlichen Subsystems Politik verursacht. Dies führt zu vermehrten, eigenständig durch das Recht zu füllenden Spielräumen und somit zur Notwendigkeit für das Recht, erhöhte dogmatische Leistungen, insbesondere unter Einschluß der Reflexion von Gerechtigkeitsgrundsätzen, zu erbringen (145 f.). Di Fabio hält die Befassung mit dem Thema durch solche dem Staatsrecht vorgelagerte Überlegungen für erforderlich, weil aktuelle Fragen der Staatstheorie, die sich durch die Komplexitätszunahme in der Gesellschaft ergäben, durch eine weitere Spezialisierung der einzelnen gesellschaftlichen Subsysteme (Recht, Politik, Staat) mit ihren jeweils spezifischen Antworten nicht mehr hinreichend zu beantworten seien (15). Zunächst wird die Theorie des modernen Staates systemtheoretisch rekonstruiert, um damit ein konsistentes Gesellschaftsmodell zu etablieren, das die Grundlage für Reflexionen zu zentralen Aspekten einer Staatstheorie bildet. Neben dem Verhältnis von Staat und Politik sowie der zentralen Mittlerstellung des Rechts werden auf diese Weise Gedanken zum Gewaltmonopol des Staates, der Legitimation von Staatlichkeit und der Gesetzgebung strukturiert. Sodann können zentrale staatstheoretische Aspekte unter Problematisierung aktueller Tendenzen bearbeitet werden: Demokratie, Rechtsstaat, Grundrechte und die Ausübung der Staatsgewalt. Anschließend werden die herausgearbeiteten, neuen und einordnungsbedürftigen Entwicklungen gebündelt und rückbezogen auf systemtheoretische Kategorien, um den Änderungsdruck auf das herkömmliche, zu Beginn rekonstruierte, staatstheoretische Modell herauszustellen. Diesem wird durch Überlegungen zu "Grundlinien einer transmodernen Staatstheorie" begegnet: Die neue Staatstheorie hat gesellschaftstheoretisch verankerte Rechtstheorie zu sein (133); rechtstheoretische Grundbegriffe bleiben als institutionelle Struktur erhalten, stehen aber einer politisch integrativen Uminterpretation offen (135); am Gewaltmonopol des Staates wird festgehalten, die damit unmittelbar zusammenhängende Idee der Inklusion aller durch demokratische Beteiligungsformen beibehalten (138); neue strukturelle Kopplungen von Weltwirtschaft und Staatenverbünden müssen beachtet werden (139); der Staatenverbund als eigene Kategorie supranationaler Gemeinschaft verdient besondere Beachtung und wäre - nach theoretischer Verallgemeinerung in Auseinandersetzung mit der Europäischen Union - "womöglich als Modell anderen Weltregionen als im Seienden funktionierend und im Sollen vernünftig anzuempfehlen" (141). Die bei der Diskussion von und im Umgang mit Gerechtigkeitsgrundsätzen für das Recht auftretenden Schwierigkeiten werden im letzten Kapitel diskutiert. Der Zugang zu dieser Arbeit ist trotz Einleitung und Vorwort schwierig, weil Anliegen und Struktur zu Beginn nicht hinreichend erläutert werden. Leider bleibt die Beschreibung der politischen Wirklichkeit an einigen Punkten pauschal, die vorgetragenen Argumente geraten so zu zufällig gewählten, womit letztlich der Ausgangspunkt von Di Fabios Reflexionen - Veränderungen in der Wirklichkeit begründen die Notwendigkeit der Erneuerung der Staatstheorie - argumentativ geschwächt wird. An jenen Stellen fehlt der differenzierte Zugriff auf politikwissenschaftliche Erkenntnisse (z. B.: Politik und Öffentlichkeit [45-49], Mut in der Politik [115 f.], Verantwortungszurechnung in Kooperationsgeflechten, Direkte Demokratie [126-128]). Nichtsdestoweniger beschreiben die normativen, vornehmlich rechtstheoretischen Überlegungen zentrale Aspekte einer Staatstheorie, die zahlreiche Anschlußpunkte zu politikwissenschaftlicher Demokratietheorie bieten.
Christian Schütze (ChS)
Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 5.415.44 Empfohlene Zitierweise: Christian Schütze, Rezension zu: Udo Di Fabio: Das Recht offener Staaten. Tübingen: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/7184-das-recht-offener-staaten_9602, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 9602 Rezension drucken
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