Werner Rätz / Dagmar Paternoga / Jörg Reiners / Gernot Reipen (Hrsg.): Digitalisierung? Grundeinkommen!
Das Grundeinkommen wird längst nicht mehr als rein einkommensbezogenes Instrument betrachtet. Das Spektrum der Grundeinkommensbewegung, vorliegend durch unterschiedliche Beiträge von zu Wort kommenden Wissenschaftler*innen, Parteivertreter*innen und Aktivist*innen repräsentiert, sieht darin einen Baustein zur umfassenden Stärkung der Gemeinwohlökonomie. Für Thomas Mirbach ist dies ein Zeichen dafür, dass die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens längst zur analytischen Blaupause für strukturelle Defizite einer kapitalistisch organisierten Arbeitsgesellschaft avanciert ist.
Der Titel enthält schon die Botschaft der meisten Beiträge des Bandes: Wird nach dem richtigen Umgang mit der Digitalisierung gefragt, dann ist das (bedingungslose) Grundeinkommen die Antwort. Entstanden ist der Band im Anschluss an die Verabschiedung des „Frankfurter Manifestes“, das 2018 im Rahmen einer Veranstaltung vorgelegt wurde. Hieran hatten Vertretungen des Netzwerks Grundeinkommen, des Netzwerks Attac, der Piraten-Partei, des grünen Netzwerks Grundeinkommen und der Bundesarbeitsgemeinschaft Grundeinkommen der Partei Die Linke teilgenommen.
Das Frankfurter Manifest − hier einleitend abgedruckt − war als Reaktion auf den Zuspruch gedacht, den die Idee des Grundeinkommens neuerdings von einigen Großunternehmen, darunter etliche aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien, erhalten hat: „Wenn der globale, digitale Kapitalismus das bedingungslose Grundeinkommen auf seine Tagesordnung setzt, dann können die emanzipatorischen Kräfte der Grundeinkommensbewegung nicht einfach zusehen.“ (8) Das Manifest selbst bekräftigt noch einmal die Kernintentionen des Grundeinkommens − Absicherung der Existenz und gesellschaftlichen Teilhabe als Menschenrecht, ein integriertes Verständnis gesellschaftlicher Produktivität auch jenseits von Erwerbsarbeit sowie die Verknüpfung des Grundeinkommens mit der Sozial- und Bildungsinfrastruktur (7 ff.) − und votiert für die Gestaltung der Digitalisierung im Rahmen einer solidarischen Ökonomie.
Die Beiträge spiegeln das Spektrum der Grundeinkommensbewegung, teils aus eher wissenschaftlicher Perspektive, teils aus Sicht von Parteien (SPD; Grüne; Linke) und Aktivist*innen wider, was sich auch im sehr unterschiedlichen Duktus der einzelnen Artikel ausdrückt.
Mit spezifischen Herausforderungen der Digitalisierung setzen sich drei Beiträge primär analytisch auseinander. Wolfgang Strengmann-Kuhn diskutiert erwartbare Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt; hier vor allem einen technologisch bedingten Wegfall von Arbeitsplätzen, neue qualifikatorische Anforderungen und Ausdifferenzierung des Dienstleistungsbereichs mit zunehmend unklarer werdenden Grenzen zwischen abhängiger und selbständiger Tätigkeit. Angesichts der Dynamik dieser Prozesse könne ein Grundeinkommen die Verhandlungsmacht von Arbeitnehmer*innen stärken, notwendig sei aber die Einbettung in eine neue soziale Sicherung (Arbeitsversicherung; Bürgerversicherung). Auch Philipp Frey und Sebastian Sevignani sehen − mit Blick auf den Bedeutungszuwachs der Informationsökonomie − im Grundeinkommen eine Möglichkeit, einen neuen Klassenkompromiss zu erreichen. Das sei jedoch an eine konkrete institutionelle Rahmung gebunden: Erhalt der bestehenden Strukturen sozialer und arbeitsrechtlicher Sicherungen, bei gleichwertiger Besteuerung von Kapitalerträgen und dem entschiedenen Ausbau wirtschaftsdemokratischer Elemente. Gemessen am technischen Potenzial könnte die Digitalisierung zu einer sozial-ökologischen Transformation beitragen, aber deren bisherige Nutzung − so Steffen Lange und Tilman Santarius in einem skeptischen Überblick − folgt faktisch den Interessen globaler IT- und Internetkonzerne und trägt zur Einkommenspolarisierung sowie der Ausbreitung prekärer Lebensumstände bei.
Die Mehrzahl der übrigen Beiträge greift einzelne Aspekte der Digitalisierungsdebatte auf und dies vielfach in einer Weise, die im Sinne des Grundeinkommens mit spezifischen politischen Forderungen verbunden ist. So verhält es sich mit dem Appell von Jörg Reiners an Die Linke, sich dem Frankfurter Manifest anzuschließen, um damit die Meinungsführerschaft im politischen Diskurs einzunehmen. Die Verknüpfung mit der Systemfrage unterstreicht Julia Schramm, weil das Grundeinkommen, ohne Änderung der grundsätzlichen gesellschaftlichen Machtverhältnisse, bestenfalls als Umverteilungsinstrument innerhalb eines nationalen Sozialstaats wirken könne. Eine deutliche Abgrenzung gegenüber falschen Fürsprechern aus dem Umkreis des Silicon Valley, die das Grundeinkommen primär als Geldleistung − sei es zur Alimentierung von Digitalisierungsverlierern, sei es als niedrigschwellige Förderung eines innovativen Unternehmergeistes − ausgeben, formulieren Timo Daum und Lisa Spelge. Aus feministisch-ökonomischer Perspektive solle das Grundeinkommen zum Abbau der geschlechterhierarchischen Arbeitsteilung beitragen, so Margit Appel. Dies vor allem auch an der Schnittstelle Erwerbsarbeit/unbezahlte (Care-)Arbeit, unterstreicht Sylvia Honsberg. Gegen die offensichtliche Kommerzialisierung des Medizinsystems solle das Potenzial der Digitalisierung für den Aufbau eines solidarischen Gesundheitswesens genutzt werden – was das im Einzelnen heißen könne, erläutert Dagmar Paternoga anhand der Vorschläge von Attac Deutschland.
Bei allen Autor*innen besteht der Konsens, dass das Grundeinkommen kein isoliert einkommensbezogenes Instrument sei, sondern das Element einer umfassenden Stärkung der Gemeinwohlökonomie darstelle. Das zeigen ebenso die kurzen Kommentare der befragten Vertreterinnen der Grünen, der Linken und der SPD, namentlich Katja Dörner, Katja Kipping und Simone Lange, zum Frankfurter Manifest, auch wenn sich darin (noch) nicht die Mehrheitssicht dieser Parteien artikuliert.
Fazit: Der schmale Band lässt sich als Illustration und Veranschaulichung lesen, dass die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens längst Teil einer Bewegung geworden ist, die sich mit den strukturellen Defiziten einer kapitalistisch organisierten Arbeitsgesellschaft auseinandersetzt. Die Idee ist mit den vielfältigen Debatten unterschiedlicher Gruppierungen gewachsen und hat − das betonen die Herausgeber*innen zu Recht − ihre Anschlussfähigkeit an die relevanten Themen von Gender/Care, Wachstumskritik und Digitalisierung unter Beweis gestellt. Offen bleibt freilich − auch das lässt sich den Beiträgen mindestens implizit entnehmen − die Frage nach trag- und mehrheitsfähigen Bündnissen.
Demokratie und Frieden
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