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Rezension / 12.07.2024

Donatella della Porta: Regressive Movements in Times of Emergency

Oxford, Oxford University Press 2023

Wie ist es zu erklären, dass während der Covid-19-Pandemie esoterische Anthroposoph*innen gemeinsam mit hartgesottenen Rechtsradikalen und ultrakonservativen Evangelikalen auf die Straße gingen? Was hielt diese "bunte Truppe" oder "unheilige Allianz" zusammen? Diesen Fragen geht Donatella della Porta, die wohl bedeutendste Forscherin auf dem Gebiet der sozialen Bewegungsforschung, nach. Rezensent Johannes Truffer, Experte für die politische Soziologie der Corona-Proteste, lobt den «Reichtum des empirischen Materials», hat aber offene Fragen, was die theoretische Charakterisierung der Protestbewegung angeht.

Eine Rezension von Johannes Truffer

Um vulnerable Personengruppen während der COVID-19 Pandemie zu schützen, sahen sich westeuropäische Staaten dazu genötigt, einschneidende Eingriffe ins alltägliche Leben ihrer Bürger*innen vorzunehmen. Gegen die hierzu erlassenen Pandemiemaßnahmen formierte sich schnell eine buntscheckige Protestbewegung, die viele zeitgenössische Beobachter*innen in Wissenschaft und Journalismus ratlos zurückließ: Was nur brachte esoterisch angehauchte Anthroposoph*innen dazu, zusammen mit hartgesottenen Rechtsradikalen und ultrakonservativen Evangelikalen auf die Straße zu gehen? Donatella della Porta (2023) versucht sich in ihrem neuen Buch "Regressive Movements in Times of Emergency" an einer Antwort auf diese Frage (v-vi).

Della Porta – ihres Zeichens eine der wichtigsten Forscher*innen auf dem Gebiet der Social Movement Studies – hat mit ihrem Team während der gesamten Pandemie Demonstrationsbeobachtungen, Interviews und quantitative Analysen durchgeführt. Nach ihrem im vorletzten Jahr erschienenen Buch "Contentious Politics in Emergency Critical Junctures: Progressive Social Movements during the Pandemic" (della Porta 2022), erschien nun folgerichtig das Pendant dazu, das das konzeptuelle Instrumentarium der Social Movement Studies für die regressiven Protestbewegungen während der Pandemie fruchtbar macht. Della Portas detailreiches empirisches Material bezieht sich großmehrheitlich auf die italienische Protestbewegung. Sie reichert ihre Befunde aber jeweils in komparativer Absicht mit Forschungen zu den deutschen und griechischen Coronaprotesten an, die sie in vielerlei Hinsicht als vergleichbar erachtet.

So ist ein beeindruckendes Kompendium der italienischen Coronaproteste entstanden, das aufzeigt, dass sich die Protestbewegung nicht einfach im luftleeren Raum aus besorgten Bürger*innen bildete, sondern von Angehörigen der neuen Rechten, von Ultrakonservativen (vor allem aus fundamentalistisch-religiösen und nationalistischen Kreisen), aber auch vereinzelt von New Age-Spiritualist*innen (eine heterogene Gruppe von Spiritualist:innen im Gefolge der 1968er Bewegung) ausging, die ihre interne Heterogenität durch eine Vielzahl von Verschwörungstheorien und kollektiven Wirklichkeits-, Problem- und Identitätsdefinitionen ("Diagnostic" (106), "Prognostic" (114) sowie "Identity Frames" (122)) überbrückten.

Da sich die Protestbewegung unter der Bedingung des Gesundheitsnotstandes und eines (zumindest in Italien) strikten nationalen Lockdowns bildete, hat sich della Porta zufolge auch ein neuartiges Modell von politischer Organisation etabliert, das sie das "disembedded crowdsourced model" (79) nennt. Charakteristisch für diese Organisationsweise von Protestbewegungen unter der Bedingung des Ausnahmezustands ("emergency critical junctures" (143)) ist eine strategische Verwendung digitaler Kommunikationstechnologien durch "Bewegungsunternehmer*innen", die darauf abzielt, Mobilisierungsressourcen an verschiedene Protestgruppen zu verteilen, die sich anhand dieser anschließend selbst organisieren. Die Flexibilität dieses nur schwach koordinierten Modells politischer Organisation ist aber nur um den Preis schwächerer Resilienz gegen abnehmende Mobilisierungsniveaus zu haben – beispielsweise dann, wenn die Mobilisierungsfähigkeit aufgrund einer Lockerung von Pandemiemaßnahmen sinkt.

Della Porta verwendet in produktiver Weise Energie darauf, die Evolution dieser heterogenen Protestallianz auf den Meso-Ebenen detailliert nachzuvollziehen, das heißt zu analysieren, auf welchen Vorläufermobilisierungen die Bewegung aufbaute, wie sich die Zusammensetzung des Protests über die zwei für Italien nachgewiesenen "Protestwellen" (04/2020-12/2020 und 07/2021-12/2021) veränderte und wie die Bewegung nach dem Ende der Pandemie zusammenbrach. Die Protestallianz war della Porta zufolge nicht singulär, sondern war in der Vergangenheit bereits im Kontext von Pro-Life-Demonstrationen, Anti-LGBTQ- und Anti-Gender-Protesten sowie bei impfkritischen Initiativen ("Anti-Vax") in Erscheinung getreten.

So konnte sich die Coronabewegung auch deswegen so schnell zu einer schlagkräftigen Protestbewegung formieren, weil sie maßgeblich von den organisatorischen Kapazitäten dieser Vorläufermobilisierungen zehren konnte. Obschon sie auch in der Rhetorik und in den Praxisformen der Coronabewegungen Kontinuitäten zu den Pro-Life und Anti-Gender-Mobilisierungen nachweisen kann, bildet die "Anti-Vax"-Gruppe den fokalen Punkt ihrer Argumentation. Dies zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie die Proteste gegen die Coronamaßnahmen bereits zu Beginn des Buches als "Anti-Vax Protests" bezeichnet, da die Bewegung zwar auch andere Eindämmungsmaßnahmen kritisiert habe, die Impffrage aber stets zentral für die Proteste geblieben sei.

Diese Beschreibung steht jedoch im Widerspruch dazu, dass bis zum Sommer 2021 die Impfung gar nicht verfügbar war und deswegen auch keine mobilisierende und strukturierende Kraft auf die Bewegung ausüben konnte. Della Porta datiert deshalb die erste von zwei Protestwellen auch vor der Verfügbarkeit der Impfung und dem damit verbundenen "Green Pass" (so die Bezeichnung des italienischen Covid 19-Zertifikats): Damals seien die Proteste noch weniger ideologisch verhärtet gewesen und eher von den materiell Direktbetroffenen der Maßnahmen ausgegangen.

Wenngleich dies für Italien stimmen mag, kommen hinsichtlich des deutschsprachigen Raums nicht nur wegen der viel besser funktionierenden Erwerbsausfallsregelungen und damit verbundenen geringeren materiellen Verunsicherung der Bevölkerung während der Pandemie Fragen bezüglich der Übertragbarkeit della Portas Analyse auf. Denn in Europa traten die Proteste zuerst in Süddeutschland auf und blieben hier während der gesamten Pandemiedauer sehr stark durch die New Age-Fraktion geprägt, also durch Angehörige des esoterisch-anthroposophischen Milieus. Auch in der Schweiz erhärtete sich dieses Muster. Die Protestteilnehmer*innen waren überdurchschnittlich gebildet und auf der materiellen Ebene kaum negativ von den Pandemiemaßnahmen betroffen. Hier war die Präsenz der neuen Rechten auf den Demos viel geringer als in Ostdeutschland oder in Italien. Wenngleich sich auch in Süddeutschland in der Folge eine starke impfkritische Dynamik ausbildete, war sie zumindest zu Beginn nicht allein ausschlaggebend für die Mobilisierung (vgl. hierzu Nachtwey et al., 2020).

Della Porta unterschätzt hier die Kontinuitäten der bunten Truppe, die sich 2020 zusammenfand, um zunächst gegen die Pandemiemaßnahmen und im weiteren Verlauf der Pandemie dann gegen die Impfung und das COVID 19-Zertifikat zu protestieren. Zumindest für Deutschland und die Schweiz ergeben sich vor diesem Hintergrund hinsichtlich der Einteilung der Proteste in zwei Wellen mit jeweils unterschiedlich "ideologisierten" Teilnehmenden empirische Vorbehalte.

Aber auch im italienischen Fall, wo die Proteste in der ersten Phase durch unmittelbar betroffene Personen geprägt waren, nahmen die Protestintensitäten auch in der zweiten Protestwelle jeweils mit dem Infektionsgeschehen zu, da nach dem Anstieg der Fallzahlen oftmals neue Pandemiemaßnahmen erlassen wurden. Beide Beobachtungen lassen die Entscheidung della Portas, die Coronaproteste als "Anti-Vax"-Bewegung und nicht als maßnahmenkritische Bewegung zu verstehen, eher als explanatorisch opportun, denn als empirisch geboten erscheinen.

Dies beeinflusst auch Della Portas Antwort auf die Eingangsfrage, wodurch die Heterogenität der Corona-Protestallianz erklärbar sei. Diese Frage ist nicht nur politisch und gesellschaftlich spannend, sondern stellt auch eine Herausforderung für den theoretischen Ansatz der Social Movement Studies. Dies deswegen, weil es sich bei den Coronaprotesten in den Augen zeitgenössischer Beobachter*innen um eine extrem heterogene Protestbewegung mit extrem dünnem inhaltlichen Minimalkonsens gehandelt hat, die sich beinahe ex nihilo zusammenfand (Acknowledgements: v-vi).

Die für die Social Movement Studies letztlich erleichternde Antwort della Portas lautet schließlich etwas lapidar ausgedrückt: Das war einfach ein bunter Impfprotest, der von bereits vorher existierenden ultrakonservativen und neurechten Netzwerken getragen wurde, ein einheitliches normatives Programm und im Verlauf des Protests die Ambition entwickelte, damit eine neue Klientel bei den New Age-Gruppierungen zu mobilisieren. Oder in della Portas Worten auf der letzten Seite:

"In summary, the pandemic has undoubtedly consolidated an ‘unholy’ alliance between the Far Right, ultraconservative religious fundamentalism and a New Age milieu, spreading conspiratorial visions to the broader antivax movement. It is not by chance that following the decline of the anti-vax protests, their channels of communication have often been involved in supporting not only Putin’s Russia, but also anti-feminist and anti-gender as well as climate-change denialist positions. However, it is yet to be seen what the political and social effects of this priming of the anti-vaccination issue by the Far Right will be […] (Hervorhebung des Verfassers, 172) "

Obschon die Stärke des Buches auch in der Reduktion liegt; dadurch, dass della Porta die mannigfaltigen Kontinuitäten zu anderen, vor allem rechtsradikalen und ultrakonservativen Bewegungen aufzeigt, wird ihre Einordnung der Coronaproteste in die bestehende Bewegungslandschaft etwas zu glatt. Ihre letztlich theoretische Entscheidung dafür, die Coronaprotestbewegung als Impfprotest zu verstehen, hat weitreichende Folgen für die Darstellung der heterogenen Allianz, weil dadurch wichtige Eigenheiten der Coronaprotestbewegung aus dem Blickfeld geraten.

Die Kritik an allen Pandemiemaßnahmen und vor allem die praktische Weigerung diese im Alltag zu befolgen, stellte nicht nur ein wichtiges inhaltliches und mobilisierendes Element der Coronaproteste dar, sondern umfasste darüber hinaus auch ein vergemeinschaftendes Moment, das die "unheilige Protestallianz" konsolidierte und das – in della Portas Darstellung zuweilen passiv wirkende – New Age-Milieu politisch integrierte. Dies scheint auch in della Portas umfangreicher und detaillierter Analyse immer wieder durch; am konzisesten jedoch bei ihrer Zitierung von Paolo Gerbaudos Darstellung eines Protests in der ersten Welle:

"the tactics adopted by protesters revolve around upsetting lockdown measures by the very fact of gathering in public space, without wearing protective equipment as a means of provocation. The flouting of mask-wearing and social distancing norms becomes in-and-of-itself a means through which non-compliance with government regulations and criticism at the management of the pandemic, and its economic consequences, can be aired" (41).

Hier zeigt sich, dass die bewusste Weigerung, sich an die Pandemiemaßnahmen zu halten, von Beginn an ein wichtiges praktisches Element des Protests dargestellt hat. Der Vorteil dieser eher alltäglichen Praxisform liegt sicherlich darin, dass sie keinerlei intern konfliktreicher Framingprozesse bedarf, um eine Art von politischer Kollektivität herzustellen: Schlicht die Weigerung, sich an die verordneten Pandemiemaßnahmen zu halten, genügte. Diese Praxisform der Weigerung der Befolgung von Pandemiemaßnahmen scheint in della Portas Schilderung der Proteste immer wieder auf (8, 14, 35, 75, 146-148, 153, 167). Und dies, obschon sie nicht im emphatischen Sinne eine politische Praxisform darstellt und nicht ausschließlich an Protestevents auftritt. Sie lässt sich nahtlos in Alltagssituationen integrieren: Der Verzicht auf Social Distancing, das ostentative Nichttragen von Masken im öffentlichen Raum oder die Missachtung der Personenzahl für Treffen im Privaten können alle dem gleichen Zweck dienen: kollektiv Dissens auszudrücken ohne inhaltliche Übereinkunft, was denn nun verkehrt sei an der Pandemie(-politik).

Wenn die Empirie von della Porta unter diesem Gesichtspunkt betrachtet wird, könnte eine der Eigenheiten der Proteste eben gerade darin gelegen haben, dass sich die bunte Truppe nicht zuletzt deswegen immer wieder zu Protesten zusammenfinden konnte, weil zu Zeiten des Lockdowns der reine Fakt, dass entgegen der Verbote kollektiv protestiert wurde, für genügend «Minimalkonsens» zwischen Nazis, Esoteriker*innen, Evangelikalen und Verschwörungstheoretiker*innen gesorgt hat. Und nicht nur das: Della Porta registriert selbst, dass diese konflikthafte Nichtbefolgung der Pandemiemaßnahmen nicht nur die Gruppe integrierte, sondern auch den Ausgangspunkt für ihre Radikalisierung darstellte:

"Although [protests] declined during the first half of 2021, protests re-emerged in the summer of 2021, this time targeting the vaccination campaigns in particular. Unable to involve those individuals who had been economically most heavily hit by the pandemic, protests against anti-contagion measures instead mobilized the anti-vax milieus […] Especially from the autumn of 2021 onwards, a radicalization process was visible in certain cities around (often unauthorized) marches. Initially, as protestors defied the rules that were in place both to reduce infection (i.e. by refusing to wear face masks and maintain physical distance) and to manage the organization of public demonstrations (about which the local authorities must be informed of in advance), the police at times intervened to identify, fine, and even arrest participants. Given the existence of restrictions on protests or on carrying out protest in certain places, the violation of the orders of the public authorities brought about an escalation, as the police intervened to clear public spaces and disperse the marches" (146).

Dass die Bewegung dann nach dem Ende der Pandemiemaßnahmen auch gleich wieder zusammenbrach, wäre mit dieser Interpretation ebenfalls kompatibel. Ein Ansatz, der vorpolitischen oder nicht voll-politisierten Formen des Ungehorsams und des Widerstands gegen Verhaltensmaßnahmen mehr Aufmerksamkeit schenkt, würde vielleicht noch weitere Perspektiven auf das Enigma der "unholy alliance" (172) eröffnen. Trotz einzelner Hinweise auf die Wichtigkeit gemeinsamer Praxisformen bleibt die identitätsstiftende Rolle der gemeinsamen Nichtbefolgung für die Corona-Protestbewegung bei della Porta letztlich untertheoretisiert.

Es ist immer etwas wohlfeil, eine großartige und detailreiche Forschung für etwas zu kritisieren, was sie sich nicht unmittelbar vorgenommen hat. Und doch bleibt nach der Lektüre von "Regressive Movements in Times of Emergency" ein Gefühl der Unzufriedenheit zurück. Sie rührt daher, dass im Reichtum des empirischen Materials immer neue erklärungsbedürftige Elemente aufscheinen, die auf andere Systematiken hinweisen und damit weitere Forschungen inspirieren. Dass dies aber in Tat und Wahrheit von der Stärke des Beitrags von della Porta zeugt, versteht sich aber von selbst.


Literaturverzeichnis

Nachtwey, O., Schäfer, R., Frei, N. (2020). Politische Soziologie der Corona-Proteste. SocArXiv 30. https://doi.org/10.31235/osf.io/zyp3f.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.7
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