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Rezension / 28.09.2022

Malte Thießen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie

Frankfurt am Main, Campus Verlag 2021

Der Bundesrepublik steht der dritte Coronaherbst bevor. Da die Pandemiebekämpfung hierzulande wiederkehrenden Mustern folge, stellt Malte Thießen erstmals deren gemeinschaftliche Genese in den Fokus einer Gesellschaftsgeschichte zu Covid-19. Unser Rezensent Martin Repohl hat das Buch für uns gelesen: Dieses betrachtet Othering, Risikoperzeption(en), Querdenkerproteste, Ungleichheit, Ausnahmezustände und mancherlei Messianismus im sozialen Kontext unserer Demokratie. Kurzum, es gehe darum, unsere Reaktionen, Konflikte und Versäumnisse aus jener Perspektive neu zu verstehen.

Im Sommer 2022 war Corona für viele allenfalls eine leidige Gefährdung der lang ersehnten Urlaubspläne und doch sind die hohen Inzidenzen nur aus den Schlagzeilen verschwunden – nicht aber aus unserer Lebenswelt. So titelte beispielsweise der Deutschlandfunk am 10.08.2022: „Chaotisch in den Coronaherbst“. Unter weiter heißt es dort: „Der bisherige Vorschlag für ein novelliertes Infektionsschutzgesetz dagegen rolle Rausmoglern den roten Teppich aus“[1]. Angesprochen wird hier ein Streit zwischen Bundesgesundheits- und Justizministerium, der geradezu paradigmatisch für den Umgang der deutschen Politik mit der Covid-19-Pandemie ist und daher auch in dem ersten gefühlt coronafreien Sommer wenig überrascht. Denn es steht fest, die Pandemie ist noch nicht vorbei, Politik und Gesellschaft sind aber zunehmend (bis hin zur Verleugnung) coronamüde und doch ist es erwartbar, dass steigende Inzidenzen im Herbst und Winter, das Thema – und die damit verbundenen Schuldzuweisungen gegenüber vermeidlichen verschlafenen Maßnahmenpakten – wieder auf das Tableau bringen werden und damit auch die inzwischen regelmäßig wiederkehrende Frage, warum haben wir nicht früher gehandelt? All das ist inzwischen Erfahrungswissen, was jedoch fehlt, ist eine Beantwortung der Frage, warum die bundesdeutsche Pandemiebekämpfung offenbar bestimmten Mustern folgt und wie diese erzeugt werden.

Eine erste spannende und fundierte Bearbeitung dieses Themas bietet Malte Thießen, Leiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster und außerplanmäßiger Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, in seinem überaus lesenswerten Buch „Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie“. Man könnte bereits hier einwenden das Pandemiebücher nur über eine geringe Halbwertszeit verfügten, da die Pandemie noch nicht vorbei und das Thema für eine fundierte und distanzierte Betrachtung emotional noch zu aufgeladen sei. Auch der Autor weiß natürlich um diese Vorbehalte und rechtfertigt seine Auseinandersetzung daher wie folgt: „Auf Abstand ist keine Coronageschichte im engeren Sinne. Dieses Buch erzählt keine Geschichte virologischer Forschungen, sondern eine Gesellschaftsgeschichte der Pandemie in Deutschland. Selbstverständlich ließe sich die Geschichte einer weltweiten Bedrohung ebenso als Globalgeschichte schreiben. Allerdings verliert eine globale Perspektive schnell an gesellschaftlicher Tiefenschärfe, um die es in diesem Buch gehen soll. Denn in der Auseinandersetzung mit Corona ging es nie nur um Gesundheit und Krankheit, um Leben und Tod. Es ging ebenso um die Fundamente unserer Demokratie und um die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. Deshalb erzähle ich die Pandemie nicht von der Medizin, sondern von den Menschen her. Meine Gesellschaftsgeschichte fragt nach sozialen Kontexten, Konflikten und Krisen, die sich während der Pandemie wie in einem Brennglas bündelten“ (10).

Ziel des Buches ist also keine Geschichte der Covid-19-Pandemie, sondern eine Betrachtung der verschiedenen Pandemieaspekte anhand des Wissens um die Ereignisse vorheriger Pandemien, um so das von uns allen Erlebte einordnen und erklären zu können. Für eine tatsächliche Geschichte der Pandemie sei es ohnehin zu früh, wie der Autor bemerkt: „Wegen der Gegenwartsnähe geht dieses Buch einen anderen Weg als bisherige Darstellungen. Es erzählt keine Seuchengeschichte der Moderne, die dann im letzten Kapitel fast schon folgerichtig mit der Coronapandemie endet. Vielmehr stellt das Buch Ereignisse und Entwicklungen der Jahre 2020/21 in den Mittelpunkt, um diese anhand von Rückblicken ins 19., 20. und 21. Jahrhundert einzuordnen. Im Mittelpunkt dieses Buches steht somit die Coronapandemie mit ihren historischen Wurzeln und Bezügen zur Seuchengeschichte der Moderne“ (11). Mit dieser sehr geschickten Konzeption gelingt es dem Autor, das Thema Corona – das wohl eher wegen individueller Erfahrungen auf Unbehagen und Abneigung stößt – überaus zugänglich und erkenntnisreich aufzubereiten. So gliedert Thießen seine Betrachtung in zehn übersichtliche Abschnitte zu den zentralen Aspekten der Pandemie, wie unter anderem: „Bedrohungswahrnehmungen“, „Wandel von Risikovorstellungen“, „nationale Alleingänge und internationale Konkurrenz“, „Aushandlungen des Ausnahmezustandes“, „soziale Ungleichheit“, die Querdenkerproteste, neue Normalität, „Impfung als Heilsversprechen“ und gibt darüber hinaus einen Ausblick, was von der Pandemie letztlich bleiben werde (5-7).

Thießens Auseinandersetzungen mit diesen verschiedenen Aspekten bieten spannende Einblicke, von denen hier die einleitende Frage des ersten Kapitels „warum wurden wir nicht gewarnt?“ (15) stellvertretend hervorgehoben werden soll. So betont der Autor deutlich, dass der scheinbar unvorbereitete Ausbruch der Pandemie nicht auf das Fehlen von Wissen, sondern gerade auf dessen Vorhandensein zurückzuführen ist. Dieser paradoxe Befund weckt nicht nur das Interesse der Leser*innen, sondern wird auch pointiert und nachvollziehbar ausgeführt. So verfüge die Bundesrepublik über ein umfangreiches Seuchenwissen, das auf jahrzehntelangen Forschungen, Erfahrungen mit Pandemie (wie beispielsweise der Hong-Kong-Grippe Ende der 1960er-Jahre) und international koordinierten Planspielen (beispielsweise der WHO) basiere. Es gäbe Pläne und Handlungsanweisungen in den Ministerien und den nachgeordneten Behörden und doch sei der Ausbruch der Covid-19-Pandemie ein offenbar überraschendes Ereignis gewesen. Dass dieses Wissen scheinbar wertlos war, führt der Autor auf die Phänomene der Immunität und des Othering zurück. So ist Othering eine geradezu typische Begleiterscheinung, die Thießen auf die griffige Formel bringt „Die Seuche, das sind immer die anderen“ (18). Gemeint ist damit, dass eine vermeintliche Unerreichbarkeit, beziehungsweise Unverletzlichkeit, gerade dadurch konstruiert wird, dass Seuchen und ihre treibenden Faktoren exotisiert und damit ausgelagert würden. Kurz gesagt: Wir sind nicht verwundbar, weil wir keine gefährlichen Wildtiermärkte haben. Dieses Othering greife Hand in Hand mit einem Gefühl der vermeintlichen Immunität, das gerade aus den großen Fortschritten, die in der öffentlichen Gesundheitsversorgung – auch seit der Hong-Kong-Grippe – erzielt wurden. Krankheiten, und insbesondere Infektionskrankheiten, hätten ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum verloren und damit habe sich auch ein Gefühl aufgelöst, dass diese Dinge einfach zum Leben dazu gehören. Pandemien verschwanden so, laut Thießen, aus unserem Erfahrungshorizont und machten somit einem selbstverständlichen Sicherheitsgefühl Platz, das aber gerade in seiner scheinbaren Selbstverständlichkeit die Grundlage für die Ignoranz gegenüber herannahenden Gefahren bildet.

Dem Autor gelingt es, anhand diesem und vieler weiterer Beispiele, die Covid-19-Pandemie in einer Weise aufzuschließen, die viele – vordergründig oft nicht nachvollziehbare – Konflikte und Versäumnisse einordnet, erklärt und verständlich macht. Thießen zeigt in einer reich untermauerten und pointierten Weise, dass die Covid-19-Pandemie oftmals nicht das singuläre Ereignis und der Wendepunkt in der Menschheitsgeschichte ist, zu dem sie oft stilisiert wird, sondern eine Pandemie, die zwar auch einzigartig ist, aber dennoch gewissen Mustern folgt, die typisch sind – und die auch typisch für die gesellschaftliche Reaktion auf sie sind. Ein großer Verdienst des Buches ist daher, dass den Leser*innen so nicht nur wertvolle Einsichten ermöglicht werden, die beispielsweise der mediale und auch politische Diskurs nicht geben kann, sondern auch, dass die Pandemie – so abseits aller Relativismen – einen Teil ihres Schreckens verliert und als ein, zwar seltenes, aber für die Menschheitsgeschichte doch typisches Phänomen in Erscheinung tritt. Auch dem zugänglichen und pointierten Schreibstil ist es zu verdanken, dass ein solch belastetes Thema nicht nur interessant, sondern auch der weiteren (persönlichen) Beschäftigung würdig erscheint. Thießen leistet so mit seinem Buch „Auf Abstand“ einen sehr wertvollen Beitrag zur Einordnung und Erläuterung der Pandemie, dem eine absolute Leseempfehlung auszusprechen ist.

 

[1] https://www.deutschlandfunk.de/kommentar-coronavirus-pandemie-bund-laender-abstimmung-infektionsschutzgesetz-herbst-100.html

CC-BY-NC-SA
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