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Rezension / 04.10.2017

Stéphanie Hennette / Thomas Piketty / Guillaume Sacriste / Antoine Vauchez: Für ein anderes Europa. Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone

München, C. H. Beck 2017

Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste und Antoine Vauchez fordern eine demokratische Erneuerung der Eurozone, denn die institutionellen Änderungen seien bisher nicht ausreichend demokratisch unterfüttert worden: Die Eurogruppe – das Gremium der Finanzminister – habe sich zu einem schwarzen Loch der Demokratie entwickelt. Um die demokratische Kontrolle der europäischen Wirtschaftspolitik zu stärken, schlagen die Autor*innen einen „Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone“ vor. Sein Kernstück ist die Einrichtung einer parlamentarischen Versammlung für die Eurozone.

Im Zuge der Krise in der Eurozone wurden in den vergangenen Jahren viele neue Instrumente geschaffen, um die Probleme in den Eurostaaten zu lösen und die Koordination in der Wirtschaftspolitik zwischen ihnen zu verbessern. Mithilfe des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), des Fiskalpaktes, des Europäischen Semesters und durch eine Reihe weiterer Rechtsakte wurden Kompetenzen an die Unionsebene übertragen – teils durch Änderungen am europäischen Rechtsstand, teils aber auch durch den Abschluss separater völkerrechtlicher Verträge.

Diesen Änderungen ist aber auch gemein, dass durch sie in erster Linie exekutive Akteure, also die nationalstaatlichen Regierungen oder die Europäische Kommission, aber auch die Europäische Zentralbank gestärkt wurden, während eine entsprechende Stärkung parlamentarischer Kontroll- oder Eingriffsrechte weitgehend ausblieb.

An dieser Stelle setzen die Überlegungen von Stéphanie Hennette, Thomas Piketty, Guillaume Sacriste und Antoine Vauchez an. Sie fordern in ihrem Buch, das zunächst in französischer Sprache im März 2017 publiziert wurde, eine demokratische Erneuerung der Eurozone. Denn die institutionellen Änderungen seien nicht entsprechend demokratisch unterfüttert worden und die Eurogruppe – also das Gremium der Finanzminister der Eurozone – habe sich in der Folge zu einem „Schwarze[n] Loch der Demokratie“ (9) entwickelt.

Um die demokratische Kontrolle und Rechenschaft in der europäischen Wirtschaftspolitik wieder zu stärken, schlagen die Autor*innen einen Vertrag zur Demokratisierung der Eurozone (DemV) vor. Einen solch parallelen Vertrag halten sie rechtlich für unbedenklich, da etwa auch der ESM oder der Fiskalpakt in eigenen Verträgen, also außerhalb des europäischen Vertragswerks, bestehen. Das Kernstück dieses Vertragsentwurfs bildet die Einrichtung einer eigenen parlamentarischen Versammlung für die Eurozone, die sich zu einem Fünftel aus Mitgliedern des Europäischen Parlaments und zu vier Fünfteln aus Abgeordneten der Parlamente der Eurostaaten zusammensetzen soll. Die Mitglieder der Versammlung werden – unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahlen der Eurostaaten und der parteipolitischen Verhältnisse in den jeweiligen Parlamenten – delegiert.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Autor*innen für ihre kritische Haltung gegenüber den Reaktionen auf die Eurokrise bekannt sind. Daher überrascht es nicht, dass sie mit der Einsetzung einer Versammlung der Eurozone nicht nur die demokratische Legitimität stärken wollen, sondern auch offen die Hoffnung äußern, dass diese mehrheitlich mit Mitgliedern der politischen Linken besetzt werden würde, wodurch eine Umkehr des wirtschaftspolitischen Kurses der Eurozone ermöglicht würde.

Das Besondere an dieser Stelle ist, dass der Entwurf eines Vertrags zur Demokratisierung der Eurozone ausformuliert im Buch zu finden ist und zwar nicht als Anhang, der gegebenenfalls ignoriert werden könnte – zudem enthält er viele interessante und weitreichende Vorgaben. Mit dem DemV würde das institutionelle Gefüge der europäischen Wirtschaftspolitik umfassend geändert werden. Denn die Versammlung würde in vielerlei Hinsicht eine eigene, starke Position erhalten.

Gemeinsam mit der Eurogruppe würde ihr die Gesetzgebung in der europäischen Wirtschaftspolitik obliegen, wozu auch die Festsetzung eines Haushalts für die Eurozone und die eigene Erhebung von Steuern zählen würden. Weiterhin ist im DemV vorgesehen, dass bei allfälligen Uneinigkeiten zwischen Versammlung und Eurogruppe, die sich auch nicht mithilfe eines Vermittlungsausschusses lösen lassen, die Versammlung das letzte Wort hätte.

Ebenso weitreichend ist der Vorschlag, dass jedes künftige wirtschaftliche Anpassungsprogramm durch die Versammlung zu bestätigen ist. Eine weitere Novität wäre, dass die Besetzung der Direktoriumsmitglieder der EZB, des Vorsitzenden der Eurogruppe und des Direktors des ESM künftig allein durch die Versammlung erfolgen würde – eine fundamentale Abkehr von der bisherigen, fast exklusiv exekutiv geprägten Ernennungspraxis für diese Positionen.

Dass die Einführung des DemV alleine nicht alle Probleme lösen wird, geben die Autor*innen freimütig zu. Das Buch lässt viele Aspekte offen und lädt zum Widerspruch ein. Mit eigenen Haushalts- und Steuererhebungskompetenzen ergeben sich grundlegende Fragen hinsichtlich der Verteilung von Kompetenzen zwischen Union und Mitgliedstaaten, von der innerhalb der Unionsorgane ganz zu schweigen.

Mit dem Verweis auf das Pringle-Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum ESM behaupten die Verfasser*innen, dass der DemV rechtlich unproblematisch sei, weil ja die bestehende Kompetenzverteilung unberührt bliebe – ein Argument, das akribischer juristischer Beobachtung wohl kaum standhalten dürfte. Weiterhin ergäben sich Probleme aus dem Charakter der Versammlung als kooptiertes Organ. Schon heute ist die Arbeitsbelastung von Abgeordneten (egal ob auf europäischer oder nationaler Ebene) so hoch, dass es fraglich erscheint, wie intensiv die Mitglieder der Versammlung ihren Aufgaben nachkommen könnten, wenn sie dieses Mandat praktisch als Ehrenamt zusätzlich zu ihrem eigentlichen Mandat ausüben müssten.

Ferner würde die demokratische Rechenschaft darunter leiden. Da die Versammlung nicht direkt gewählt werden würde, müsste sich demokratische Rechenschaft dann darin zeigen, dass bei einer Unzufriedenheit mit der Arbeit der Versammlung die Wahlentscheidung bei einer nationalen oder europäischen Wahl anders ausfallen würde – bei solchen Wahlen sind jedoch sicherlich auch andere Themen und politische Entwicklungen von Ausschlag gebender Bedeutung für die Wahlentscheidung.

Diese ungelösten Fragen dürften den Autor*innen sicherlich bewusst sein; möglicherweise resultieren sie aus dem geringen Umfang des Buches. Auf den 90 Seiten begeben sie sich nicht mit einem sorgsam austarierten Vorschlag in die Öffentlichkeit, sondern stoßen mit einem kühnen Entwurf in die Debatte. Angesichts der jüngsten Vorschläge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, die darauf zielen, viele Bereiche der europäischen Wirtschaftspolitik bedeutend zu vertiefen, ist es nicht ausgeschlossen, dass sich schon früher als erwartet Juristen um die Neuausgestaltung des europäischen Vertragswerks kümmern werden. Es wäre zu wünschen, wenn diese dann das Buch von Hennette, Piketty, Sacriste und Vauchez auf ihrem Schreibtisch liegen haben.

 

CC-BY-NC-SA
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