Heiner Flassbeck / Paul Steinhardt: Gescheiterte Globalisierung – Ungleichheit, Geld und die Renaissance des Staates
Der Titel der von Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt verfassten Studie könnte täuschen: Die Autoren treffen kein Urteil über das Faktum von Globalisierung, ihnen geht es vielmehr um eine Destruktion zentraler Positionen des Wirtschaftsliberalismus, die weder theoretisch noch praktisch ein angemessenes Verständnis von Voraussetzungen und Folgen der Einbettung nationaler Ökonomien in globale Zusammenhänge ermöglichen. Sie wenden sich gegen eingespielte Dogmen der etablierten Wirtschafts- und Finanzpolitik und plädieren für eine neue, an die Verantwortung des demokratischen Nationalstaates gebundene Ökonomik.
Der Titel der von Heiner Flassbeck und Paul Steinhardt verfassten Studie, beide sind Herausgeber des kritischen wirtschaftspolitischen Magazins Makroskop, könnte täuschen – die Autoren treffen kein Urteil über das Faktum von Globalisierung, ihnen geht es vielmehr um eine Destruktion zentraler Positionen des Wirtschaftsliberalismus, die weder theoretisch noch praktisch ein angemessenes Verständnis von Voraussetzungen und Folgen der Einbettung nationaler Ökonomien in globale Zusammenhänge ermöglichen. Weil der Wirtschaftsliberalismus, insbesondere die sogenannte Neoklassik, „fast alle relevanten wirtschaftlichen Phänomene als die Lösung des Problems der Verteilung knapper Güter über einen perfekten Markt“ (10) zu erklären beansprucht, habe er auf seinem eigenen Gebiet, nämlich der Gestaltung der wirtschaftlichen Kooperation, eklatant versagt.
Von dieser Prämisse ausgehend bilden „Marktfundamentalismus“ und „endemische Staatsvergessenheit“ (357) die beiden wesentlichen Bezugspunkte der Argumentation der Autoren. Mit Blick auf den Marktfundamentalismus ist vor allem Flassbecks Kritik des wirtschaftswissenschaftlichen Mainstreams aus seinen zahlreichen Publikationen und Stellungnahmen bekannt (Flassbeck/Spiecker 2007; Flassbeck 2010). Sie wird in den ersten vier Kapiteln noch einmal in der Breite aufgenommen, wobei es – der Darstellungsweise geschuldet – durchaus zu einigen Wiederholungen kommt. Zunächst geht es um eine relativ allgemein bleibende Kritik gängiger wirtschaftsliberaler Positionen (13 ff.) und um die Rolle, die ein demokratischer Nationalstaat jenseits von Austeritätspolitik für die jeweilige Gesamtwirtschaft einnehmen sollte (87 ff.). Etwas spezifischer fällt die Auseinandersetzung mit regressiven Elementen des Neoliberalismus aus; zentral ist dabei zweifellos die Zurückweisung des neoklassischen Verständnisses des Beschäftigungssystems als (Arbeits-)Markt (143 ff.). Im vierten Kapitel werden die Defizite eines marktorientierten Geld- und Finanzsystems vorgeführt und dagegen die Position entwickelt, der zufolge Geld als Domäne des Staates zu sehen ist (225 ff.).
In politikwissenschaftlicher Perspektive ist vor allem der zweite Bezugspunkt, also die Auseinandersetzung mit Phänomenen „endemischer Staatsvergessenheit“ (299 ff.), von Interesse. Das Plädoyer der Autoren für eine neue Ökonomik ist zugleich eines für die Renaissance des heutigen, demokratisch organisierten Nationalstaates: Es gibt „keine andere Ebene der Politik, von der man erwarten kann, dass sie die Voraussetzungen schafft für eine erfolgreiche und geordnete internationale Kooperation, die an die Stelle der gescheiterten ungeordneten Globalisierung treten könnte“ (88). Damit sollen keineswegs planwirtschaftliche Assoziationen geweckt werden; die Stärken einer dezentral organisierten und auf Gewinnerzielung ausgerichteten Produktion von Wirtschaftsgütern werden nicht bestritten, aber die einzelwirtschaftlichen Akteure seien nicht in der Lage, die gesamtwirtschaftlichen Erfordernisse zu berücksichtigen. Auch der Staat könne diese Rolle auf der Makroebene erst übernehmen, wenn er sich von dem „Glauben an die Existenz sich selbst steuernder Märkte“ (300) verabschiede.
Mit Vehemenz wenden sich die Autoren gegen eingespielte Dogmen der etablierten Wirtschafts- und Finanzpolitik. So könne keine Rede davon sein, dass die im Zuge der Globalisierung erfolgende Einbindung der sogenannten Entwicklungsländer in den Welthandel die Position der Industrieländer in Fragen der Beschäftigung beeinträchtigt. Ein globaler Vergleich der Leistungsbilanzsalden belegt vielmehr, dass es vor allem merkantilistisch ausgerichtete Länder in Europa sind, die ihre Handelspartner durch anhaltend hohe Überschüsse schädigen. Dabei nimmt Deutschland bekanntlich eine Sonderrolle ein, da es als einziger G20-Staat „entgegen vieler Aufforderungen durch eben diese Gruppe seine Überschüsse immer weiter ausgebaut hat“ (314). Ebenso bedürften die Geldpolitik und das System der Banken einer grundlegenden Reform. Die Geldpolitik müsste von der Inflationssteuerung entlastet und auf Aufgaben der Förderung öffentlicher und privater Investitionen umgestellt werden, weil Giroguthaben, Zahlungsverkehr und Kreditvergabe eigentlich der Status öffentlicher Güter zukommt. Für diese Zwecke müsste das Trennbankensystem realisiert und kommerzielle Kredit- und Einlagengeschäfte vollständig vom Investmentbanking getrennt werden. Den Banken seien daher die Kreditvergabe für Finanzmarkttransaktionen und die Besicherung von Krediten mit Finanzmarktprodukten zu verbieten (340 ff.). Perspektivisch könnte eine Reform des Geschäftsbankensystems deshalb in die Überführung dieser Institute in öffentlich-rechtliche Organisationen münden, denen von staatlicher Seite (beziehungsweise der Zentralbank) regionale oder sektorale Vorgaben zur Kreditvergabe gemacht werden. Auf dieser Linie liegt auch die Forderung, den Zentralbanken ihre vermeintliche Unabhängigkeit, die nur Ausdruck einer Abschottung gegenüber demokratischer Einflussnahme ist, zu nehmen und sie stattdessen als integrale Bestandteile der gemeinwohlorientierten Exekutive zu behandeln.
Eine zentrale Rolle in dem Plädoyer der Autoren für einen alternativen, dem ökonomischen Mainstream entgegengesetzten Ansatz einer umfassenden Wirtschaftspolitik kommt der Vollbeschäftigungspolitik und der öffentlichen Daseinsvorsorge zu. Vollbeschäftigungspolitik verlangt eine Rückbesinnung auf die Bedeutung von Arbeit; das heißt zunächst dem im Flächentarifvertrag verankerten Grundsatz wieder Geltung zu verschaffen, „dass für gleich qualifizierte Arbeit an jedem Ort und in jedem Betrieb der gleiche Lohn gezahlt wird“ (325). Systematisch verbunden ist damit die Absage an das von der etablierten Ökonomie immer wieder vorgetragene Credo, Lohnflexibilität (vor allem der unteren Gehaltsgruppen) sei das Mittel der Wahl, um Wirtschaftswachstum bei veränderten externen Rahmenbedingungen aufrechtzuerhalten. Da sich empirisch ein enger, langfristiger Zusammenhang in der Entwicklung von Lohnstückkosten und Preisen zeigen lasse, führen sinkende Reallöhne weder zu nachhaltigen Produktivitätsfortschritten noch zu positiven Beschäftigungseffekten. Wohl sei angesichts technologischer Veränderungen eine tätigkeits- und qualifikationsbezogene Flexibilität der Arbeitskräfte erforderlich, aber diese müsse in eine Vollbeschäftigungspolitik eingebettet sein, die derartige Anpassungen durch unterschiedliche Instrumente (Weiterbildung, Übergangsmaßnahmen, temporäre Beschäftigungsgesellschaften) abfedert. Deshalb sollte sich die Lohnpolitik in einem Korridor bewegen, in dem Löhne, Gehälter und Renten jährlich „genauso stark steigen, wie es dem durchschnittlichen Produktivitätsanstieg der vergangenen fünf oder zehn Jahre plus dem Inflationsziel entspricht“ (324). Eine derartige Lohnpolitik würde drei Rollen zugleich erfüllen: Stabilisierung von binnenwirtschaftlicher Nachfrage und Inflationsrate sowie – ein funktionsfähiges internationales Währungssystem vorausgesetzt – Stützung der Wettbewerbsfähigkeit gegenüber dem Ausland.
Über die primär ökonomischen Bezüge hinaus wäre eine konsequente Vollbeschäftigungspolitik in Verknüpfung mit einer substanziellen öffentlichen Daseinsvorsorge der zentrale Hebel zur Korrektur der Machtasymmetrien im Arbeitsmarkt und der sich daraus ergebenden Ungleichheit. Die Autoren wenden sich hier entschieden gegen materielle wie formale Privatisierungen von Aufgaben der Daseinsvorsorge, wie sie seinerzeit von der rot-grünen Bundesregierung insbesondere bei den sozialen Sicherungssystemen betrieben worden ist. Die in diesem Zusammenhang vielfach vorgebrachte Behauptung, private Unternehmen könnten die erforderlichen Leistungen effizienter erbringen als staatliche Einheiten, „ist von der Praxis eindrucksvoll widerlegt worden“ (362). Gerade das Beispiel der Privatisierung der Renten zeige, dass mit einer derartigen Politik ein ausgesprochen einträglicher Markt für die Versicherungswirtschaft eröffnet wurde. Demgegenüber dürfe die Daseinsvorsorge weder nach dem Profitprinzip gesteuert noch an den Einnahmen der jeweiligen Verwaltungseinheiten ausgerichtet werden. Richtschnur könne nur der entsprechende Bedarf sein – und hier kommt wieder das geldtheoretische Argument der Autoren zur Geltung: Geld ist keine knappe Ressource, sondern ein staatliches Steuerungsmittel, „das er zur Aktivierung der in seinem Herrschaftsgebiet befindlichen Ressourcen verwenden kann und im Gemeinwohlinteresse auch verwenden sollte“ (360). Die darin implizierte Kritik des Mythos, ein ausgeglichener Staatshaushalt sei unabdingbar zur Vermeidung einer Schuldenfalle, wird mittlerweile ja auch von anderen Ökonomen vertreten (Herzog-Stein et al. 2019). Das gilt auch für die Folgen einer auf die „schwarze Null“ fixierten Fiskalpolitik und die Verteidigung der Schuldenbremse angesichts des skandalösen Verfalls der Infrastruktur, der strukturellen Überschuldung zahlreicher Kommunen und des eklatanten Personalmangels im öffentlichen Dienst.
Fazit
Die Ökonomie ist zweifellos eine ‚interessierte’ Wissenschaft, also eine Wissenschaft, in deren Grundannahmen über die Rationalität von Märkten spezifische Interessen eingelagert sind, die vielfach eng mit den Interessen bestimmter Akteurstypen verbunden sind. Dafür geben Flassbeck und Steinhardt viele einschlägige Beispiele, die erneut belegen, dass der Objektivitätsanspruch der etablierten Ökonomen in erster Linie das Ergebnis einer erfolgreichen sozialen Konstruktion und nicht Ausdruck epistemischer Überlegenheit ist. Das Plädoyer der Autoren für eine neue Ökonomik, von dem sich der neoklassische Mainstream bisher unbeeindruckt zeigt (vgl. Der Spiegel 2018), ist vor allem in den Teilen überzeugend, die – wie die Analyse des Arbeitsmarktes – mindestens implizit Anschlüsse für eine sozialwissenschaftliche Perspektive bieten.
Literatur
Der Spiegel 10/2018: „Wir leben in einer perversen Welt“. Streitgespräch zwischen Clemens Fuest und Heiner Flassbeck (https://www.spiegel.de/spiegel/clemens-fuest-und-heiner-flassbeck-wir-leben-in-einer-perversen-welt-a-1196235.html; Abruf 7. Juli 2019)
Flassbeck, Heiner / Friederike Spiecker (2007): Das Ende der Massenarbeitslosigkeit. Mit richtiger Wirtschaftspolitik die Zukunft gewinnen. Frankfurt am Main, Westend
Flassbeck, Heiner (2010): Die Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts. Frankfurt am Main, Westend
Herzog-Stein, Alexander / Ulrike Stein / Rudolf Zwiener (2019): Arbeits- und Lohnstückkosten-Entwicklung 2018 im europäischen Vergleich. Düsseldorf, IMK-Report 149, Juli 2019
Demokratie und Frieden
Aus der Annotierten Bibliografie