Martin C. Wolff: Digitale Souveränität
Angesichts digitaler Herausforderungen wirken Staaten, Politik und Verwaltungen oft hilflos. Martin C. Wolff sieht die Gründe in einer – bislang – fehlenden Anschlussfähigkeit des Souveränitätsbegriffs, da dieser auf Definitionen von Territorium und Nation beruht und daher das „Dazwischen“ des Internets (noch) nicht erfasse. „Digitale Souveränität“ versucht den Brückenschlag, indem es eine „Ideengeschichte der Digitalisierung und der Technik“ entwirft. Wer erfahren möchte, welche konkreten „Techniken oder Machtmittel ein Staat im digitalen Raum beherrschen muss“, werde hingegen enttäuscht, so unser Rezensent.
Die Politikwissenschaft denkt Souveränität in der Regel als nach innen oder nach außen gerichtet. Nach innen gerichtet bedeutet sie grosso modo, dass der Souverän (wer auch immer das sein mag) in der Lage ist, allgemeinverbindliche Regeln notfalls auch gegen Widerstände durchzusetzen. Souverän ist somit, wer die Herrschaftsgewalt/Hoheitsgewalt innehat, um über die höchste, unumschränkte, direkte, unabhängige und freie Machtausübung in einem Gemeinwesen zu verfügen. Nach außen gerichtet bedeutet sie, dass diese innere Ordnung nicht durch gebietsfremde Mächte gefährdet wird. Ein ganz wesentliches, in den Definitionen mitschwingendes Element des Souveränitätsbegriffs wird bei dieser Betrachtungsweise leicht übersehen: die Grenze. Die Unterteilung in ein Innen und ein Außen. Die Tatsache, dass eine Herrschafts- und Rechtsordnung auf einem bestimmten Gebiet gilt (und anderswo nicht). Was aber, wenn wir zunehmend in Zeiten leben, in denen souveräne Macht ent-grenzt wird? Wie beispielsweise im digitalen Raum, der per Definition keine Staatsgrenze kennt. Müssten wir, um dem gerecht zu werden, den Begriff der Souveränität dann nicht um das Merkmal der digitalen Souveränität erweitern? Hiermit beschäftigt sich das gleichnamige Buch von Martin C. Wolff. Der Autor verfolgt dabei ein ehrgeiziges Ziel: Er möchte eine vollständige Theorie der digitalen Souveränität vorschlagen und zugleich einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung einer Theorie der Technik leisten.
Wolff entwickelt seine Gedanken auf 150 Seiten, untergliedert in vier Kapitel. Das erste Kapitel ist der Diskussion des Souveränitätsbegriffs gewidmet. In den beiden folgenden Kapiteln erarbeitet Wolff eine historisch-philosophische Konzeption von Technik. In seiner ideengeschichtlichen Analyse verfolgt er dabei den Gedanken, dass Technik bislang als minderwertiger, provisorischer Aspekt menschlichen Lebens angesehen wurde. Und dass sich diese Idee des Provisoriums durch die „Inter-Technik“ (Wolff) noch verstärkt habe. Das letzte Kapitel stellt schließlich die Pointe dar: Der Autor plädiert für eine vollständig neue Betrachtung und Bewertung von Technik und für die Entwicklung einer Pädagogik des Technischen, um so etwas wie digitale Souveränität überhaupt entwickeln zu können.
Bevor man einen genaueren Blick auf seine inhaltlichen Positionen werfen kann, muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass dieses Buch nicht anwendungsbezogen gedacht ist. Wer also erwartet, in diesem Buch zu erfahren, welche Techniken oder Machtmittel ein Staat im digitalen Raum beherrschen muss, um digital souverän zu sein, der wird enttäuscht werden. Auch die Auseinandersetzung zwischen staatlichen Akteuren und privaten Unternehmen — momentan verhandelt ja die Europäische Union den Begriff der digitalen Souveränität und meint damit ganz wesentlich die Unabhängigkeit des politischen Europas vom Silicon Valley — steht nicht im Zentrum seiner Untersuchung. Wolff geht es um etwas Anderes: um eine historische und philosophische, sprich ideengeschichtliche Bewertung des Digitalen und des Technischen an sich. Wer mit dieser Geschäftsgrundlage einverstanden ist, wird viele interessante Aspekte in dem Buch entdecken.
Zunächst einmal sollte man seiner Eingangsanalyse zustimmen: während der Begriff der Souveränität seit Jahrhunderten intensiv diskutiert wird, gibt es (noch) keine ernsthafte, breite politische Diskussion darüber, was eine digitale Souveränität sein soll. Medial flackert allenfalls das „Lieblingsthema Datenschutz“ auf (12). Und das obwohl selbst mächtige staatliche Akteure eher als Getriebene denn als Gestalter erscheinen. Wolff erinnert daran, dass Souveränität eine legitimatorische und eine performative Komponente aufweist. Und in der Regel falle es der staatsrechtlich denkenden Rechtswissenschaft unerträglich schwer zu akzeptieren, dass die legitimatorische Komponente von Souveränität im Zirkelschluss aus ihrer performativen Komponente hervorgehe. „Souverän ist, wer die Souveränität herstellt, durchsetzt und aufrechterhält“ (15). Das wusste allerdings auch schon der verfemte Carl Schmitt. Wolff argumentiert nun weiter, dass sich insbesondere durch die Seemächte des 19. und 20. Jahrhunderts der Souveränitätsbegriff universell ausgedehnt habe. Ursprünglich galt souveränes Recht um ein Meer herum, aber nicht auf dem Meer. Erst die militärische Macht der Seemächte dehnte den Rechtsrahmen dieser Länder, und damit ihren Begriff der Souveränität, ihre Rechtsvorstellungen, auf das Meer selbst aus. Auf einen vormals rechtsfreien Raum. (18-24) Diese historische Betrachtung ist interessant, legt sie schließlich den parallelen Gedanken nahe, dass es schon einmal gelungen ist, Souveränität vormals rechtsfreien Räumen aufzuzwingen. Sprich: Was damals gelang, kann auch wieder gelingen. Allerdings, so meint der Autor, müsse man sich vorher fundamental mit unserer Sichtweise auf Digitalität und damit auf Technik beschäftigen. Insbesondere der Staat müsse sich damit befassen, denn es seien keineswegs nur die gesellschaftlichen Akteure in dieser Hinsicht rückständig, sondern auch staatliche Institutionen (25). Bislang versuchten beispielsweise westliche Staaten digitalen Angriffen aus Autokratien mit Rechtsmitteln zu begegnen. Möglicherweise ein kategorialer Fehlgriff: „Krieg hält sich nicht an die normativen Definitionen. Krieg definiert sich durch die Abwesenheit von Verträgen, die zuvor erodiert, die gebrochen und schließlich aufgehoben werden. Umgekehrt sind Normen die Friedenslinien zur Einlegung des Krieges, die sie zugleich global auszudehnen anstreben“ (27).
Wolff meint, dass wir nichts geringeres tun müssten, als unsere Betrachtung von Technik fundamental zu ändern. Im zweiten Kapitel investiert er viel Zeit, um zunächst den aus seiner Sicht herrschenden und defizitären Technikbegriff in der demokratischen Öffentlichkeit des Westens herauszuarbeiten. Die Diskussion ist ausführlich, differenziert und komplex, lässt sich aber zugespitzt auf eine Formulierung verdichten, die Wolff selbst an den Anfang seines Kapitels stellt: „Kunst ist etwas Höheres, Technik etwas Profanes“ (28). Unser Begriff von Kunst schließe laut Wolff an Platons ewige Ideen an: Kunst habe Geist und Transzendenz. Technik sei dagegen nur die Nachahmung und die bloße Anwendung dieser ewigen Ideen und damit qualitativ und moralisch minderwertig. Technik sei eben „Zeug“: Fahrzeug, Flugzeug et cetera (37 ff.). Doch Technik, so glaubt Wolff, gilt uns nicht nur als profan. Wir haben eine zweite - falsche – Wahrnehmung: Die Vorstellung von Technik als Fortschritt, also als einem neuen Stadium in der menschlichen Entwicklung. Er argumentiert dagegen: „Technik und die mit ihr irgendwie verwandte Digitalisierung jedoch sind keine Fortschrittsstadien, sondern sind der allmähliche Wandel von Wahrheit-und Naturvorstellungen“ (34). Verbunden mit dieser Idee von Wahrheit und Natur (Schöpfungsgeschichte!) sei die Frage von Gut und Böse. Zum dritten also, so argumentiert der Autor, neigen wir dazu jede neue Technologie erst einmal nach dem möglichen „Bösen“ zu befragen. Dies sei die typische Haltung von Technikfolgenabschätzung (43). Passend zur Entwicklung der Aufklärung, die zunehmend weniger in absoluten Wahrheiten dachte, entwickelte sich auch die Vorstellung von Moral als Provisorium. Und diese Sicht wird letztlich auch auf Technik angewandt: Wenn ich etwas nicht sicher weiß, taste ich mich vorsichtig heran. Exploriere. Betrachte Dinge als Hypothese, die sich beweisen muss. Nach und nach entfaltet Wolff einen wesentlichen Aspekt seines Denkens: Technik ist permanentes Provisorium (beste Verbildlichung: Software mit ihren ständigen Updates, 68), aber ein sehr wirkmächtiges. Eines, das zum Teil der Natur (zumindest unserer Natur) werde. Eines, so meint er, das die Natur sogar überschreibe. Allmählich würden wir der Technik sogar einen eigenen, ontologischen Rang zuerkennen. Diese Technik sei aber eben noch nicht in unsere Institutionen, Kultur und Pädagogik eingebettet (50 f.). Ebendies setze aus seiner Sicht aber gerade ein. „Die ontologische Aufladung der technischen Geräte hat begonnen“ und die Natur werde zum reinen Rohstofflieferant für menschliches Leben (59). Die menschliche Welt werde dagegen zunehmend eine technische. Technik fülle die Lebenswelt der Menschen mehr und mehr aus (71), da moderne Gesellschaften explodierende Anforderungen der Bevölkerung an Bequemlichkeit und ein angenehmes Leben erfahren, was zusätzlichen Bedarf an Technik nachgerade zwingend macht (96). Gleichzeitig scheint die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften auch nur mit mehr digitalen Werkzeugen beherrschbar und verwaltbar zu sein (108).
Wolff verdeutlicht überdies die Rolle der Ökonomie für den fortlaufenden Verbesserungsprozess der technischen Provisorien. In unserer Welt sei die Ökonomie die wissenschaftliche Leitdisziplin und zugleich Garant der technischen Entwicklung (66). Anders als die Nationen, die gewohnt seien, zu regulieren, müssten Unternehmen permanent optimieren und erführen daher größere Anreize zur schnelleren und besseren Entwicklung neuer Technologien (69). Für Wolff ergibt sich eine interessante Ironie der Geschichte: Früher hätten die Ministerien Daten gesammelt, um Kontrolle im Land auszuüben. Mittlerweile sammelten die Unternehmen die Daten und dem Staat dagegen misslinge es, effektiv Daten zwischen Ministerien, Ressorts und Behörden auszutauschen (118). Als einen wesentlichen Grund dafür erkennt Wolff einen in funktionalen Silos arbeitenden und denkenden Staat, der sich davor scheut, Kompetenzen für die Vernetzung, die Verbindung, für das dazwischen, für das „Inter“ auszubilden (119), da er diese Begriffe nicht kenne — sondern (siehe Souveränität) nur das Innen und das Außen. Im Grunde fordert Wolff also das zu ändern, was man heutzutage „mindset“ nennt und früher als geistige Haltung bezeichnet hätte: Der Staat und seine Beamtenschaft müssten zu Experten des Digitalen werden, indem sie sich eine grundsätzlich andere Denkhaltung zu Technologie, Vernetzung und zur Digitalität erarbeiteten (127). Eine „digitale Hermeneutik“, eine „Geistesgeschichte der Technik“ (132) sei nötig, um fundamental digitale Souveränität erdenken und erarbeiten zu können. Wolff erkennt hierin eine originäre Aufgabe des Staates. Unternehmen können und wollen dies nicht leisten, da sie auf Spezialisierung und Expertise, nicht auf Bildung und Verständnis ausgerichtet seien (133). Keinesfalls reiche das derzeitige rein regulatorische Verständnis von Staat, Behörden und Politik aus. Es setze auf Abwehr, nicht auf Technologiekompetenz und stünde angesichts der bevorstehenden technologischen Entwicklung von Beginn an auf verlorenem Posten (138). „Souveränität allein juristisch zu analysieren, hat denselben Charme, wie Theologie allein als eine Verwaltungsinstanz zu betrachten“ (145). Ganz zum Schluss wird deutlich, dass Wolff davon ausgeht, Souveränität in Demokratien (und ausschließlich in diesen) künftig anders definieren zu müssen. Sie bekomme eine noch stärker geteilte Komponente und zudem eine gesellschaftliche Facette, da digitale Souveränität immer gesellschaftlich verteilt sein müsse, weil sie vernetzt sei (153). Kurzum: „Digitale Souveränität geht nur noch in Verbindung mit Nichtregierungsorganisationen, mit zivilen und wirtschaftlichen Akteuren“ (155). Um es also klar zu formulieren: Wolff geht davon aus, dass wir eine Erweiterung des Souveränitätsbegriffes um den digitalen Aspekt benötigen – und dass genau dies aber einen Verlust von Souveränität für den Staat bedeutet und dass künftig Souveränität stärker gesellschaftlich gedacht werden muss.
Was wäre kritisch anzumerken? Obwohl der Autor ein Gespür dafür hat, dass der Blick auf Technik sowie auf alle Phänomene der Realität immer auch kulturell geprägt ist, darf man doch annehmen, dass beispielsweise asiatische Kolleginnen und Kollegen vieles ganz anders sehen werden als Wolff beziehungsweise als wir. Und zwar nicht in Bezug auf die Folgen (die hat Wolff auf den demokratischen Westen bezogen), sondern schon auf die anfängliche Analyse. So offenbarte sich dem Rezensenten beispielsweise bei Studienexkursionen nach Singapur ein pragmatischer, offener und begeisterter Umgang mit Technik - konkret mit Fragen des Datenschutzes, der in Opposition zur ‚deutschen‘ Herangehensweise steht. Zum zweiten neigt das Buch, so wie viele philosophische Traktate, dazu abzuschweifen. Im Rahmen der Diskussion fallen Gedanken und Begriffe, die Wolff gerne ausführen möchte. Dabei entstehen durchaus interessante Randnotizen und -gedanken. Dies geht allerdings zulasten des Leseflusses. Um ein Beispiel zu nennen: Städte als Prozessoren (112-114) zu betrachten und veränderte Baustrukturen als Ausdruck einer tief greifenden Umstellung des Wirtschaftsmodells hin zur Digitalisierung aufzufassen ist interessant, lenkt in dem Kontext allerdings vom eigentlichen Thema des Kapitels (Daten und Herrschaft) ab.
Im besten Sinne erinnert Wolff streckenweise an Byung-Chul Han, der allerdings noch präziser und konzentrierter an Themen arbeitet. Wolff gelingt es nicht ganz so überzeugend, Wiederholungen im Text und Rückschritte in seiner Argumentation zu vermeiden. Wiederholt beschleicht beim Lesen das Gefühl, bestimmte Argumente und Aussagen einige Dutzend Seiten früher schon einmal gelesen zu haben. In diese Kategorie fallen auch permanent auftretende Zeitsprünge. Wähnte man sich in der ideengeschichtlichen Diskussion in einem Augenblick noch im 19. oder 20. Jahrhundert, wird unvermittelt in die frühe Neuzeit zurückgesprungen. Vermutlich hätte es dem Buch besser getan, den eigenen Anspruch etwas herunterzuschrauben und nicht den Versuch zu unternehmen, eine komplette Ideengeschichte der Digitalisierung und der Technik zu schreiben.
Demokratie und Frieden
Digirama / Tanja Thomsen / 03.07.2020
Künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung. Neue Systemvoraussetzungen für Multilateralismus und Demokratie
In diesem Digirama werden Beiträge aus den Bereichen (Cyber-)Sicherheitspolitik, Partizipation, Gesellschaft, Völker- und Wirtschaftsrecht vorgestellt, in denen durch die Einführung von Digitalisierung und KI das Politische verschiedenen Wandlungsprozessen unterworfen ist. Als Klammer erweist sich die Erkenntnis, dass Digitalisierung und KI an sich keine Bedrohung für den Menschen nach Vorbildern aus der Science-Fiction darstellen, wohl aber Handlungsbedarf bestehe, die aktuellen Entwicklungen zu analysieren und je nach Ausgangslage möglichst gesamtgesellschaftlich mitzugestalten.
Weiterführende Links
Digitale Souveränität
Was bedeutet digitale Souveränität für Deutschland? Und wie kann sie erreicht werden?
Externe Veröffentlichungen
Florian Felix Weyh, Martin C. Wolff / 26.11.2022
Deutschlandfunk Kultur
Karin Pettersson / 04.09.2019
IPG-Journal
Boris Otto / 2016
Fraunhofer-Gesellschaft e.V.