Melani Barlai, Florian Hartleb, Dániel Mikecz: Das politische System Ungarns
Mit diesem Lehrbuch für angehende Forscher*innen möchten Melani Barlai, Florian Hartleb und Dániel Mikecz das Regierungssystem Ungarns „nüchtern, aber doch faktenreich analysieren“, indem es die Entwicklungen seit 2010 unter die Lupe nimmt. Sven Leunig hat das Buch für uns gelesen, welches einen Bogen zwischen institutionellen und gesellschaftlichen Änderungen spannt und dabei stets nach den Effekten auf die Demokratiequalität fragt. Es schließe im Ergebnis mit verschiedenen Zukunftsszenarien für dieses europäische Land, welches von „einer Revolution von oben“ erfasst worden sei.
Nach dem im letzten Jahr (2022) erschienenen Sammelband von Lorenz und Bos ist das vorliegende Buch schon die zweite Publikation, die sich als Einführungswerk dem politischen System Ungarns widmet. Dies geschieht angesichts des in Forschung und Politik allgemein wahrgenommenen „democratic decline“ dieses mitteleuropäischen Staates nicht von ungefähr. Dass in den Veröffentlichungen zu Ungarn häufig ein normativer „bias“ mitschwingt, veranlasst die Autor*innen dieses Lehrbuchs für „angehende WissenschaftlerInnen“, wie es im Klappentext heißt, zu betonen, dass sie das Land „nüchtern, aber doch faktenreich analysieren“ wollen (11). Schon die umfangreiche Einleitung umreißt alle von den Verfasser*innen als relevant und diskussionswürdig erkannten Fragestellungen, allen voran natürlich die in jedem der folgenden Kapitel anklingende Frage nach dem Stand der Demokratiequalität in Ungarn. Sie kommen zu dem Schluss, dass es hier eine „Revolution von oben“ gegeben habe: „Seit 2010 dreht die Regierung an allen Stellschrauben des politischen Systems, um eine liberale Demokratie zu transformieren und nationale Identität zur Staatsgrundlage zu machen“ (20). Wie dies im Einzelnen geschieht, wird in neun Kapiteln dargestellt.
Die Verfasser*innen beginnen mit dem Wahlsystem. Hier werden „institutionelle, administrative […] Manipulationen identifiziert“, die den Schluss zuließen, man habe es in Ungarn mittlerweile mit einer „Wahlautokratie“ zu tun (46 f.). Daraus sei mittlerweile ein von FIDESZ dominiertes Parteiensystem entstanden. Dieses sei so stabil, dass etwa postmaterialistischen oder gemäßigt konservativen Parteien keine realistischen Chancen auf einen Wahlsieg eingeräumt werden (73). Letztlich sei dadurch und durch Verfassungsreformen die Kontrollfunktion des Parlaments erkennbar geschwächt, was auch damit zu tun habe, dass die Opposition ihre Sperrminorität eingebüßt habe (88). Besonders bedenklich, so die Autor*innen, sei die de facto „Demontage“ des Verfassungsgerichts. Nicht nur sei die Möglichkeit der abstrakten Normenkontrolle drastisch eingeschränkt worden, das Gericht selbst habe darüber hinaus etwa das Recht zur Kontrolle von Finanzgesetzen verloren. Damit habe die seit 2010 geltende Verfassungsordnung „mit der Tradition eines auf Gewaltenteilung basierten Verfassungsgebungsprozesses“ gebrochen, das Gericht diene nunmehr „als Legitimationsorgan der Regierung Orban[s]“ (108 f.). Symbolträchtig sei auch die Unterordnung der Außenpolitik unter den Außenhandel, was schon im Wortlaut der Bezeichnung des entsprechenden Ministeriums seinen Niederschlag finde (131).
Auch im gesellschaftlichen Bereich machen die Verfasser*innen seit der Regierungsübernahme Orbans 2010 höchst problematische Prozesse aus. So erfahre etwa das Mediensystem eine zunehmende politische Instrumentalisierung, es werde seither mehr und mehr in den Dienst der politischen Machterhaltung gestellt, was sich auch in einer zunehmend schlechter werdenden Bewertung der Pressefreiheit in internationalen Vergleichsindizes niederschlage (119). Gleiches gelte für die bürgerlichen Freiheiten wie das Assoziationsrecht. So könne man sich zwar immer noch frei zusammenschließen. Organisationen, die von ausländischen Geldgebern finanzielle Mittel in einer bestimmten Höhe erhalten, müssten sich allerdings als „aus dem Ausland finanzierte Organisationen“ registrieren lassen (149) – die „ausländischen Agenten“ im Putin‘schen Russland lassen grüßen.
Die Schwäche der Zivilgesellschaft hinsichtlich der Vertretung nicht-majoritärer Positionen führe auch dazu, dass nationale, ethnische Minderheiten wie die Rom:nja in der Gegenwart weitaus weniger Schutz erfahren, als dies noch bis 2010 der Fall gewesen sei. Generell erinnere die Minderheitenpolitik Orbans stark an die „Magyarisierungspolitik“ des 19. Jahrhunderts, so die Autor*innen. FIDESZ verfolge nicht nur eine gegen nahezu jedwede Einwanderung aus dem nichteuropäischen Ausland gerichtete Politik. Sie halte zugleich das Konzept der „nationalen Kulturnation“ der „Magyaren“ hoch, was de facto den Ausschluss all jener zur Folge habe, die sich nicht zu den Werten dieser Nation bekennen würden (169).
Zwar, so kommen die Autor*innen im Abschnitt über die politische Kultur Ungarns zum Schluss, habe die Schwäche der institutionalisierten Opposition zugleich zur Stärkung regierungskritischer sozialer Bewegungen und Bürgerinitiativen geführt, zugleich aber auch zur Intensivierung antipolitischer Gefühle und wachsendem Misstrauen gegenüber politischen Institutionen (192 f.). Daher endet der Band mit der Darstellung verschiedener Zukunftsszenarien, die, je nach Eintreten bestimmter situativer Bedingungen, entweder positiv oder negativ ausfallen können.
Demokratie und Frieden
Rezension / Sven Leunig / 03.02.2022
Ellen Bos, Astrid Lorenz (Hrsg.): Das politische System Ungarns. Nationale Demokratieentwicklung, Orbán und die EU
Ellen Bos und Astrid Lorenz legen eine deutschsprachige Überblicksdarstellung zum politischen System Ungarns vor, die aktuelle Entwicklungen mit einbeziehe. Damit schließen sie eine Lücke, wie Rezensent Sven Leunig schreibt. Er ordnet die zentralen Aussagen der Aufsätze mit Blick auf die Entwicklung zum „illiberalen Staat“ Viktor Orbáns ein. Letztere habe bereits vor 2010 eingesetzt. So sei die Polarisierung des ungarischen Parteiensystems nicht allein eine Folge der Herrschaft Orbáns, sondern habe historische Wurzeln. Insgesamt sei den Herausgeberinnen ein gut fundierter Überblick über das politische System Ungarns gelungen, „dessen Lektüre nur zu empfehlen ist“, so Leunig.
Analyse / Zsolt K. Lengyel / 29.11.2018
Das Ungarn-Bild der deutschen Medien. Entwicklungslinien nach 1990 und thematische Schwerpunkte von 2010 bis 2016
In seiner ausführlichen Analyse der Berichterstattung deutscher Leitmedien zeigt Zsolt K. Lengyel, dass das Ungarn-Bild der Deutschen Schlagseite erlitten habe. Viele (Ab-)Wertungen zeugten von mangelnder Landeskenntnis und spiegelten überdies den Versuch, die Schlussfolgerungen aus der deutschen Vergangenheitsbewältigung für die politische Kultur auf andere Länder zu übertragen.
Rezension / Tamara Ehs / 13.06.2013
Jan-Werner Müller: Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie
Paul Lendvai nennt in einem Interview Ungarn unter Viktor Orbán eine „parlamentarische Diktatur“. Jan‑Werner Müller formuliert vorsichtiger, doch auch ihm drängen sich Parallelen zu Putins „gelenkter Demokratie“ auf. Denn Orbáns Partei „Fidesz hält den Staat besetzt“, wodurch trotz Wahlen, geduldeter Demonstrationen und kritischer Stimmen wirkliche Machtwechsel immer unwahrscheinlicher würden.
Externe Veröffentlichungen
Melani Barlai / 14.06.2023
Nomos
Kai Olaf Lang / 07.04.2022
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Jan Niklas Engels / 29.09.2016
Keno Verseck / 06.01.2023
Deutsche Welle