Michael Hüthner, Melinda Fremerey und Simon Gerards Iglesias: Gegen die Weltordnung. Russlands Sonderweg und sein ökonomischer Preis
Welche wirtschaftlichen Folgen haben der Krieg gegen die Ukraine und die Sanktionen für Russland? Aufbauend auf einer historischen Einbettung kommen die Ökonom*innen Hüthner, Fremerey und Gerards zu dem Ergebnis, dass Russland auch ökonomisch “seine Zukunft verspielt” habe. Alexander Libman, Ökonom und Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Russland, übt teils scharfe Kritik: Anstatt die russische Wirtschaft und Gesellschaft in ihrer Komplexität zu analysieren, ordne das Buch alle Fakten einer stark vereinfachten Großerzählung unter. Trotz interessanter empirischer Teile sei das Ergebnis daher eine „simple Story von Peter dem Großen bis hin zu Putin“, die ein deterministisches Bild der Entwicklung Russlands zeichne.
Eine Rezension von Alexander Libman
Der vollumfängliche russische Angriff gegen die Ukraine im Februar 2022 löste eine bis jetzt beispiellose Welle der internationalen Sanktionen gegen Russland aus: Bereits wenige Monate nach der Invasion wurden gegen Russland mehr Sanktionen verhängt als etwa gegen den Iran, Nordkorea oder Venezuela. Seitdem wurde das Sanktionsregime mehrmals verschärft. Die Auswirkungen der Sanktionen, sowohl politische als auch wirtschaftliche, bleiben jedoch umstritten. Umso wichtiger sind systematische, nüchterne und sachliche Einschätzungen der Entwicklung der russischen Wirtschaft. Das Buch von Hüther, Fremerey und Gerards Iglesias nimmt eine solche Einschätzung vor, die aber nur zum Teil gelingt.
Das Buch besteht (neben der Einführung und dem Fazit) aus drei inhaltlichen Kapiteln. Im Kapitel 2 versuchen die Autor*innen, einen breiten Blick auf die Entwicklung der russischen Wirtschaft und des russischen Staates in der longue durée zu werfen. Dabei werden sowohl die wirtschaftliche Entwicklung des Zarenreichs als auch die sowjetische Wirtschaftsentwicklung und das Scheitern der postsowjetischen Transformation beleuchtet. Das Kapitel liefert ein außerordentlich düsteres Bild der russischen Geschichte: eine über Jahrhunderte bestehende autoritäre Gewaltherrschaft, die sich primär auf den Aufbau der militärischen Macht konzentriert, von einem korrupten Staatsapparat unterstützt wird und deren Gesellschaft keinerlei demokratische Erfahrung hat und imperialistisch gestimmt ist. Die Versuche der 1990er Jahre, das Land zu modernisieren, sind aus der Sicht der Autor*innen eindeutig gescheitert; der Angriff gegen die Ukraine wird als natürliche Folge dieser imperialistischen Tendenzen präsentiert.
Im Kapitel 3 fokussieren sich die Autor*innen auf das zentrale wirtschaftliche Problem Russlands: die extreme Abhängigkeit von den natürlichen Ressourcen. Als theoretische Grundlage der Diskussion dient die Resource-Curse-Literatur, die am Anfang des Kapitels kurz skizziert wird. Die Resource-Curse-These besagt, dass rohstoffreiche Länder langfristig ökonomisch durch niedrige Wachstumsraten und politisch durch die Stabilisierung autoritärer Herrschaft gekennzeichnet sind. Die wirtschaftliche Schwäche resultiert zum Beispiel aus der sogenannten holländischen Krankheit (Dutch Disease):
Steigende Einnahmen aus dem Rohstoffexport führen zu einem Anstieg des Wechselkurses der nationalen Währung, wodurch andere Wirtschaftssektoren auf den internationalen Märkten weniger wettbewerbsfähig werden und der Import von Produktions- und Konsumgütern anstelle der Eigenproduktion begünstigt wird. Im Kapitel 3 stellen die Autor*innen zahlreiche statistische Daten vor, die die Bedeutung der Rohstoffe für die russische Wirtschaft und den russischen Außenhandel überzeugend belegen. Gegen Ende des Kapitels gehen sie auf die regionalen wirtschaftlichen Verflechtungen Russlands ein, die sie abschließend als eine verpasste Chance für die Entwicklung Russlands beschreiben – dabei geht es sowohl um die Modernisierungsmöglichkeiten, die durch die Zusammenarbeit mit der EU entstehen würden, als auch um die Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten in Rahmen der regionalen wirtschaftlichen Integrationsgruppen wie dem 1991 aufgelösten Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) und der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU).
Abschließend werden in Kapitel 4 die aktuellen Sanktionen und ihre Wirkungen diskutiert. Die Autor*innen präsentieren Sanktionen als ein komplexes Instrument, dessen Wirksamkeit immer kontextabhängig ist und nicht überschätzt werden sollte. Die Analyse der bestehenden Sanktionsforschung erlaubt es ihnen, sieben Bedingungen für den Erfolg der Sanktionsmaßnahmen zu formulieren (143), von denen im russischen Fall nur einige erfüllt sind. Die Autor*innen weisen auf eine überraschend hohe Stabilität der russischen Volkswirtschaft hin, die sie aber primär durch den Anstieg der Militärausgaben erklären, also als Ergebnis der staatlichen Interventionen, die in der längeren Frist nicht stabil bleiben könnten. Im abschließenden Teil des Kapitels gehen die Autor*innen auf ein besonders gravierendes langfristiges Problem der russischen Wirtschaft ein: die schrumpfende und alternde Bevölkerung. Zusammenfassend argumentiert das Buch, dass die russische Wirtschaft vor eher „düsteren“ (203) Perspektiven stehe und einen „jahrzehntelangen Entwicklungsrückstand“ (203) sowohl gegenüber dem Westen als auch gegenüber China aufweise.
Das Buch beinhaltet viele lobenswerte Aspekte. Es ist sehr reich an empirischem Material und liefert auf knapp 200 Seiten eine sehr detaillierte Beschreibung vieler Aspekte der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung Russlands. Ein*e Leser*in, der*die mit dem russischen Fall nicht vertraut ist, kann dem Buch eine Menge von Fakten und empirischen Beobachtungen entnehmen, die einfach und knapp präsentiert werden. Doch genau dieser Versuch der Autor*innen, eine kurze und auch für eine fachfremde Leserschaft zugängliche Darstellung der Entwicklung Russlands anzubieten, ist die Ursache für die größte Schwäche des Buches. Anstatt die russische Wirtschaft und Gesellschaft in ihrer Komplexität zu analysieren, ordnet das Buch alle im Text präsentierten Fakten einem sehr vereinfachten Grand Narrative unter. Dabei wird vieles, was die russische Wirtschaft langfristig beeinflusst, schlichtweg außer Acht gelassen oder rhetorisch heruntergespielt.
Es ist bedauerlich, dass gerade das erste inhaltliche Kapitel – die Analyse historischer Pfadabhängigkeiten – besonders stark unter diesem Problem leidet. Es zeichnet ein absolut deterministisches Bild der russischen Geschichte als einer des unveränderlichen Imperialismus und der Staatszentriertheit. Man kann sogar von einer Orientalisierung russischer Geschichte im Sinne Edward Saids reden, und wie alle orientalistischen Bilder der nichteuropäischen Gesellschaft hat so eine Darstellung wenig mit der Realität zu tun. Denn neben der staatlich geprägten zentralistischen Tradition lässt sich im russischen Fall auch eine andere, ebenso wichtige Tradition erkennen – die der spontanen Selbstorganisation und der privaten Initiative, die vom Staat immer unterdrückt wurde, jedoch nie wirklich verschwanden.
Tatsächlich war Russland vor dem Jahr 1917 durch eine überwiegend ländliche Bevölkerung geprägt; doch die urbane Bevölkerung als völlig irrelevant einzustufen, entspricht nicht dem Stand der historischen und der sozialwissenschaftlichen Forschung. Tomila Lankina etwa zeigt in ihrem Buch, wie unglaublich robust die historischen Legacies der zaristischen urbanen Bevölkerungsschichten waren – man kann sie trotz der Kriege und Revolutionen über fast ein Jahrhundert bis in die späten 1990er Jahre verfolgen (Lankina 2021). Auch die unternehmerischen Traditionen der russischen Minderheiten wie etwa der Altgläubigen werden im Buch gar nicht erwähnt. Die Behauptung, dass die Besiedlung Sibiriens primär Ergebnis staatlichen Zwangs war (29), ist schlichtweg falsch: Sie ignoriert die Schlüsselrolle der privaten Unternehmungen (wie etwa die der Stroganow-Kaufleutefamilie), der flüchtigen Bauern, die der Leibeigenschaft entgehen wollten und der religiösen Minderheiten, die nach Sibirien zogen, um dem Staat zu entgehen.
Die Beschreibung der Entwicklungen der letzten dreißig Jahre leidet unter denselben massiven Vereinfachungen. Es ist nicht zu bestreiten, dass viele Aspekte der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Transformation Russlands nach dem Zerfall der UdSSR keine Erfolgsgeschichten waren. Doch es gibt auch gesellschaftliche Bereiche, in denen sich in Russland sehr viel geändert hat. Die russische Gesellschaft hat, wie etwa Paneyakh (2018) überzeugend argumentiert, einen sehr starken Wertewandel erlebt, zumindest was die urbanen Zentren betrifft (die jedoch für einen erheblichen Teil der russischen Bevölkerung stehen – alleine in Moskau und St. Petersburg leben mehr als 10% aller Russ*innen). Gerade der Widerspruch zwischen dieser gesellschaftlichen Modernisierung und der archaischen politischen Herrschaft prägte die Entwicklung des Landes vor dem Jahr 2022.
Einige Passagen im Buch sind beinahe überraschend. Ein Beispiel dafür ist der folgende Satz, den man auf S. 29-30 findet und der zwar keine zentrale Rolle in der Argumentation der Autor*innen spielt, jedoch als Teil der Evidenz dient, die folgende These beweisen soll: Demnach sei der russische Staat – anders als die westlichen Staaten – schon immer von sogenannten extraktiven, und nicht von inklusiven Institutionen dominiert. Das Konzept der extraktiven und der inklusiven Institutionen geht auf die Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Daron Acemoglu und James Robinson zurück, die zwischen zwei Arten von gesellschaftlichen Regelwerken unterscheiden: Solchen, die die Rechte einer kleinen Gruppe in der Gesellschaft auf Kosten anderer Gruppen schützen (extraktive Institutionen) und solchen, die Rechte aller Individuen schützen und es allen erlauben, sich am wirtschaftlichen Geschehen zu beteiligen. Auch wenn man mit der These einverstanden sein sollte, dass in Russland historisch bedingt extraktive Institutionen heute eine größere Rolle als in den westlichen, primär durch inklusive Institutionen geprägten Gesellschaften spielen, kann das das zur Begründung angeführte Beispiel der Autor*innen nicht überzeugen. Sie behaupten nämlich, dass sich die Dominanz der extraktiven Institutionen in der russischen Geschichte am Unterschied zeige, wie Russland mit Sibirien und die westeuropäischen Staaten mit ihren Kolonien umgegangen seien: „Vernichteten oder dezimierten in Nordamerika die weißen Kolonialmächte und späteren Vereinigten Staaten die indigene Bevölkerung weitestgehend zur Besiedlung des neuen Raums, wurden in Russland Bevölkerungsgruppen aus unterschiedlichsten Ethnien politisch unterworfen oder in Machtstrukturen eingegliedert“ (29-30). Es ist völlig unklar, warum ausgerechnet dieser Tatbestand als Evidenz für die Dominanz der extraktiven Institutionen in Russland dienen soll. Zumal diese Beschreibung vernachlässigt, dass auch europäische Staaten in unterschiedlichen Kolonien unterschiedliche Ansätze verfolgten: So gab es auch in Afrika oder Asien mehrere Beispiele der Eingliederung der einheimischen ethnischen Gruppen in die Machtstrukturen der Kolonialreiche – würde dies aber bedeuten, dass Frankreich oder Großbritannien (etwa in Indien) ebenso als Beispiele für Gesellschaften mit extraktiven Institutionen gelten müssten?
Die Liste der historischen Vereinfachungen kann noch weitergeführt werden. Wie etwa kann der Konflikt an der russisch-chinesischen Grenze (1969) als Beispiel des russischen Imperialismus gesehen werden, wenn der Angreifer in diesem Fall das maoistische China war (65)? Wieso ist der Bürgerkrieg in Tadschikistan in den 1990er Jahren Ausdruck des russischen Imperialismus? Warum wird gar nicht erwähnt, dass sich Russland zumindest in den 2000er Jahren primär auf wirtschaftliche und nicht auf militärische Einflussinstrumente im postsowjetischen Eurasien fokussiert hat (das Konzept des „liberalen Imperiums“) und erst später zu militärischen Mittel überging?
Aber auch wenn man die Dominanz der extraktiven Institutionen in der russischen Geschichte anerkennen sollte, ergibt sich eine andere Frage: Warum unterstellen die Autor*innen eine beinahe vollkommene historische Determiniertheit der Entwicklung Russlands? Auch hier spiegelt das Buch eher die massiv vereinfachten Grand Narratives wider, die in der gegenwärtigen Forschungsliteratur nicht mehr akzeptiert werden. In der aktuellen Forschung zu historischen Legacies gilt es als selbstverständlich, dass man von der historischen Pfadabhängigkeit erst dann reden kann, wenn man präzise Mechanismen der Reproduktion der historischen Strukturen identifiziert, klar beschreibt und empirisch testet – nach diesen Mechanismen sucht man im Buch jedoch vergebens.
Auch die Darstellung der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Situation in Russland ist stark vereinfacht. Russland wird als extrem korruptes Land präsentiert (47), wobei nicht zwischen der (in der Tat sehr hohen) politischen Korruption und der viel niedrigeren Korruption in der Bürokratie unterschieden wird – was kein kleines Versäumnis ist, denn gerade die eigentlich gut funktionierende zivile Bürokratie ist ein wichtiger Faktor, der die Stabilität der russischen Wirtschaft unter dem Sanktionsdruck sicherstellt (Yakovlev 2022). Auch die Diskussion über die Zustimmung der russischen Bevölkerung zu dem aktuellen politischen Kurs der russischen Regierung ist erschreckend vereinfacht (60): Der Hinweis auf Befragungsdaten des Lewada-Zentrums und auf eine (!) experimentelle Befragungsstudie ignoriert eine mittlerweile gigantische Literatur, die viele Nuancen in der öffentlichen Meinung in Russland identifiziert und aus der sich kein imperialistischer Konsens, wie er von den Autor*innen impliziert wird, ablesen lässt. Dabei handelt es sich um große Befragungsprojekte (Chroniki, Russian Field oder Russian Election Study) oder qualitative Studien (etwa vom Public Sociology Laboratory), die im Buch nicht einmal erwähnt werden.
Das folgende Kapitel des Buches ist wesentlich besser gelungen und liefert eine deutlich differenziertere und komplexere Argumentationsstruktur. Die Analyse der Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von natürlichen Ressourcen ist sehr interessant und informativ und es kann kaum bestritten werden, dass die Ressourcenabhängigkeit und unterschiedliche Formen des politischen und wirtschaftlichen Resource Curse für die wirtschaftliche Rückständigkeit Russlands von entscheidender Bedeutung sind. Leider findet man auch in diesem Kapitel jedoch ganze Abschnitte, in denen die Argumentation erheblich simplifiziert wird und nicht dem gegenwärtigen Stand der Forschungsliteratur entspricht. Ein gutes Beispiel ist die Analyse der regionalen Integrationsstrukturen in Eurasien (Abschnitt 3.3). Erstens ist es unklar, inwieweit man eine planwirtschaftliche Institution wie den RGW mit marktwirtschaftlich organisierten GUS und EAWU überhaupt vergleichen kann. Zweitens ist es bemerkenswert, wie viele Aspekte der Diskussion innerhalb der Forschung in Bezug auf die EAWU (118) ausgelassen werden, die nicht in die Argumentation der Autor*innen passen. Es gibt freilich diejenigen, die die EAWU als ein primär politisches Projekt einstufen; doch gibt es auch alternative Positionen, die die wirtschaftlichen Vorteile der EAWU betonen (Vinokurov 2018, Libman/Vinokurov 2024). Die EAWU wird in der Literatur sowohl als Instrument der russischen Macht als auch als eine Einschränkung der russischen Dominanz durch institutionell verfestigte Entscheidungsregeln interpretiert (Libman/Vinokurov 2018). Doch von dieser Vielfalt der Argumente findet man im Buch keine Spur – stattdessen wird ausschließlich über die „russische Übermacht“ geredet.
Das letzte inhaltliche Kapitel des Buches, das der Analyse der Sanktionen gewidmet ist, ist auch das mit Abstand interessanteste und am besten gelungene Kapitel. Die Autor*innen geben zurecht zu, dass die Wirksamkeit der Sanktionen komplex und unvorhersehbar ist und weisen auf unterschiedliche Aspekte dieser Problematik hin. Auch die Bedeutung der Kriegswirtschaft als essenziellen Faktor für die Robustheit der russischen Wirtschaft ist kaum zu bestreiten. Es wird überzeugend sowohl auf die Probleme als auch auf die Wirkungsmechanismen des bestehenden Sanktionsregimes hingewiesen. Zudem muss die hervorragende empirische Recherche hervorgehoben werden. Die Dominanz des Grand Narratives aus den vorherigen Kapiteln hinterlässt jedoch auch in diesem – ansonsten hervorragenden – Kapitel sichtbare Spuren. Auch wenn der Kriegskeynesianismus natürlich eine entscheidende Rolle für das gegenwärtige Wachstum der russischen Wirtschaft spielt (die russische Volkswirtschaft wuchs laut dem staatlichen Statistikdienst Rosstat 2023 um 3,6 Prozent, wobei man diesen Zahlen nur eingeschränkt vertrauen sollte), gibt es auch andere Faktoren, die in dem Buch nicht vorkommen. Russland ist heute (anders als die UdSSR) eine Marktwirtschaft, daher darf nicht vernachlässigt werden, dass die Anpassung an den Sanktionsdruck zumindest zum Teil auf spontane marktwirtschaftliche Prozesse und die unternehmerische „schöpferischen Zerstörung“ zurückzuführen ist. Russische Unternehmen sind an Krisen und Katastrophen in den letzten dreißig Jahren durchaus gewöhnt, was ihre Anpassungsfähigkeit stärkt. Die marktwirtschaftliche Anpassung der russischen Wirtschaft scheint jedoch nicht in die allgemeine Story einer jahrhundertelang staatsgelenkten imperialistischen Wirtschaft zu passen – und wird daher gar nicht erwähnt.
Die Dominanz des einheitlichen Narrativs im Buch lässt sich sogar in den benutzten Sprachmitteln erkennen. Auf Seite 99 weisen die Autor*innen zum Beispiel darauf hin, dass Russland das Problem mit der Herstellung von Pipelinerohren, das die UdSSR hatte (und das die Grundlage der sogenannten Röhren-Erdgas-Geschäfte in den 1970er Jahren war), heute gelöst habe. Und tatsächlich ist Russland trotz technologischer Abhängigkeit inzwischen sehr gut in der Lage, eigene Pipelines herzustellen; die Rohre für Nord Stream 2 wurden etwa zu einem bedeutenden Teil in Russland produziert (Kruse 2019). Vor diesem Hintergrund ist die Ausdrucksweise der Autor*innen jedoch bezeichnend. So heißt es: „Die Abhängigkeit beim Pipeline-Bau scheint sich zumindest aktuell ein wenig gewandelt zu haben.“ Warum sollte die Abhängigkeit nur „ein wenig“ anders aussehen als früher? Wollen die Autor*innen damit behaupten, dass Russland doch keine Pipelines selbständig bauen kann? Wenn das der Fall wäre, dann würde es den auf den zitierten Satz folgenden Überlegungen der Autor*innen selbst widersprechen. Oder geht es bei der Formulierung lediglich darum, nochmals zu betonen, wie technologische rückständig Russland ist? Die russische Abhängigkeit von technologischen Importen ist unumstritten, doch genau der Pipeline-Bau scheint kein gutes Beispiel dafür zu sein.
Dass die Zukunft Russlands unter dem Regime Putin alles andere als erfreulich ist, ist unbestritten: Ob es an internationalen Sanktionen liegt oder (wie der Verfasser dieser Rezension eher behaupten würde) an dem durch die Umverteilungskämpfe und Fehlentscheidungen durch das Regime selbst verursachten Schaden (Libman 2024), die wirtschaftliche Kluft zwischen Russland und den westlichen Staaten wird in der Zukunft immer größer werden. Es ist ebenso nicht zu bestreiten, dass die russische Wirtschaft in der kurzen (und sogar in der mittleren) Frist wirtschaftlich funktionsfähig und stabil sein wird, was die Autor*innen in ihren Schlussfolgerungen ebenfalls so prognostizieren. Hinter diesen Einschätzungen stehen jedoch komplexe Zusammenhänge, die sich nicht in eine simple Story von Peter dem Großen bis hin zu Putin komprimieren lassen. Die Wissenschaftler*innen sind (anders als Journalist*innen) in der Pflicht, auf die Komplexität der von ihnen untersuchten Phänomene hinzuweisen. Das Buch versucht dies phasenweise (insbesondere bei der Diskussion der Sanktionen im Kapitel 4), liefert teilweise aber ein unglaublich simples und in vielerlei Hinsicht unpräzises Grand Narrative, das keine bereichernde Lektüre darstellt. Hätten die Autor*innen entsprechende Fragmente (insbesondere Kapitel 2) komplett ausgelassen, wäre ein besseres Buch herausgekommen.
Demokratie und Frieden