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Rezension / 25.07.2024

Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (Hg.): Rassismusforschung I. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven

Bielefeld, Transcript Verlag 2023

Der vorliegende Sammelband ist der erste einer Reihe von drei Bänden, die Stand und Bandbreite der Rassismus- und Migrationsforschung abbilden möchten, und befasst sich mit theoretisch-historischen Grundlagen und methodischen Fragen der Rassismusforschung. Herausgegeben vom Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa) behandeln die Beiträge sowohl die Kontextbedingen der deutschen und internationalen Rassismusforschung als auch ihre theoretischen und methodischen Aspekte. Rezensent Thomas Mirbach lobt den Band, weil das Thema Rassismusforschung in der deutschen Forschungslandschaft bislang keinen angemessenen Ausdruck gefunden habe. 

Eine Rezension von Thomas Mirbach

Im März 2020 hatte die damalige Bundesregierung den Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingerichtet, um damit „den Kampf gegen Rechtsextremismus sowie gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus, Muslimfeindlichkeit, Anti-Schwarzen Rassismus und alle anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf die höchste Verantwortungsebene“ zu heben (Presseamt 2020: 1). Zu den vorgeschlagenen, dem Volumen und der Reichweite nach sehr unterschiedlich ausgelegten 89 Maßnahmen gehört die „dauerhafte Förderung eines Rassismus- und Antidiskriminierungsmonitors mit perspektivischer Überführung in die institutionelle Förderung des DeZIM-Instituts“ (Presseamt 2020: 7).


Mit der Ansiedlung des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa) am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), soll die Rassismusforschung in Deutschland institutionell verankert und eine Struktur geschaffen werden, die von anderen Organisationen und Institutionen aus Wissenschaft und Praxis genutzt werden kann (vgl. BMI 2021). Im Rahmen des Aufbaus des NaDiRa sind zahlreiche fachliche Expertisen erstellt worden, die Stand und Bandbreite der Rassismus- und Migrationsforschung abbilden und im Zuge der Sammelbände Rassismusforschung I-III veröffentlicht werden. Der vorliegende erste Band befasst sich mit theoretisch-historischen Grundlagen und methodischen Fragen der Rassismusforschung; im Herbst 2024 ist mit der Publikation der beiden Folgebände Rassismusforschung II (Rassismen, Communitys und antirassistische Bewegungen) und Rassismusforschung III (Rassismus in Strukturen und Praxisfeldern) zu rechnen. Alle drei Bände werden vom transcript Verlag als Open Access-Veröffentlichungen zur Verfügung gestellt.

Intention und Aufbau des vorliegenden Bandes werden einleitend von Cihan Sinanoğlu, Leiter der Geschäftsstelle des NaDiRa, und Serpil Polat, Referentin für Outreach und Transfer am DeZIM, vorgestellt. Diese Einleitung wird von ihnen auch dafür genutzt, Grundsätze für die interdisziplinäre Weiterentwicklung einer deutschen Rassismusforschung zu formulieren (12). Das Feld der Rassismusforschung in Deutschland sei durch viele offene Fragen und institutionelle Leerstellen gekennzeichnet. Das betreffe nicht nur das in der Bezeichnung zu signalisierende Selbstverständnis („Rassismusforschung“, „rassismuskritische Forschung“, „Antirassismusforschung“?), sondern ebenso die Art des für erforderlich gehaltenen Wissens über Rassismus: „Wie kritisch, reflexiv, politisch und/oder interdisziplinär muss oder kann Rassismusforschung in Deutschland sein?“ (8).

Nicht zuletzt aufgrund einschlägiger Initiativen aus dem zivilgesellschaftlichen Raum könne hierzulande eine zunehmende Bereitschaft beobachtet werden, über Rassismus auch kritisch zu sprechen (vgl. DeZIM 2022), aber in der bestehenden Forschungslandschaft finde das noch keinen angemessenen Ausdruck. Gerade bei einem Vergleich mit der internationalen Forschungsinfrastruktur – besonders in Großbritannien, den USA oder in Kanada – falle auf, dass die Forschung zu Rassismus in Deutschland nur marginal institutionalisiert sei. „Es existieren in Deutschland keine dezidiert rassismusbezogenen Forschungs- und Lehreinrichtungen, es gibt keinen Lehrstuhl und keine Professuren für Rassismusforschung, keine entsprechenden Forschungszentren oder Sonderforschungsbereiche und auch keine entsprechenden Graduiertenkollegs oder Studiengänge“ (9). Wenn Rassismus als Forschungsgegenstand behandelt werde, dann aus der Perspektive diverser Einzeldisziplinen wie Erziehungswissenschaft, Migrations- oder Ungleichheitsforschung, dabei überwiege vielfach die Perspektive derjenigen, „die negativ von Rassismus betroffen sind“ (8).

Dieser fragmentierte Charakter verweist nicht nur auf themenbezogene Lücken. Universitäten und anerkannte Forschungseinrichtungen gelten gemeinhin als gesellschaftlich anerkannte Institutionen legitimer Wahrheitsproduktion. Folgt man Überlegungen der Wissenschaftssoziologin Carolin Amlinger, dann ist diese Wahrheitsproduktion ein performatives Geschehen, das – wenn auch ergebnisoffen – in festgelegten Situationen und homogenisierten Routinen stattfindet. Diese institutionalisierten Praxisformen ermöglichten Schließungseffekte und machten diese Wahrheitsproduktion „relativ resilient gegenüber öffentlichkeitsinduzierten Theoriekrisen“ (Amlinger 2023, 85), zu denen sich – wie wir ergänzen können – die Forderung nach einer rassismuskritischen Forschung zählen lässt (vgl. Mecheril 2022). Mit Blick auf faktische Machteffekte der Forschung und angesichts der Unterrepräsentation von Wissenschaftler*innen of Color an deutschen Forschungs- und Lehreinrichtungen wäre also die Frage zu stellen: „Wer kann und darf forschen und wessen Wissen wird als Expertise anerkannt?“ (9). Sinanoğlu und Polat betonen deshalb, es bedürfe „innovativer Kooperationen mit außeruniversitären, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, Community-Organisationen und Repräsentant*innen, die von Rassismus betroffen sind und selbst Wissen über Rassismus generieren und veröffentlichen“ (19). Sie schreiben in diesem Zusammenhang dem Wissensnetzwerk Rassismusforschung (www.winra.org), einem im Rahmen der BMBF-Förderrichtlinie „Aktuelle und historische Dynamiken von Rechtsextremismus und Rassismus“ geförderten Verbundprojekt, die Aufgabe zu, durch forschungsgeleiteten, interdisziplinären Austausch die verstreute und fragmentierte Rassismusforschung in Deutschland strategisch miteinander zu vernetzen (10 f.). In diesem Sinne lässt sich auch die Mitwirkung am vorliegenden Sammelband als Ausdruck einer derartigen Kooperation lesen: Von den 18 Autor*innen arbeitet laut Verlagsangaben die Mehrheit (11) bisher überwiegend am Rande des etablierten akademischen Feldes.

Die zehn inhaltlichen Beiträge können grob zwei Themenfeldern zugeordnet werden. Vier Beiträge setzen sich eher mit Kontextbedingungen teils der deutschen, teils der internationalen Rassismusforschung auseinander. Kritisch arbeitet Maria Alexopoulou die Leerstelle heraus, die die Auseinandersetzung mit Rassismus in der deutschen Zeitgeschichte kennzeichnet. Am Beispiel der Lebenswissenschaften zeigen Tien Nguyen und Francesca Puhlmann, in welcher Weise auch in aktuellen Publikationen immer noch sozialdarwinistische und rassistische Annahmen mitgeführt werden. Houssam Hamade und Christoph Sorg diskutieren an den Beispielen von Black Marxism, Kritischer Theorie und Postcolonial Studies mögliche Interdependenzen zwischen Kapitalismus und Rassismus. Unterschiedliche empirische Befunde diskutiert Iyiola Solanke mit einem Vergleich von Antidiskriminierungspolitiken in verschiedenen europäischen und OECD-Staaten.

Das zweite Themenfeld mit sechs Beiträgen behandelt theoretische und methodische Aspekte der Rassismusforschung. Zwei zentrale Konzepte der US-amerikanischen Rassismusforschung – die systemic racism theory und die racial formation theory – diskutieren und vergleichen Andrea Bellu, Matei Bellu und Vassilis Tsianos. Mit Bezug auf Schwarze feministische Theorie, Critical Race Theory und Arbeiten der Rechtstheoretikerin Kimberlé Williams Crenshaw erläutert Matti Traußneck die Genese des intersektionalen Analyseansatzes. Auf Basis der jeweils verwendeten Messinstrumente beschreiben Hayfat Hamidou-Schmidt und Jonas Elis unterschiedliche Ansätze der US-amerikanischen Forschung zur quantitativen Erhebung rassistischer Einstellungen. Unter theoretischen wie politisch-praktischen Bezügen arbeitet Çiğdem Inan die Bedeutung von Affekten und affektheoretischen Perspektiven für die Rassismusforschung heraus. Lisa B. Spanierman und D Anthony Clark stellen den in den USA und in Kanada entwickelten Ansatz der racial microaggressions vor und skizzieren Transfermöglichkeiten in den deutschen Forschungskontext. Eric Otieno Sumba gibt aus einer dekolonialen Perspektive und primär mit Blick auf den englischsprachigen Raum einen Überblick über Genese und Leerstellen wichtiger theoretischer und methodologischer Konzepte zu Rassismus in diversen Publikationen der Internationalen Beziehungen und ihrer Nachbardisziplinen.

Aufs Ganze gesehen sind die Beiträge des Sammelbandes mit ihrem gewollten „Nebeneinander unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Bezüge, paradigmatischer Entscheidungen und unterschiedlicher sprachlicher Handhabungen“ (18) Ausdruck der Suche nach dem disziplinären Selbstverständnis einer Rassismusforschung, die sich um Anerkennung und Artikulation der von Diskriminierung betroffenen Stimmen, Erlebnisse und Erfahrungen bemüht (Mietke u. a. 2023). Bei diesem Prozess, der dem zentralen Prinzip der Offenheit verpflichtet ist, wird allerdings die Differenz zwischen Wissenschaft und aktivistischer Praxis immer wieder begründet auszuhandeln sein (vgl. Villa/Speck 2020).


Literatur:

  • Amlinger, Carolin (2023): Wahrheit, theoretisch erzeugt. In: Behemoth. A Journal on Social Dis/Order. Jg. 16, Heft 2, S. 84 – 96.
  • Bundesministerium des Inneren und für Heimat (2021): Abschlussbericht des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Berlin.
  • Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (2022): Rassistische Realitäten: Wie setzt sich Deutschland mit Rassismus auseinander? Auftaktstudie zum Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), Berlin.
  • Mecheril, Paul (2022): Begehren, Familienähnlichkeiten, postpositivistische Analyse - von Rassismusforschung zu rassismuskritischer Forschung. In: Rat für Migration e.V. (2022)¸ Rassismus als Praxis der langen Dauer. Welche Rassismusforschung braucht Deutschland – und wozu? Berlin, S: 33 – 40.
  • Mietke, Hannah / Wetering, Denis van de / Sellenriek, Juliane / Thießen, Ann-Kathrin / Zick, Andreas (2023): Wie kann eine kritische Rechtsextremismus- und Diskriminierungsforschung aussehen? Reflexionen hegemonialer Positionierungen. Berlin NaDiRa Working Papers 08.
    Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (Hg.) (2023): Rassismusforschung I. Theoretische und interdisziplinäre Perspektiven. Bielefeld transcript Verlag.
  • Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2020): Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus. Berlin.
  • Villa, Paula-Irene/ Speck, Sarah (2020): Das Unbehagen mit den Gender Studies. Ein Gespräch zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik. In: Open Gender Journal (doi: 10.17169/ogj.2020.141).


DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.11
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Weiterführende Links

Nationaler Diskriminierungs- und Rassismusmonitor

Der NaDiRa untersucht Ursachen, Ausmaß und Folgen von Rassismus in Deutschland.