Skip to main content
Sammelrezension / 03.06.2022

Probleme in demokratischen Systemen. Ursachen für ihre Transformation in Autokratien

Foto: Ri Butov, Pixabay

In seiner Doppelrezension bespricht Max Lüggert mit „After Democracy“ von Zizi Papacharissi und „Popular Dictatorships“ von Aleksandar Matovski zwei Bücher, die sich mit der Demokratie und ihren Herausforderungen beschäftigen. „After Democracy“ komprimiert persönliche Gespräche, die Papacharissi in verschiedenen Ländern mit Menschen zum Thema Demokratie und Staatsbürgerschaft geführt hat, in einem Buch. „Popular Dictatorships“ befasst sich mit der Transformation von Demokratien zu autokratischen Systemen und den Gründen für die innere Stabilität solcher „Wahlautokratien“. 

Die politischen Verhältnisse in Gesamtdeutschland sind seit etwas mehr als drei Jahrzehnten demokratisch geordnet, nachdem die ehemalige Deutsche Demokratische Republik 1990 der Bundesrepublik beitrat. Seitdem ist in der Verfassung – genauer gesagt in Artikel 20 des Grundgesetzes – festgehalten, dass die gesamte „Bundesrepublik Deutschland […] ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“ ist. Dieser konstitutionelle Anspruch entspricht bei allen Unwägbarkeiten und Makeln grundsätzlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit und derzeit besteht keine politische oder soziale Bewegung, die ernsthafte Erfolgschancen hätte, diese Ordnung dauerhaft durch eine andere zu ersetzen.

Dass all dies nicht als selbstverständlich betrachtet werden sollte, ist in der öffentlichen Debatte ein Allgemeinplatz und ein Blick in andere Teile der Welt zeigt, dass ein Großteil der Menschen auf diesem Planeten nicht in demokratischen Verhältnissen lebt. Diese Feststellung beinhaltet auch einen gewissen moralischen Subtext, der die Demokratie grundsätzlich als ein positives, wünschenswertes und somit beschützenswertes System betrachtet. Um diese Sichtweise zu schärfen, schadet es allerdings nicht, sie herauszufordern. So kann man sich fragen, ob Demokratien derzeit ihrem Potenzial gerecht werden und ob es sogar Konstellationen gibt, in denen die Menschen in einem Land bewusst Abstand von ihr nehmen und autoritärere politische Systeme präferieren. Zwei Bücher stellen genau diese Fragen und fordern somit zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der Demokratie heraus.

Zunächst soll hier auf „After Democracy“ von Zizi Papacharissi eingegangen werden. Das Buch komprimiert persönliche Gespräche, die die Autorin in verschiedenen Ländern geführt hat. Dabei hat sie in bewusst alltäglichen Situationen und nicht im Kontext einer methodisch reglementierten Befragung mit rund hundert Personen gesprochen. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen diesen Gesprächen war, dass die Autorin stets folgende drei Fragen stellte: Was ist Demokratie? Was ist Staatsbürgerschaft? Wodurch könnte Demokratie besser werden?

Die Fragen von Papacharissi ergaben sich aus ihrer Einsicht, dass Demokratie unter Umständen nicht der Höhe- und Endpunkt politisch-gesellschaftlicher Entwicklung sei, sondern nur ein Zwischenschritt zu einem noch besseren System. Begründet wird dies durchaus schlüssig damit, dass sich Demokratie ursprünglich als System zur Regierung kleiner städtischer Gesellschaften entwickelt habe. Vor diesem Hintergrund werde deutlich, dass die Demokratie ein unvollkommenes System ist, das sich fortlaufend weiterentwickelt.

Die Autorin schildert, dass sie von den Menschen als Antwort auf die Frage, was Demokratie und Staatsbürgerschaft ausmache, zunächst vor allem allgemeine Definitionen erhalten habe. Es gehe demnach darum, dass man in Freiheit und Gleichheit leben könne, dass man eine Stimme habe, um sich in politische Prozesse einzubringen und dass von politisch aktiven Menschen erwartet werde, dass ein gewisses Maß an Bildung über öffentliche Angelegenheiten mitzubringen.

Papacharissi zielt mit Nachfragen jedoch auf Einschätzungen, die weniger oberflächlich sind und tatsächlich ergibt sich hier ein anderes Meinungsbild: Unabhängig von Nationalität, sozioökonomischem Status und anderen Merkmalen sind fast alle Befragten der Ansicht, dass es Probleme mit der Demokratie gebe. Sie üben Kritik an den politischen Entscheidungsträgern und monieren, dass sich diese zu wenig für die Belange der Allgemeinheit interessierten und versuchen würden, durch populistische Instrumente Unterstützung zu mobilisieren, ohne sich dabei inhaltlich festzulegen. Die Befragten sparen laut Papacharissi allerdings auch nicht mit Selbstkritik. So würden viele den Anspruch formulieren, dass sich gute Bürger*innen aktiv in gesellschaftliche Angelegenheiten einbringen sollten. Vielen erscheine dies in der Praxis allerdings kaum möglich: So erklären einige Befragte, dass sie aufgrund beruflicher oder anderer Verpflichtungen keine Zeit dafür aufbringen könnten und andere erzählen, dass sie aufgrund ihrer Erfahrungen mit Politik apathisch oder gar zynisch geworden seien.

Dies mündet auch in eine kritische Betrachtung der Beeinflussung moderner Gesellschaften durch Medien und Technologien. So stellt Papacharissi fest, dass Journalismus zunehmend dazu tendiere, oberflächliche Affekte zu bedienen. Es gehe weniger darum die Wahrheit zu suchen als Geschichten zu erzählen. Dies sei auch den zunehmenden wirtschaftlichen Sachzwängen der Medienbranche geschuldet. Diese inhaltliche Verflachung werde durch die sozialen Medien nochmals reproduziert und verstärkt. In Summe führe dies zu kommunikativen Prozessen, die durch eine hohe Intensität gekennzeichnet seien, allerdings kaum zu tatsächlichen Veränderungen führten. Dies sei ein „Albtraum für die Bürger“ (127), wie die Autorin feststellt. Da sie davon ausgehe, dass Demokratie in ihrer jetzigen Form noch nicht einen optimalen, endgültigen Status erreicht habe, stelle sich die Frage, wo man mit Verbesserungen ansetzen könne. Hier artikuliert die Autorin den relevanten Gedanken, dass sich Freiheit und Gleichheit – zwei Grundpfeiler demokratischer Ordnungen – nicht immer widerspruchsfrei miteinander vereinbaren ließen.

Dies werde auch darin sichtbar, dass die Demokratie als Ordnungsprinzip der Politik nicht uneingeschränkt mit Kapitalismus als Ordnungsprinzip der Wirtschaft kompatibel sei. Dieses Spannungsverhältnis wird jedoch mit Blick auf mögliche Verbesserungen nicht wirklich weitergedacht. So schlägt die Autorin vor, die negativen Auswirkungen kapitalistischer Krisen für die Allgemeinheit einzuschränken, demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten auf lokaler Ebene zu stärken und von wiederkehrenden Zyklen von Wahlkämpfen zu lösen. Konkrete Maßnahmen, um diese Ziele zu erreichen, werden jedoch nicht im Detail ausbuchstabiert.

„After Democracy“ bleibt somit in erster Linie eine interessante Näherung an das Thema Demokratie aus einer nicht-akademischen Perspektive und bietet ein Kaleidoskop unterschiedlicher Ansichten, Erfahrungen und Überzeugungen. Herausgekommen ist so – unabhängig von der methodischen Vorgehensweise – ein inspirierendes Buch.

Einen Weg, den verschiedene Demokratien seit Beginn der 2000er-Jahre eingeschlagen haben, ist die Entwicklung zu eher autoritären Systemen. Diesen politischen Systemen widmet sich Aleksandar Matovski ausführlich in seinem Buch „Popular Dictatorships“. Er zeigt auf, wie sich die von ihm so bezeichneten „Wahlautokratien“ entwickeln und wie sie ihre Form beibehalten.

Matovskis zentrales Argument lautet dabei, dass sich die Stabilität solcher Wahlautokratien aus einer tatsächlich vorhandenen, breiten Unterstützung in der jeweiligen Bevölkerung ergebe. Hierbei verweist er auf einen Klassiker der politischen Theorie: Schon Thomas Hobbes sei in seinem „Leviathan“ davon ausgegangen, dass Menschen bereit seien, auf Freiheiten zu verzichten, wenn sie im Gegenzug dafür Stabilität und Sicherheit erlangten. Darauf aufbauend schildert Matovski, dass die Präsenz tiefgreifender Krisen die Entstehung von Wahlautokratien erleichterte. Die Leistung demokratischer Systeme werde in solchen Situationen als unzureichend eingeschätzt. Im Kontrast dazu stehe die Hinwendung zu einem autokratischen System für die Hoffnung auf stabilere Verhältnisse unter einer klaren Führung. Sobald sich auf diesem Wege eine Wahlautokratie eingestellt habe, ergebe sich daraus auch eine gewisse innere Stabilität. Denn alle, die sich gegen autoritäre Verhältnisse positionieren möchten, müssten sich festlegen, ob sie die gewonnene Stabilität aufgeben möchten und falls ja, wer stattdessen die politische Führung übernehmen solle.

In der politischen Kommunikation von Wahlautokratien fänden sich laut Matovski drei vorherrschende Frames: die Sammlung um eine starke Führungspersönlichkeit, die Verächtlichmachung von politischen Gegnern und Appelle an den Bedeutungsgehalt von Demokratie und Mehrheiten. Letzteres erscheine zunächst nicht intuitiv, ergebe sich jedoch aus der besonderen Struktur von Wahlautokratien, insbesondere im Kontrast zu strikten Diktaturen oder Militärregimes. Matovski betont, dass es in Wahlautokratien einen realen, aber unfairen politischen Wettbewerb gebe. Daraus folgt, dass die politische Führung von Wahlautokratien darauf verweisen könne, dass sie durch die Bevölkerung bestätigt sei und anderen Alternativen vorgezogen werde.

Den Hauptteil seiner Studie widmet Matovski einer Darstellung der Situation in Russland. In vielerlei Hinsicht seien hier die Vorbedingungen für eine Wahlautokratie nahezu perfekt vorhanden gewesen: ein tiefgreifendes nationales Trauma durch den Zerfall der Sowjetunion gefolgt von politischem Chaos und wirtschaftlicher Ungleichheit in der Ära Boris Jelzin. Mit der Machtübernahme durch Wladimir Putin habe sich rasch eine Wahlautokratie herausgebildet. Putin habe durch autoritäre Führung Politik und Wirtschaft straff nach seinen Vorstellungen auf Linie gebracht und werde seitdem als „Belohnung“ für diese Stabilisierung fortlaufend im Amt bestätigt. Diese Entwicklung habe jedoch eine Kehrseite, die Matovski ebenfalls schildert. Dies liege in der Tendenz von Wahlautokratien, Krisen selbst zu fabrizieren, um die Rahmenbedingungen für den Fortbestand dieser Systeme zu verbessern.

An dieser Stelle hat die Realität Matovskis Erkenntnisse bestätigt. Der seit dem 24. Februar 2022 vorgetragene russische Überfall auf die Ukraine hat eine Vielzahl an Ursachen, allerdings ist die stabilisierende Wirkung auf das Regime um Putin bis jetzt nicht von der Hand zu weisen. Umfragen zufolge wird der Krieg in der russischen Bevölkerung weitgehend unterstützt und bis auf vereinzelte Proteste ist keine Massenerhebung gegen Wladimir Putin absehbar. Dies ist natürlich auch der totalen Kontrolle über die russischen Medien geschuldet, ändert im Ergebnis allerdings wenig. Im Umkehrschluss hat das Regime um Putin aufgrund der zunehmenden internationalen Isolation nun mehr Argumente in der Hand, um die russische Bevölkerung auf den eigenen Kurs einzustimmen. Matovski schließt sein Buch mit der Feststellung, dass Wahlautokratien noch auf absehbare Zeit bestehen werden und somit natürlich auch eine Herausforderung für demokratische Systeme darstellen. Was dies konkret für Menschen bedeuten kann, lässt sich derzeit nur zwei Flugstunden von Deutschland entfernt in der Ukraine beobachten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Bücher von Papacharissi und Matovski eine Auseinandersetzung mit den Unzulänglichkeiten der Demokratie ermöglichen. Angesichts der Bedrohungen, die sich aus autoritären Tendenzen derzeit ergeben, sind diese Erkenntnisse für den Einsatz für die Demokratie umso wichtiger. Schließlich gilt es, das demokratische System so auszugestalten, dass es seinen Versprechungen gerecht werden kann.

 

CC-BY-NC-SA
Neueste Beiträge aus
Demokratie und Frieden

Bibliografische Angaben

Zizi Papacharissi

After Democracy. Imagining Our Political Future

Yale University Press 2021
 

 

Aleksandar Matovski

Popular Dictatorships. Crises, Mass Opinion, and the Rise of Electoral Authoritarianism

Cambridge University Press 2021
 

 

Mehr zum Thema

Rezension / Eileen Böhringer / 27.07.2022

Rosalind Dixon / David Landau: Abusive Constitutional Borrowing: Legal Globalization and the Subversion of Liberal Democracy

Grundrechte finden sich in nahezu allen Verfassungen. Auch in antiliberalen Staaten. Rosalind Dixon und David Landau erklären dies mit dem Phänomen „abusive constitutional borrowing“: Die Aneignung von demokratischen Institutionen und Ideen als Inspirations- und Legitimationsquelle ermögliche Antiliberalen und Autokraten, eigene Ziele zu erreichen. Im Zusammenspiel von Fallbeispielen sowie präzisen Typologisierungen gelingt beiden, so Eileen Böhringer, ein Grundlagenwerk für Rechts- und Politikwissenschaftler*innen im Bereich demokratischer Regression und Autoritarisierung.

 

Sammelrezension / Joachim Krause / 07.10.2019

Die Krise der westlichen Demokratien. Erscheinungsformen und Ursachen

Westliche Demokratien befinden sich heute in einer Krise, die Erinnerungen an die Zwanziger- und Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts weckt. Knapp drei Jahrzehnte nach dem Sieg der westlichen Demokratien im Systemkonflikt mit den sozialistischen Volksdemokratien ist diese Entwicklung verstörend, schreibt Joachim Krause. Das Thema wurde erst langsam in der Politik wahrgenommen; mittlerweile ist es Gegenstand einer Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, von denen in dieser Sammelrezension vier Bücher näher vorgesellt werden.
 

 

Rezension / Tamara Ehs / 14.01.2020

Stephan Lessenich: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem

Auf nur wenigen Seiten räumt Stephan Lessenich mit der Klage über die Krise der Demokratie gründlich auf und bietet eine Gegenerzählung zu der verbreiteten Mystifizierung der „guten alten Zeit“. Richteten wir den Blick nämlich auf jene, die in den fetten Jahren eine demokratische Schattenexistenz führten – Frauen, Migranten, Nichterwerbstätige – müssten wir uns eingestehen: Wir sind nie so demokratisch gewesen. Lessenich ordnet den Kampf um die Demokratie in vier Arenen: Klassen, gesellschaftlicher Status (nach Geschlecht, Bildung, Alter), Staatsbürgerschaft sowie Natur/Umwelt.

  

Rezension / Thomas Mirbach / 20.08.2020

Philip Manow: (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Populismus als Indikator

Der gegenwärtige Populismus sei durch die widersprüchliche Gleichzeitigkeit von zwei Entwicklungen geprägt, die Philip Manow als Demokratisierung und Entdemokratisierung der Demokratie bezeichnet. Zu beobachten sei eine Krise der Repräsentation, nicht aber der Demokratie. Erstere sei eine Konsequenz der Ausweitung politischer Partizipationschancen, weshalb die Demokratie zwar „demokratischer“ geworden sei. Die Krise der Repräsentation transformiere aber den Streit in der Demokratie zu einem über die Demokratie. So würden „Dynamiken der ‚Feindschaft’“ freigesetzt und der Gleichheitsanspruch der Demokratie als zentrale Prämisse des friedlichen politischen Konflikts untergraben. Populisten seien Folge und nicht Ursache des Problems der repräsentativen Demokratie.

 

Mehr zum Themenfeld Autokratie vs. Demokratie: Das Wiederaufkommen der Systemkonkurrenz