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Rezension / 01.11.2023

Raymond Geuss: Über die Arbeit. Ein Essay

Hamburg, Hamburger Edition 2023

Die Arbeitswelt ist im Zuge der Digitalisierung einem epochalen Wandel unterworfen. Der Philosoph Raymond Geuss hat sich nun, wie unser Rezensent Thomas Mirbach herausstellt, grundlegend mit dem Begriff der Arbeit auseinandergesetzt: Angereichert mit biographischen Einschüben gehe Geuss insbesondere der Frage nach, was unser Verständnis gesellschaftlicher Arbeit – und ihrer Kritik – bisher ausgemacht hat und zeige nicht zuletzt auf, auf welche derzeitigen problematischen Entwicklungen die Arbeitswelt zukünftig sensibilisiert werden müsse.

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„A Philosopher looks at work“ – so lautet der Titel der englischen Erstveröffentlichung des Essays von Raymond Geuss. Damit ist indes keine akademische Perspektive im engeren Sinne verbunden; die etablierte Philosophie habe sich in jüngster Zeit, so Geuss, so gut wie gar nicht mit dem Thema Arbeit befasst – und dies vermutlich aus politischen Gründen (9). Substantielle Auseinandersetzungen mit dem Phänomen Arbeit seien nach wie vor bei – überwiegend sozialistischen – Denkerinnen und Denkern des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden; in seinen Lektüreempfehlungen zählt Geuss Émile Durkheim, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx, Adam Smith und Max Weber zu den unverzichtbaren Klassikern (197 ff.). Der Blick auf Arbeit, der dem vorliegenden Essay zugrunde liegt, ist darauf gerichtet, „eine Momentaufnahme aus derjenigen Arbeitswelt [zu liefern], die gerade vor unseren Augen mit bemerkenswerter Geschwindigkeit untergeht“ (11). Im Verlauf des seit den 1970er-Jahren stattfindenden sozioökonomischen Strukturwandels hat die bis dahin prägende Arbeitsauffassung an Geltung verloren, derzufolge die Mehrheit der Bevölkerung ihr erwachsenes Leben mit einer zumeist anstrengenden Tätigkeit – in der Regel industrieller Fabrikarbeit – verbringt. In dieser historischen Wahrnehmung spiegelt sich auch die Familienbiografie des Autors. Sein Vater war in einem Stahlwerk in Pennsylvania beschäftigt, das nach der Blütezeit in den 1960er-Jahren Ende der 1980er-Jahre den Standort aufgab und alle Arbeiterinnen und Arbeiter entließ. Während seines Studiums hat Geuss als studentische Aushilfskraft in den Semesterferien den typischen Ablauf industrieller Arbeit kennengelernt. Vor diesem Hintergrund ist der Essay auch von dem Wunsch motiviert, Rechenschaft über dieses Kapitel der eigenen Lebensgeschichte abzulegen (8).

In drei Kapiteln stellt Geuss wichtige Dimensionen eines Verständnisses von Arbeit vor, das bisher die Lebenswelt der meisten prägte, im vierten Kapitel setzt er sich mit Fragen der Zukunft der Arbeit auseinander. Als erste Annäherung erfolgt – vielfach mit Bezug auf die Arbeit seines Vaters im Stahlwerk – eine phänomenologische Auffächerung der Bedeutung dieser Art von Aktivität (15 ff.). Sechs Merkmale sind es, die Geuss zufolge die gebräuchliche Konzeption von Arbeit umschreiben. Arbeit erfordere (physische/mentale) Anstrengung, sie werde als Lebensnotwendigkeit erlebt, erzeuge eine objektiv wahrnehmbare Leistung (Produkte/Dienstleistungen), vollziehe sich in der Regel an dafür ausgewiesenen Orten (Werkhalle/Büro). Als Inbegriff ernsthaften Tuns werde sie von nicht zweckgerichteten Aktivitäten (wie Spielen) unterschieden und erfolge typisch gegen Entgelt. Keines dieser tätigkeitsbezogenen Merkmale sei allein hinreichend für eine Definition, weil Arbeit als soziale Kategorie immer gesellschaftlich organisiert ist. Auf diese Zusammenhänge geht in knapper Form das zweite Kapitel ein (51 ff.), dabei seien zwei Aspekte herausgegriffen: Moderne Arbeit ist Geuss zufolge in der Regel Berufstätigkeit, sie wird in einer hierarchischen sozialen Struktur vollzogen, die intern auf einer Rangordnung von Status, Einkommen und Anerkennung beruht und sich extern von nicht bezahlten Tätigkeiten (wie Hausarbeit) unterscheidet. Faktisch bestehen hier etliche Grauzonen gegenüber anderen Formen wie Zwangsarbeit, Gelegenheitsarbeit oder auch aktuell zunehmend als Zeitarbeit im Rahmen von Plattformökonomien. Mit Blick auf die Frage, ob andere, historisch frühere Organisationsformen von Arbeit für uns möglich wären, diskutiert Geuss idealtypische Varianten der Subsistenzwirtschaft (Jagen und Sammeln, Pastoralismus, Landwirtschaft) und der handwerklichen Produktionsweise. In allen Organisationsformen erscheint die Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeit – abhängig von den zur Verfügung stehenden Ressourcen – in jeweils besonderer Weise. Ob die unterschiedenen Organisationsformen tatsächlich wählbare Optionen wären, hänge wesentlich davon ab, welches Ausmaß an „Absenkung unserer Produktionskapazitäten wir akzeptieren würden (und könnten)“ (72).

Im dritten Kapitel greift Geuss die Wahrnehmung der Notwendigkeit gesellschaftlicher Arbeit noch einmal aus einer anthropologischen Perspektive auf (97 ff.). Wenn man, wie vielfach aus ökonomischer Sicht angenommen, eine naturgegebene Arbeitsscheu der Menschen unterstellt, dann böten sich grundsätzlich drei Wege an, sie zur Arbeitsaufnahme zu bewegen. Der Einsatz direkten Zwangs stoße allerdings schnell auf Grenzen der Durchsetzbarkeit, es sei denn, man könne effektive Verfahren indirekter Kontrolle etablieren. Ebenfalls hätten aufgrund der intransparenten Komplexität ökonomischer Zusammenhänge Appelle an die Einsicht in objektive Erfordernisse der gesellschaftlichen Reproduktion eine nur begrenzte Reichweite. Wirkungsvoller seien schließlich monetäre oder mentale Anreize. Zu letzteren zählen Geuss solidarische Verpflichtungen gegenüber der eigenen Gruppe und Ausprägungen von Arbeitsethik, die zumal in der säkularisierten Variante des flexiblen Kapitalismus – vermeintlich – Kreativität, Individualität und Selbstverwirklichung honoriert. Eine andere Sicht eröffne sich, löst man sich von der Annahme des zeitgenössischen common sense, der – durchaus in der Tradition des Locke’schen Eigentumsindividualismus – Arbeit nur aus der Perspektive des „besitzergreifende[n] Ich[s]“ beschreibt (132 ff.). Eine „Ökonomie des Wir“ würde demgegenüber erkennbar machen, dass die Verteilung von Ressourcen, Positionen und Arbeitserträgen immer Ergebnis spezifischer, stets änderbarer Politik ist.

Im vierten, resümierenden Kapitel setzt sich Geuss zunächst mit drei seiner Sicht nach letztlich defizitären Spielarten des Unbehagens an der Arbeit auseinander (141 ff.). Bei der Utopie vom Schlaraffenland – technischer Fortschritt mache menschliche Arbeit überflüssig – überwögen dystopische Züge, weil auch wirkliche Muße an den Kontakt zu Modalitäten des ernsthaften Tätigseins gebunden bleibe. Die marxistische Kritik entfremdeter Arbeit sei problematisch, weil sie auf dem produktivistischen Ideal einer fortschreitend instrumentellen Beherrschung von Natur beruhe. Die dritte Spielart, die im Anschluss an Martin Heidegger gegenüber der Dominanz des instrumentellen Weltzugangs eine pastorale Sorge für die natürliche Welt fordert, ignoriere, dass eine derartig radikale Umstellung ohne erhebliche, auch technische Veränderungen politischer, ökonomischer und juristischer Art nicht möglich sein wird.

Vor diesem Hintergrund dient der nicht prognostisch gemeinte Blick des Autors auf die Zukunft der Arbeit einer Sensibilisierung für bereits jetzt erkennbar problematische Entwicklungen. Die Stichworte, die Geuss hier nennt, sind auch andernorts breit und vielfach ähnlich kritisch diskutiert worden (Kocka/Offe 2000; Urry 2015; Geiselberger 2017). Automatisierungen drohen auf breiter Front zu Prekarisierungsprozessen zu führen und die der kapitalistischen Logik inhärente Tendenz, materielle, soziale und ökologische Kosten zu externalisieren – beispielhaft stehen „Outsourcing und Amazonifizierung“ dafür (169 f.) – verstärken diese Entwicklungen. Die künftige Arbeitsgesellschaft des digitalen Kapitalismus stünde in struktureller Hinsicht vor dem Problem damit umzugehen, dass „’Arbeitslosigkeit’ in ihrer herkömmlichen Bedeutung […] ein Dauerzustand für die meisten Menschen“ wird (195). Dann aber müssten zwei grundsätzliche Fragen neu verhandelt werden. Einerseits die Verteilungsfrage, also die mit der meritokratischen Illusion verbundene Legende, Reichtümer seien das verdiente Ergebnis individueller Leistungen. Andererseits dürften wir – nicht zuletzt angesichts zahlreicher Bullshit-Jobs (Graeber 2019) – nicht davor zurückschrecken zu prüfen, welche Berufstätigkeiten sinnlos, unnötig oder gesellschaftlich schädlich sind. Allerdings werde die notwendige Debatte dadurch erschwert, dass sich zwei ihrer zentralen Dimensionen − die Bewahrung der Sozialstaatlichkeit und die Verabschiedung von der Pathologie unbegrenzten Wachstums − voneinander gelöst zu haben scheinen.

Geuss hat mit diesem Essay jenseits der akademischen Philosophie substantielle Fragen aufgeworfen, die unser Verständnis gesellschaftlicher Arbeit im Wesentlichen ausmachen. Diese Fragen haben unbestreitbare Relevanz in einer Phase, in der strukturelle Entwicklungen nicht nur ein historisch gewordenes Organisationsmodell − das sogenannte Normalarbeitsverhältnis − erodieren lassen, sondern auch jene elementaren Formen von Gegenseitigkeit der sozialen Kooperation aufzulösen scheinen, die die politische Ökonomie der Arbeitsgesellschaft qua Arbeitsteilung immer zugeschrieben hatte (Kambartel 1998).


Literatur

  • Geiselberger, Heinrich (Hrsg.) (2017): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin, Suhrkamp.
  • Geuss, Raymond (2023): Über die Arbeit. Ein Essay. Hamburg, Hamburger Edition.
  • Graeber, David (2019): Bullshit – Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart, Klett-Cotta.
  • Kambartel, Friedrich (1998): Philosophie und Politische Ökonomie. Essen Wallstein
  • Kocka, Jürgen/ Claus Offe (Hrsg.) (2000): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt a. Main, Campus.
  • Urry, John (2015): Grenzenloser Profit. Wirtschaft in der Grauzone. Berlin, Wagenbach.

 

CC-BY-NC-SA
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