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Rezension / 31.07.2024

Steve Tsang und Olivia Cheung: The Political Thought of XI Jinping

Oxford, Oxford University Press 2023

Steve Tsang und Olivia Cheung analysieren für ihre Vermessung politischen Denkens des chinesischen Staatspräsidenten und Generalsekretärs der Kommunistischen Partei Chinas verfügbare Reden und Beiträge von Xi Jinping: Damit behandelt die vorgelegte Untersuchung neben dem chinesischen Gesellschaftsvertrag, dem Personenkult und der Entwicklung eines parteizentrierten Nationalismus durch Xi auch ökonomische Denkfehler des auf Konfuzianismus, Maoismus und Leninismus beruhenden Xi-Denkens. Rainer Lisowski hat das Buch für uns besprochen.

Eine Rezension von Rainer Lisowski

Chinas Präsident Xi Jinping wird in westlichen Medien des Öfteren als Diktator bezeichnet. Eigentlich ist seine offizielle Funktion die des Staatspräsidenten, vor allem aber ist er der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas. Da es sich beim politischen System Chinas immer noch um ein Kadersystem weitgehend sowjetischer Bauart handelt, ist die Betonung dieser zweiten Funktion wesentlich, um seine Machtfülle korrekt einschätzen zu können. Einer der Gründe, warum Xi im Westen in zunehmendem Maße als Diktator wahrgenommen wird, liegt im Personenkult, der um seine Person gemacht wird. Zu diesem Kult gehört etwa die Publikation umfangreicher Bände mit Reden und Beiträgen von Xi. Mittlerweile wurde eine ganze Buchreihe in mehrere Sprachen übersetzt und wird von chinesischen Botschaften und Konsulaten gern als Gastgeschenk verwendet (der Autor dieser Rezension gehört ebenfalls zu den Beschenkten). Auf westliche Beobachterinnen und Beobachter macht dies nicht selten einen leicht skurrilen Eindruck. Jedenfalls wären umgekehrt für unseren Geschmack die schönsten Reden des Bundespräsidenten ein merkwürdiges Gastgeschenk.


Doch was für westliche Augen gegebenenfalls ungewollt belustigend oder vielleicht auch eitel wirken mag, hat für viele Menschen in China eine sehr reale Konsequenz. Denn es ist zu beobachten, dass das politische Denken von Chinas „Paramount Leader“ Xi Jinping von der Bevölkerung erlernt werden soll. Erinnerungen an das kleine rote Buch von Mao Tsetung kommen da nicht von ungefähr auf.

Steve Tsang und Olivia Cheung (beide Universität London) haben daher die Mühe unternommen, das politische Denken von Xi aus westlicher Perspektive genauer zu vermessen. Methodisch haben sie dafür sämtliche verfügbaren Reden und Beiträge von Xi Jinping gelesen und analysiert, wobei die beiden zumindest in der Darstellung nicht systematisch-strukturiert, sondern eher qualitativ-explorativ vorgehen. Die in den Texten enthaltenen, ideologischen Aussagen wurden von ihnen mit der tatsächlich beobachtbaren Politik abgeglichen (31 ff.).

In sieben Kapiteln werden in „The Political Thought of XI Jinping“ die Grundzüge des Xi-Denkens skizziert. Nach einer Einführung (Kapitel 1) werden der Anlass für seine rigorose Unterwerfung von Partei und Staatsapparat (Kapitel 2) und sein Führungsanspruch (Kapitel 3) vorgestellt. Vier weitere Kapitel vertiefen diese Skizzen und gleichen sie mit einzelnen Politikfeldern ab: Impliziter Gesellschaftsvertrag und Aufbau einer moderat wohlhabenden Gesellschaft (Kapitel 4), ökonomische Ziele seiner Politik (Kapitel 5), Entwicklung eines parteizentrierten Nationalismus (Kapitel 6) und globaler Anspruch seines Denkens (Kapitel 7).

Eine der wichtigsten Arbeitshypothesen der von Tsang und Cheung lautet, dass sich unter Xi ein sino-zentrischer, konsultativer Leninismus (34 ff.) entwickelt: Eine auf Lenins Ideen aufbauende Ideologie der Parteidominanz, die eine hohe Responsivität gegenüber Chinas Bevölkerung entwickeln soll, um Wünsche nach Demokratisierung abzufangen. Hierzu soll permanent die öffentliche Meinung beobachtet und beeinflusst werden. Wirtschaftlich setzt die Ideologie weiterhin auf Wachstum und ergänzt sie durch einen forcierten Nationalismus. Im Wesentlichen soll so ein als negativ identifizierter Aspekt von Deng Xiaopings Öffnungspolitik zurückgedreht werden: Die wachsende politische wie wirtschaftliche Bedeutung des Individuums.

Realistischerweise ist damit zu rechnen, das Xi versuchen wird, Zeit seines Lebens seinen Status als alle überragender Führer auszubauen. Dies sei schon allein daran zu erkennen, dass er keine Nachfolge aufbaut, so wie es Jiang und Hu vor ihm taten (50). Sofern ihn nicht eine Katastrophe wie der „Große Sprung nach vorn “oder die Kulturevolution aus dem Amt treiben, sehen Tsang und Cheung auch keinen Grund, warum Xi dies nicht gelingen sollte (209).

Insofern erscheint es auch im Westen wichtig, sich näher mit seinem politischen Denken zu befassen, stellt dieses doch aus Sicht der beiden vor allen Dingen eine Abkehr vom Pragmatismus Deng Xiaopings und eine Rückkehr zu Maos Zeiten und einer Re-Ideologisierung der Gesellschaft dar. Allerdings, so glauben Tsang und Cheung, handle es sich aktuell eher noch um eine Proto-Ideologie (14), die sich noch nicht voll entfaltet und in jedem Winkel der Gesellschaft breitgemacht habe. Um dem Denken von Chinas Staatspräsident näherzukommen, vermisst die Studie zunächst desseen Quellen und identifizieren Lenin, Mao und Konfuzius als geistige Urheber seines politischen Gedankengebäudes (18 ff.). Zu Skizze Tsangs und Cheungs zählt ein geschichtlicher Abriss, der die zeitliche Entwicklung von Xis Denkens nachzuzeichnen versucht. Dabei wird deutlich, wie ernst es Xi mit seiner Ideologie ist und wie stark gesellschaftliche Teilbereiche entsprechend auf diese reagieren. Mittlerweile gibt es zehn sogenannte Xi Thought Research Center und noch mehr Studienkurse, in denen das Denken von Xi Jinping gelehrt wird. Zudem gibt es eine App (Xuexi qiangguo), bei der man mittels täglicher Quizze seine Versiertheit im Xi-Denken austesten und so Punkte sammeln kann. Diese App hat etwa 100 Millionen registrierte Nutzerinnen und Nutzer und eine tägliche Aktivitätsrate zwischen 40 bis 60 Prozent - und sie ist für zahlreiche Staatsbedienstete Pflichtprogramm (29).

Im Detail beschreiben Autorin und Autor, wie stark Xi die Partei als Instrument benutzt, seine Herrschaft zu sichern und China zu verändern. Aus ihrer Sicht ruht der Aufbau der Kommunistischen Partei Chinas nach wie vor auf einem leninistischen Erbe. Nicht-Loyale werden bestraft, ideologisch werde indoktriniert, Disziplinierung werde zentralisiert (40 f.). Geschickt verknüpfe Xi den im Volk populären Kampf gegen Korruption mit politischen Säuberungen im Staats- und Parteiapparat, die seine Macht festigten. Knapp vier Millionen Kader seien seit seinem Amtsantritt sanktioniert worden. Regelrechte Schockwellen hätten Verfahren gegen ehemalige Mitglieder des Ständigen Ausschusses des Politbüros ausgelöst, die bis dahin als unantastbar galten. Die Strukturen der Partei werden so verändert, dass sie ihm mehr Kontrolle auf allen Ebenen ermöglichten, etwa indem

  • neue Arbeitsgruppen der Partei unter seinem Vorsitz eingerichtet wurden (73),
  • Berichte der übrigen Mitglieder des ständigen Ausschusses nicht mehr an das Zentralkomitee, sondern an ihn als Generalsekretär zu erstatten sind
  • die Disziplinierungskommission deutlich mehr Befugnisse erhalten hat (51, 56),
  • bei der Personalauswahl eine Abkehr des unter Hu versuchten Professionalismus vollzogen wurde und wieder stärker auf Parteiloyalität und weniger auf Können geachtet werde. „Besser rot als professionell“ fassen Tsang und Cheung es zusammen (77).

Trotz dieser markanten Verschärfungen kommen Tsang und Cheung für den Moment zu folgender Einschätzung: „Xi has not yet achieved his ultimate goal: to make the Party the effective Leninist instrument […] totally loyal and obedient to him as core leader, as Mao has managed to force the Party to comply by launching the Cultural Revolution” (61).

Dass sich aber der Durchgriff der Partei auf nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens erhöht, erweitert und vertieft hat, beschreiben Tsang und Cheung ausführlich. Insbesondere die stärkere Trennung zwischen Partei und Staat, die mit der Öffnungsperiode und insbesondere unter Zhao Ziyang begann, solle unter Xi wieder zurückgedreht werden (65). Das unter Deng als Sperre gegen den Aufstieg eines weiteren Diktators entwickelte System der kollektiven Führung sei unter Xi effektiv geschwächt worden (67 f.). Auch hier kommen sie jedoch zu dem Schluss, dass Xi sich noch nicht alle staatlichen Organe vollkommen hörig machen konnte (78).

An der Kritik ist sicherlich zutreffend, dass Xi Jinping autoritärer und härter regiert als seine unmittelbaren Vorgänger Hu und Jiang. Dessen sollten sich sowohl die politische Führung als auch die Bevölkerungen im Westen bewusst sein. An mancher Stelle machen wir es uns mit unserer Kritik aber auch etwas zu einfach. Welche Entscheidung auch immer die chinesische Regierung trifft, sie wird automatisch kritisiert. Der Autor dieser Rezension erinnert sich gut an ein ausführliches Gespräch mit einem hochrangigen chinesischen Diplomaten im Sommer 2022. Wir blickten in unserer Unterhaltung zurück auf die Corona-Pandemie. Was immer China auch tue, es werde beanstandet, so klagte der Diplomat: „Schickt China keine Masken, wird es kritisiert. Schickt es Masken, wird dies als Propaganda und Einflussnahme kritisiert.“ Dieser Vorwurf beinhaltet mehr als nur ein Körnchen Wahrheit.

In eine sehr ähnliche Kategorie fällt die etwa wohlfeile Kritik von Tsang und Cheung auf Seite 156: Lange Zeit hätten Eltern und Jugendliche an Chinas Bildungspolitik kritisiert, dass zu viel Wert auf ermüdend viel Unterricht, Drill und stundenlange Übung gesetzt werde, um hohe und höchste Leistungsstandards zu erreichen. Die Arbeitslast war vielen Kindern wie Eltern deutlich zu hoch. Die Regierung hat nun beschlossen, zumindest in den ersten Schuljahren den Umfang von Hausarbeiten gesetzlich zu reduzieren. Prompt wird dies von Tsang und Cheung als eine Abkehr vom Leistungssystem kritisiert, so als diene diese Maßnahme ausschließlich dem Versuch, das Volk zu verdummen.

In eine ähnliche Kategorie fällt auch die Kritik daran, dass die Regierung den Umzug von Menschen aus unterschiedlichen Teilen Chinas in die von Uigurinnen und Uiguren bewohnte Provinz Xinjiang unterstützt beziehungsweise fördert. Hier wird dann die Sorge vor ethnischer Auslöschung in den Raum gestellt (111). Diesen Vorwurf kann man auch als heuchlerisch empfinden, denn man kann schlecht auf der einen Seite in der europäischen Debatte Ängste vor Überfremdung durch Zuzug „Anderer“ und „Fremder“ kritisieren, in China dann aber auf ethnischer Reinheit der Uiguren oder Tibeter bestehen.

Aus ökonomischer Sicht sehr interessant liest sich das Kapitel 5, in der es um die Entwicklung einer sozialistischen Marktwirtschaft gibt, die seitens der chinesischen Regierung teilweise gezielt als Gegenmodell zum westlichen Kapitalismus aufgebaut wird. Aus Sicht von Tsang und Cheung ist sich Xi darüber im Klaren, dass China selbst noch lange nicht mit dem Westen auf Augenhöhe steht (119). Neben weiteren Gründen führt die Studie einen grundsätzlichen Denkfehler des Xi-Denkens im Feld der Wirtschaftspolitik auf: Der allzuständige, von der Partei geleitete Staat sei eben kein guter Investor. Sie versucht zu verdeutlichen, dass staatliches Risikokapital zwar neue Branchen entwickelt habe, aber dass wirtschaftliches Wachstum in China häufig ineffizient sei und zu sehr hohen Kosten erreicht werde. Man erkenne dies auch daran, dass privates Kapital eben nicht in ausreichendem Maße in jene staatlich gehegten Bereiche geflossen sei, die sich die Partei als Zukunftsfelder der chinesischen Wirtschaft wünsche (122). Dies schließt sich der Kritik westlicher Ökonominnen und Ökonomen an, dass die chinesische Regierung gezielte Schläge gegen die ihrer Meinung nach zu mächtig gewordene Digitalwirtschaft (Alibaba, Tencent, Baidu und andere) ausgeteilt habe, was der Branche selbst nicht eben nützlich gewesen sei (130).

Und wie attraktiv ist Xi-Thought für die Welt? Hier kommen Tsang und Cheung einmal mehr zu einer differenzierten Einschätzung: “The focus of Xi Thought on soft power is the less developed, less well off and often undemocratic parts of the world. They are countries that are generally more receptive to XI`s Belt und Road Initiative. The Xi Thought approach does not make China more appealing to them overall, but it is not ineffective either” (206).



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.13
CC-BY-NC-SA
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