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Rezension / 23.09.2024

Wahid Watanyar: Die politischen Parteien Afghanistans

Baden-Baden, Nomos Verlag 2024

Wahid Watanyar schildert Geschichte und Entwicklung der Parteien Afghanistans bis zur erneuten Machtübernahme durch die Taliban. Dabei eruiert er, wie Transitionsprozesse, Vergangenheitserfahrungen, in Konflikten gewachsene Strukturen und lokale Identitäten hier politisches Verhalten und Handlungsspielräume über die Dekaden hinweg prägten. Herausgekommen sei eine fundierte, gut strukturierte Analyse einer Parteienlandschaft und ihrer Spezifika, die nicht zuletzt auch durch den Ost-West-Konflikt und die sowjetische Besatzungszeit beeinflusst wurde, so das Fazit unseres Rezensenten.

Eine Rezension von Michael Rohschürmann

Die von Wahid Watanyar vorgelegte Arbeit beleuchtet Entstehen, Anpassung und (vorläufiges) Ende der politischen Parteien Afghanistans vor dem Hintergrund der vielschichtigen und konfliktbeladenen Dynamiken der afghanischen Geschichte. Das Buch zeichnet ein differenziertes Bild von den verschiedenen Phasen der Parteienentwicklung von 1964 bis 2021 und verdeutlicht, wie sehr äußere Einflussfaktoren und innere Konflikte die Struktur und Funktionsweise das afghanischen Parteiensystems geprägt haben und wie das Wechselspiel zwischen staatlicher Repression und den Bemühungen der Parteien, sich in einem äußerst schwierigen politischen Umfeld zu etablieren, zu einer anhaltenden Instabilität und Fragmentierung der Parteienlandschaft führte.

Parteien und ihre Funktionen
Nach einer Einführung in die Parteientheorie (35 f.), die Typologie von Parteien (47 f.) und die Funktion von Parteien (58 f.) geht Watanyar auf die Rolle von Parteien in einer Post-Konfliktgesellschaft ein (63 f.). Dabei betont er, dass Parteien während und nach einem Transitionsprozess eine entscheidende Rolle spielen. Insbesondere sei relevant, wie ihre Vergangenheitserfahrungen, die "war legacy", ihr Verhalten und ihre Entwicklung beeinflussen und inwiefern die im Konflikt gewachsenen Strukturen und Identitäten weiterhin das Verhalten der Parteien prägen. Watanyar geht auch auf das Thema Wahlen ein, die in Afghanistan immer ein schwieriger Faktor waren. Von den westlichen Unterstützern der Republik nach 2001 immer wieder gefordert und als Beweis für den Erfolg des Demokratisierungsprozesses des Landes gewertet, waren diese von Anfang an von gegenseitigen Vorwürfen der Wahlfälschung (vor allem bei Präsidentschaftswahlen) überschattet.

Zudem konnte aufgrund der Sicherheitslage ein von Wahl zu Wahl geringer werdender Prozentsatz der Bevölkerung das Wahlrecht ausüben. Der Autor stellt fest, dass Wahlen in Post-Konfliktgesellschaften grundsätzlich unterschiedliche Auswirkungen haben können: In einigen Fällen, wie in El Salvador, trugen sie zur Stabilisierung und Demokratisierung bei, während sie in anderen, wie in Bosnien, schädlich waren. Die Fähigkeit der Parteien, sich an die neuen politischen Spielregeln anzupassen, sei kritisch für den Erfolg, aber oft schwer zu erreichen. Faktoren wie die Art der Konfliktlösung, die Machtverteilung und das Erbe des Konflikts beeinflussen maßgeblich die Entwicklung der Parteien.

Das afghanische Parteiensystem
Nachdem sich Afghanistan im 19. Jahrhundert als Pufferzone zwischen den Kolonialmächten Russland und Großbritannien etabliert hatte, erlangte Afghanistan 1919 unter Amanullah Khan die vollständige Unabhängigkeit. In dieser Zeit formierten sich intellektuelle Kreise, die zur ersten politischen Organisation Afghanistans führten. Obwohl politische Parteien lange unterdrückt wurden, konnten sie durch die Zeitschrift „Siraj-ul-Akhbar“ ab 1903 eine breitere politische Mobilisierung erreichen. Die daraus entstandene konstitutionelle Bewegung strebte nach einem Systemwechsel hin zu einer konstitutionellen Monarchie, wurde jedoch vom König Habibullah Khan unterdrückt.

Die zweite konstitutionelle Bewegung formierte sich während des Ersten Weltkriegs, als der britische Einfluss nachließ. Diese Bewegung bestand aus verschiedenen Gruppen, darunter eine unter der Führung des Thronfolgers Amanullah Khan, die für die vollständige Unabhängigkeit von Großbritannien kämpfte. Trotz Verfolgung setzte sich die Bewegung für politische Reformen ein. Nach der Unabhängigkeit versuchte Amanullah Khan, Afghanistan zu modernisieren, stieß jedoch auf Widerstand der traditionellen Eliten. Seine Reformen führten zu politischen Öffnungen (Verfassungsreformen, Erlaubnis von politischen Parteien, Stärkung der Frauenrechte sowie Wirtschafts- und Justizreformen), die jedoch nur begrenzt erfolgreich waren.

1929 kam es zu einem Regimewechsel, als Amanullah Khan gestürzt und durch Habibullah Kalakani ersetzt wurde. Dessen Herrschaft war kurzlebig und autoritär. Nach dessen Sturz übernahm Nadir Khan die Macht und führte eine repressive Politik, die politische Parteienbildung nahezu unmöglich machte. 1933 folgte Zahir Shah auf den Thron, während sein Onkel Muhammad Hashem Khan faktisch die Macht innehatte und das Land autoritär regierte.

Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die politische Lage. 1946 übernahm Shah Mahmud Khan das Amt des Premierministers und führte Reformen ein, die politische Freiheiten erweiterten. Es entstanden neue politische Gruppen, darunter ethno-nationalistische und regionalspezifische Bewegungen. Die Liberalisierung führte jedoch zu Spannungen zwischen der Exekutive und dem Parlament. Die Königsfamilie reagierte mit repressiven Maßnahmen, um ihre Macht zu sichern.

1953 wurde Daoud Khan Premierminister und schränkte politische Aktivitäten erneut ein, was zu einer Verödung des politischen Lebens führte. Erst nach der Verabschiedung der neuen Verfassung im Jahr 1964 eröffnete sich wieder breitere politische Partizipation, obwohl politische Parteien weiterhin nicht offiziell anerkannt wurden. In dieser Phase war die Parteientwicklung sehr stark durch interelitäre Konflikte geprägt (155). Mit dem Staatsstreich von Daoud Khan im Jahr 1973 und der Putsch der PDPA (Peoples Demokratic Party of Afghanistan) im Jahr 1978 wurden die islamistischen Parteien systematisch unterdrückt. Mit dem Beginn des afghanisch-sowjetischen Krieges organisierten sich vor allem die islamistischen Parteien in Pakistan zu Widerstandsgruppen gegen die kommunistische Regierung und die ausländischen Truppen.

Watanyars Forschung zeigt, dass die politische Landschaft Afghanistans zunächst durch den ideologischen Konflikt zwischen marxistisch-leninistischen und islamistischen Kräften geprägt war. Diese Konflikte wurden durch externe Akteure wie die USA und die Sowjetunion weiter verschärft. Die islamistischen Parteien profitierten von der internationalen Unterstützung im Rahmen des afghanisch-sowjetischen Krieges und entwickelten sich so zu dominierenden Akteuren, während moderatere und ethnisch orientierte Parteien an Bedeutung verloren und, mit Ausnahme der vornehmlich usbekischen Jumbesh-e Melli und der vornehmlich schiitischen Hizb-e Wahdad, letztlich verschwanden. Der Aufstieg der Taliban, die eine radikal-islamistische Ideologie vertraten, verstärkte diesen Trend und führte während ihrer ersten Herrschaft zum Verbot anderer Parteien.

Watanyar sieht unter den verschiedenen Einflüssen auf die Entwicklung der afghanischen Parteien vor allem ihre ideologische Ausrichtung und die auf sie wirkenden externen Einflüsse als zentral an und bewertet ethnische oder regionale Unterschiede als vernachlässigbar. Dies führte, seiner Meinung nach, dazu, dass islamistische Parteien aufgrund ihrer ideologischen Radikalität und ihres Widerstands gegen fremde Mächte überlebensfähiger waren als andere Parteien. Die Dynamik der zwischenparteilichen Konflikte und die externe Unterstützung islamistischer Parteien spielten eine entscheidende Rolle in der Parteientwicklung Afghanistans. So beispielsweise als sich die Mudschaheddin-Fraktionen, zu denen sich die Parteien in der Zeit des afghanisch-sowjetischen Krieges gewandelt hatten, nach der Einnahme Kabuls gegenseitig bekämpften und mit diesem Bürgerkrieg die Grundlage des Aufstieges der Taliban schufen.

Die Jamiat-e Islami Afghanistan (JIA) kann, aufgrund ihrer guten Verbindungen mit den westlichen Interventionsmächten, nach dem Sturz der Taliban als dominanteste der Parteien verstanden werden. Dennoch gelang es ihr aufgrund innerparteilicher Machtkämpfe und Konflikten mit den anderen Parteien nicht, aus dieser Position heraus Präsidenten zu stellen. Dies sicherlich auch deshalb, weil die JIA, obwohl nicht explizit als solche firmierend, häufig als Tadschiken-Partei wahrgenommen wurde.

Die beiden großen, explizit ethnisch ausgerichteten Parteien, die verschiedenen Hizb-e Wahdad-Fraktionen (HW) und die Junbish-e Milli (JM), zeigen in der Analyse das diese zwar erfolgreich ihre ethnische Basis nutzen konnten, aber gleichzeitig an inneren Spannungen und einer mangelnden strukturellen Entwicklung litten. Besonders bei der JM wird die autoritäre Führung durch Marschall Dostum und deren Auswirkungen auf die innerparteiliche Kohäsion sowie das Verhältnis zum Staat kritisch beleuchtet.

Der Blick auf die Hizb-e Islami (HIA) und die Taliban verdeutlicht die unterschiedlichen Entwicklungspfade von Parteien außerhalb der staatlichen Strukturen. Während die HIA aufgrund ihres Ausschlusses aus dem Wiederaufbauprozess in eine strukturelle Krise geriet, nutzten die Taliban ihre paramilitärische Stärke, um die staatliche Macht zu untergraben und ihre eigene Legitimität auszubauen bis hin zum militärischen Sieg über die Republik, der wiederum nur errungen werden konnte, weil die afghanische Armee nicht bereit war, die Republik zu verteidigen. Insgesamt muss festgestellt werden, dass die Konflikte zwischen den Parteien und vor allem zwischen den Präsidentschaftskandidaten die Legitimität der Republik untergruben und das politische System Afghanistans unterminierten.

Fazit
Watanyars Arbeit ist eine fundierte und gut strukturierte Analyse der afghanischen Parteienlandschaft und ihrer Entwicklung über mehrere Dekaden hinweg. Die Verbindung von historischen Ereignissen mit der strukturellen und organisatorischen Entwicklung der Parteien wird überzeugend dargestellt. Besonders hervorzuheben ist die differenzierte Betrachtung der verschiedenen historischen Phasen und politischen Systeme in Afghanistan, die jeweils unterschiedliche Herausforderungen und Dynamiken für die Parteien mit sich brachten und deren jeweilige Entwicklungspfade verständlich machen.

Die Kernaussage, dass die schwache Entwicklung der Parteien durch die gegensätzlichen Persistenzstrategien von Staat und Parteien geprägt war, wird überzeugend dargelegt. Die Analyse zeigt, wie staatliche Repression, gekoppelt mit einem Mangel an politischem Willen zur Förderung eines pluralistischen Systems, die Parteien schwächte und ihre Entwicklung erheblich beeinträchtigte.

Ein wichtiger Punkt der Analyse ist die historische Kontextualisierung, die zeigt, dass die Repression politischer Parteien in Afghanistan kein neues Phänomen darstellt, sondern eine Kontinuität aufweist, die von der Monarchie bis zur heutigen Taliban-Herrschaft reicht. Diese historische Perspektive hilft den Leser*innen, die gegenwärtige Situation besser zu verstehen und die langfristigen Herausforderungen für die politische Stabilität und den Pluralismus in Afghanistan zu erkennen.

Watanyar geht zudem auf die Wechselwirkungen zwischen den Parteien und externen Akteuren ein, insbesondere im Kontext des globalen Ost-West-Konflikts und der sowjetischen Invasion. Diese externen Einflüsse werden als entscheidende Faktoren für die Persistenz oder den Niedergang bestimmter Parteien in Afghanistan dargestellt, was die Komplexität der Parteienentwicklung weiter verdeutlicht. Hier hätte der Autor die historische Dimension noch deutlicher machen können: Die politische Todsünde in Afghanistan ist der Ruf, eine Marionette ausländischer Mächte zu sein. Dies führte bereits 1842 zum Sturz Schah Schudschas und zum ersten anglo-afghanischen Krieg und unterminierte später sowohl den Regierungsanspruch der kommunistischen Partei als auch der republikanischen Regierung.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.29
CC-BY-NC-SA
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