Der Vorwurf, Angela Merkel führe politisch nicht genug, stehe im Raum, seit sie im Herbst 2005 das Amt der Bundeskanzlerin übernommen habe. Willner überprüft diesen Vorwurf für den Zeitraum der Großen Koalition auf seine Validität. Prämisse ist dabei, dass die Forschung die Relevanz der Institutionen häufig zu hoch und die der einzelnen Akteure zu niedrig einschätzt. Hier soll stattdessen in Anlehnung an Friedbert Rüb eine prozessuale Konzeption des Regierens verfolgt werden. Im Mittelpunkt stehen die politischen Praktiken; diese liegen zwischen institutioneller und individueller Akteursebene. Untersucht werden auf Grundlage der Presseberichterstattung sowie mehrerer im Bundeskanzleramt geführter Interviews die Entscheidungsprozesse bei zwei Gesetzgebungsverfahren der Großen Koalition: Verlängerung des Arbeitslosengeldes I und Post-Mindestlohn. Bei der Untersuchung der Fallbeispiele stellt sich heraus, dass Merkel nicht die Agenda bestimmt, sondern Kompromisse vermittelt, wobei sie sich vor allem auf die Praktiken negative Koordination und Bargaining stützt. „Es geht ihr nicht darum, eine Lösung in ihrem Sinne zu erreichen, sondern die Lösung zu finden, die eine Mehrheit erreicht.“ (156) Willner sieht diesen Führungsmodus kritisch, informelle Verhandlungen „entwerten [...] die institutionell verankerten Abstimmungsgremien“ (156) Kabinett, Bundestag und Bundesrat. Im Ergebnis stellt er fest, dass Merkel einen konsensualen Führungsstil pflegt. Eine Ursache dafür sind seiner Ansicht nach die Verhältnisse in der Großen Koalition und insbesondere die Tatsache, dass Franz Müntefering als zentraler Verbündeter Merkels auf SPD-Seite nicht hätte beschädigt werden dürfen. Als Konsequenz stellt Willner fest: „Merkel bleibt sicherlich mit ihrem Regierungsstil hinter ihren Möglichkeiten zurück“ (166).