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Rezension / 04.01.2018

Angelika Vetter / Uwe Remer-Bollow: Bürger und Beteiligung in der Demokratie. Eine Einführung

Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften 2017 (Grundwissen Politik)

Das Thema Bürgerbeteiligung erfährt seit den 1990er-Jahren einen Aufschwung, den Angelika Vetter und Uwe Remer-Bollow zum Anlass für eine grundsätzliche Einführung in die Thematik Beteiligung und Demokratie nehmen. Sie gehen dabei von einer sehr weiten Begriffsdefinition aus, sodass auch Phänomene wie beispielsweise das Urban Gardening als eine Form der Bürgerbeteiligung angesehen werden. Theoretische Grundlagen werden mit empirischen Erkenntnissen verknüpft sowie die vielfältigen Formen von Beteiligung und Partizipation systematisch dargestellt und im gesellschaftlichen Kontext analysiert.

Das Thema „Bürgerbeteiligung“ erfährt aktuell einen großen Bedeutungszuwachs: Es wird als Mittel gegen die Politikverdrossenheit, als Integrationsmodell bei infrastrukturellen Großvorhaben oder als basisdemokratisches Legitimationswerkzeug gesehen. Dass der Begriff seit den 1990er-Jahren einen Aufschwung erlebt, liegt unter anderem daran, dass mit einem Mehr an Partizipation ein Qualitätsgewinn für die Demokratie verbunden wird. Den Hauptgrund für den Bedeutungszuwachs sehen Angelika Vetter und Uwe Remer-Bollow jedoch in den sich ändernden Parametern, unter denen politische Entscheidungen getroffen werden. So werden im Zuge der Globalisierung Entscheidungsbefugnisse von Nationalstaaten auf supranationale Organisationen verlagert, was dazu führt, dass nationale Regierungen an Einfluss verlieren. Die zunehmende Individualisierung sowie die Erhöhung der Komplexität von Entscheidungen, vornehmlich aufgrund der Technologisierung und Vernetzung, sorgen für wachsende Legitimations- und Akzeptanzprobleme. Zudem misstrauen Bürger den Politikern und politischen Parteien zunehmend. Ihre Beteiligung wird als Mittel angesehen, diesen Entwicklungen zu begegnen. Sie dient der Kontrolle von politischen Entscheidungsträgern, steigert die Transparenz von politischen Entscheidungsprozessen, schafft ein Verständnis für politische Entscheidungen und erhöht deren Akzeptanz in der Gesellschaft – so zumindest die Theorie.

Angelika Vetter forscht an der Universität Stuttgart zu den Themen Vergleichende Systemforschung (BRD und westliche Demokratien), Lokale Demokratieforschung und Politische Beteiligungsforschung. Uwe Remer-Bollow, Absolvent der Universität Stuttgart, ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem vom Staatsministerium Baden-Württemberg geförderten Projekt „Datenbank dialogische Beteiligungsverfahren“ tätig. Beide haben ein Lehrbuch vorgelegt, das der grundsätzlichen Einführung in die Thematik „Bürger, Beteiligung und Demokratie“ (9) dient. Sie gehen dabei von einer sehr weiten Begriffsdefinition aus, sodass auch Phänomene wie beispielsweise das Urban Gardening als eine Form der Bürgerbeteiligung angesehen werden. Beteiligung wird somit nicht nur politisch, sondern auch soziologisch betrachtet.

Im ersten Teil des Buches werden Grundlagen vermittelt. Vetter und Remer-Bollow klären den Zusammenhang zwischen Bürgerbeteiligung und Demokratie sowie die rechtliche Verankerung im Grundgesetz und stellen die grundlegenden Theorien vor. Vor allem das Civic-Voluntarism-Modell (CVM), eines der bekanntesten Modelle zur Erklärung politischer Partizipation, steht im Fokus. Das CVM integriert bestehende (partikulare) Partizipationstheorien in ein Gesamtmodell und vereint damit die Individual- und die Gesellschaftsebene. Eine zentrale Rolle nehmen drei Faktoren ein, die erklären, unter welchen Bedingungen sich Bürgerinnen und Bürger beteiligen:

  1. Sie müssen sich beteiligen wollen. Voraussetzungen dafür sind ein grundlegendes Interesse an politischen Prozessen, das Bewusstsein, Einfluss nehmen zu können und eine Wertorientierung.
  2. Sie müssen sich beteiligen können, also Zeit, Geld und die Fähigkeit zur Partizipation haben.
  3. Sie müssen zur Beteiligung angeregt werden. Soziale Gruppen wie Vereine, Gewerkschaften oder Parteien bieten die Möglichkeit der politischen Teilhabe.

Im zweiten Teil des Buches werden Beteiligungsformen im „Vorfeld politischer Entscheidungen“ (89) analysiert. Darunter sind unter anderem „soziales Engagement“ (91), Mitarbeit in politischen Parteien (127) oder in Protestbewegungen (151) zu verstehen. Im dritten Teil geht es um die Formen der Beteiligung als politische Entscheidungen. Dazu gehören „Wahlen und Wahlbeteiligung“ (171), Volksentscheide sowie andere Formen der direkten Beteiligung.

Obgleich in Deutschland die Möglichkeiten der direkten Beteiligung nur begrenzt genutzt werden – so fand in über 50 Prozent der deutschen Kommunen noch nie ein Bürgerbegehren statt –, ist der Ruf nach direkter Demokratie laut. Direkte Beteiligungsformen haben jedoch auch negative Aspekte, die bedacht werden müssen. Neben der seltenen Nutzung bestehender Mittel der direkten Demokratie weisen die Autoren auf die hemmende Wirkung des Föderalismus in Deutschland hin. Mehr direkte Demokratie auf Bundesebene – unter Berücksichtigung der föderalen Mitspracherechte – würde nicht mehr Transparenz, sondern vielmehr einen höheren Komplexitätsgrad bedeuten. Zudem sind Informationsasymmetrien zwischen organisierten Interessen und einzelnen Bürgern, populistische Akteure, die komplexe Themen auf vermeintlich einfache Lösungen herunterbrechen, sowie die ungleiche Nutzung direktdemokratischer Beteiligungsformen Argumente, die einen Ausbau der direkten Demokratie kritisch erscheinen lassen. Bei all dem darf auch das Nichtwählen als eine mögliche Form der Bürgerbeteiligung nicht vergessen werden.

Im letzten Teil findet eine vergleichende Zusammenfassung statt. Was neue Beteiligungsformen tatsächlich leisten können, wird demnach häufig überschätzt. Aufgrund einer unzureichenden Datenbasis ist eine systematisch vergleichende Forschung derzeit kaum möglich. Die Effekte aus innovativen Beteiligungsformen lassen sich aktuell nur schwer messen. So können Beteiligungseffekte verzögert eintreten, was die Aufstellung einer eindeutigen Kausalkette erschwert. Die Wirkung von neuen Beteiligungsformen kann zudem methodisch nur sehr ungenau erfasst werden. Zusammenfassend wird somit festgestellt, dass die Auswirkungen innovativer Beteiligungsformen heutzutage nicht hinreichend bestimmt werden können. Es bedarf demnach mehr – vor allem – empirischer Forschung. Die Autoren plädieren zum Abschluss deshalb für ein Zusammenspiel von etablierten Mitteln der repräsentativen Demokratie und neuen Formen der Beteiligung.

Das Lehrbuch bietet einen sehr gelungenen Einstieg in das Thema und stellt vor allem für Studierende der Politikwissenschaft einen Mehrwert dar. Die Unterscheidung zwischen „Beteiligung im Vorfeld von politischen Entscheidungen“ und „im Zuge von politischen Entscheidungen“ ist äußerst zweckmäßig. Dadurch können die diversen Formen von Beteiligung und Partizipation gut unterschieden und analysiert werden. Sehr gelungen ist auch die Verknüpfung von theoretischen Grundlagen und empirischen Erkenntnissen. So gelingt es den Autoren, die Beteiligungsformen im Kleinen wie auch im gesellschaftlichen Kontext darzustellen. Die einzelne Beteiligung des Individuums wird ebenso beleuchtet wie die aggregierten Auswirkungen dieses Verhaltens auf die Gesellschaft.

Am Ende eines jeden Kapitels befinden sich Lernfragen, mittels derer das Wissen des jeweiligen Kapitels nochmals vergegenwärtigt werden kann.

 

CC-BY-NC-SA
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