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/ 03.06.2013
Bernd Fischer

Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Episoden aus der Konstruktionsgeschichte nationaler Intentionalitäten

Berlin: Erich Schmidt Verlag 1995 (Philologische Studien und Quellen 135); 351 S.; kart., 98,- DM; ISBN 3-503-03718-7
Diskussionen um einen "neuen Nationalismus" oder die "multikulturelle Gesellschaft" beruhen oft auf unterschiedlichen Standpunkten zu der Frage, was die Nation ist oder sein sollte. Fischer setzt sich mit dem Ursprung und der Entwicklung des deutschen Begriffs der Nation literaturgeschichtlich auseinander. Die Politisierung des Begriffs erfolgte in Deutschland in der Literatur - und nicht wie in den USA oder in Frankreich im Kontext bürgerlicher Revolutionen für Freiheit und Gleichheit. Zunächst strebte das deutsche liberale Bürgertum zwar mit der nationalen Einigung ebenfalls progressive, antifeudalistische Ziele an. Bald jedoch wurde der Nationbegriff vor dem Hintergrund französischer Besatzung und der Befreiungskriege durch einen romantischen, mythisch verklärten Nationalismus überlagert, der die politischen Ziele des liberalen Bürgertums diskreditierte und die deutsche Geschichte geprägt hat. Der Schwerpunkt Fischers liegt auf der Interpretation einschlägiger Texte der vier bekannten Autoren. Der Autor zeichnet anschaulich nach, wie Klopstock neben der Religion die Nation ins Zentrum einer kollektiven Identität gestellt hat, unter Rückgriff auf den Geist und die Motive der germanischen Mythologie. Klopstocks Verständnis vom Dichter als intellektuellem Propheten und sprachnationalem Dichter spielte eine entscheidende Rolle für Fichtes "Begriff einer philosophisch gesteuerten, deutschen Erneuerung" (322). Dessen Überformung des nationalen Diskurses mit der Philosophie des deutschen Idealismus führt Fischer zur Kernthese: Die "Verschränkung von intellektuellem (idealistischem) Programm und nationaler Idee der Dichotomie des Eigenen und des Fremden [schlägt um] in den weit radikaleren Gegensatz des Eigentlichen zum Minderen oder Falschen" (324). Kleists "Hermannsschlacht" (1809) ist die "radikalste literarische Version [...] einer idealistischen, nationalen Identität". In diesem Drama werden "die inhumanen Strukturen der nationalen Katastrophen der kommenden beiden Jahrhunderte vorgezeichnet." (326) Herders teils widersprüchliche Konzeption der Kulturnation als einer "historisch verbürgten Zusammengehörigkeit einer Sprachgemeinschaft" (323) prägt noch heute die deutsche Identität. Bezogen auf die Ursprünge des Nationbegriffs im Barock trifft Fischer eine Feststellung, die als eine historisch-politische Bewertung dieses deutschen Kulturerbes zutreffend erscheint: Die vermeintlich deutschen, antizivilisatorischen und antifranzösischen Werte wurden durch die Montage heute fremd erscheinender, altdeutscher Mythen von den betreffenden Autoren zu nationalen Identitätsangeboten geformt und so "für widerstreitende politische Diskurse verfügbar gemacht"; dies war auch eine Voraussetzung für die spätere propagandistische Vereinnahmung der Autoren (322), z. B. im Nationalsozialismus. Der Autor bekennt abschließend sein eigenes - entmythologisiertes - Verständnis der Nation: Sie ist "Reflex politischer Strukturen und benennt identifikatorische Funktionen innerhalb demokratischer Repräsentations- und Entscheidungsverfahren und Institutionen" (327).
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.352.3 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Bernd Fischer: Das Eigene und das Eigentliche: Klopstock, Herder, Fichte, Kleist. Berlin: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/1066-das-eigene-und-das-eigentliche-klopstock-herder-fichte-kleist_1029, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 1029 Rezension drucken
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