Armin Nassehi: Das große Nein. Eigendynamik und Tragik des gesellschaftlichen Protests
Armin Nassehi entwirft eine kultursoziologische Phänomenologie des Protestes, die keine Kritik am Protest beabsichtigt, sondern ihn – als soziale Tatsache – in seinem performativen Sinn und seiner Funktion bestimmt. Dafür entwickelt Nassehi einerseits eine Deutung gesellschaftlicher Folgen digitalisierter Kommunikation und stellt andererseits Spezifika der Protestkommunikation heraus. Das Internet ermögliche eine niedrigschwellige Form des Neins, sodass sich Protestkommunikation „im Netz technisch verstärken und verbreiten“ könne. Soziale Netzwerke stellten daher ein genuines Protestmedium dar.
Protest als Kommunikationsform
Wenn sich Armin Nassehi mit politischen Themen befasst, dann betont er gerne die Differenz zur Perspektive der Politikwissenschaft und insbesondere zu der der politischen Theorie. Während gerade Letztere dazu tendiere, gesellschaftliche Strukturen auf (letztlich korrigierbare) Entscheidungen zurückzuführen, ist für ihn funktionale Differenzierung „kein politisches Programm, sondern die Ausgangsbedingung dafür, Politik im Horizont ihrer gesellschaftlichen Funktion genauer beschreiben zu können“ (141).
Wie schon in „Die Wiedergewinnung des Politischen“, in der er sich mit Wahlverweigerung und Systemopposition befasste, bietet auch die aktuelle Studie, die Protest primär als Kommunikationsform begreift, „eher eine Soziologie des Politischen als politische Soziologie“ (152). Der damit verknüpfte Anspruch ist nicht so bescheiden, wie er zunächst klingen mag. Eine systemtheoretisch grundierte Beschreibung des Protestes reklamiert für sich große Realitätsnähe, weil sie sich stets auf die gesellschaftsstrukturellen Annahmen der Differenzierungstheorie beruft.
Aus dieser Sicht bildet die moderne Gesellschaft im Normalfall die Unterschiedlichkeit von Interessen, Perspektiven und sozialen Lagen institutionell über Verfahren und Organisationen ab. Der Eigensinn ihrer Routinen verleiht der Gesellschaft eine hohe Stabilität, gegen die der Protest operiert, „weil sich die gesellschaftliche Selbstbeschreibung eben nur von außerhalb der normierten Routinen irritieren lässt“ (113). Von dieser an Niklas Luhmann (1997, 853 f.) anschließenden Formulierung ausgehend, will Nassehi eine kultursoziologische Phänomenologie des Protestes entwerfen (47), die keine Kritik am Protest beabsichtigt, sondern ihn – als soziale Tatsache – in seinem performativen Sinn und seiner Funktion bestimmen möchte. Dafür entwickelt er einerseits eine Deutung gesellschaftlicher Folgen digitalisierter Kommunikation und stellt andererseits Spezifika der Protestkommunikation heraus.
Kultureller Trend verstärkt Nein-Stellungnahmen
Geht man – wie die Systemtheorie – davon aus, dass sich soziale Ordnung wesentlich über Kommunikationen herstellt, die immer auch mit dem Risiko abweichenden Neinsagens umgehen müssen, dann sind Protestpotenziale schon in der generellen Struktur von Kommunikation angelegt (13 ff.). Dabei stellen die Proteste, um die es in dieser Studie geht, eine spezifische Form von Negationen dar, die sich gegenüber den etablierten Verfahren der politischen Verarbeitung von Einsprüchen als angemessenere Form der Problemrepräsentation verstehen, die bewegungsförmig erfolgen und wesentlich auf öffentliche Aufmerksamkeit ausgerichtet sind (26 f.).
Nassehis These ist nun, dass sich die Wahrscheinlichkeit von Protesten mindestens aus zwei Gründen erhöht. Einerseits sind wir infolge der zunehmend digitalisierten Kommunikation mit einer „exponentiellen Ausweitung von Sprecherpositionen“ (37) konfrontiert. Andererseits spricht einiges dafür, von einem kulturellen Trend zur Etablierung von Nein-Stellungnahmen auszugehen (42). Auch wenn diese Nein-Stellungnahmen vielfach im Modus der ersten Person Singular vorgenommen werden, widerspricht Nassehi deutlich der Diagnose einer „Gesellschaft der Singularitäten“, wie sie Andreas Reckwitz vorgelegt hat (Reckwitz 2017). Diese verfehle, weil sie sich zu sehr auf das kulturelle Milieu urbaner Mittelschichten beziehe (47 ff.), den strukturellen Effekt, der von der Digitalisierung ermöglichten Symmetrisierung von Kommunikationsbedingungen erzeugt wird (63).
Wenn sich Sprecherpositionen nicht mehr durch die klassischen Institutionenarrangements einschränken lassen – übrigens ein Aspekt, den auch Philip Manow in seinem Essay „(Ent-)Demokratisierung der Demokratie“ hervorgehoben hat (2020,110 ff.) –, dann ist heute das Allgemeine die „Sagbarkeit von allem“ (59). Und das Internet bekräftigt durch die niedrigschwellige Form des Neins und die ebenso niedrigschwellige Form wechselseitiger Bestätigung das Erleben vollständiger Symmetrie der digital Interagierenden. Diese Kommunikation, eingebettet in Multiplikation von Perspektiven, beruht auf der Inszenierung authentischer Betroffenheit, lässt jede Frage zu einer ethischen Frage werden und verfügt nicht mehr über Stoppregeln für Nein-Stellungnahmen (50 ff.).
Nassehis generelle Diagnose lautet in diesem Zusammenhang: „Der Zugang ist so niedrigschwellig und die Form der Kommunikation so selbsttragend, dass letztlich Protestkommunikation gar nicht mehr auf bewegungsförmige Sozialformen angewiesen ist, sondern sich im Netz technisch verstärken und verbreiten kann.“ (64) Damit sind soziale Netzwerke nicht lediglich ein Medium für Proteste, sie stellen vielmehr eine genuines Protestmedium dar (129).
Paradoxien des Protestes
Vor dem Hintergrund des immer mitgeführten Bildes der funktional differenzierten Gesellschaft – deren Errungenschaft eben darin besteht, aufgrund der Vielfalt ihrer Perspektiven nicht aus einem Guss handeln zu können (68) – hebt Nassehi dann Elemente hervor, die den Protest als Sozialform charakterisieren. Weil Gesellschaft als Kollektiv nicht erreichbar ist, nimmt der Protest die aus strukturellen Gründen „unbesetzbare Rolle des Vetospielers ein“ (80). In dieser Rolle kann er – durch inhaltliche Vereinfachung und Emotionalisierung – als Generator von Themen fungieren, „die dann wie von selbst auf der Agenda stehen“ (95).
Die Protestformen, die Nassehi vor Augen hat, werden nicht von Organisationen mit stabilen Mitgliedschaften gebildet, es handelt sich eher um Netzwerke mit loser Kopplung. Zu ihrer Operationsweise gehört einerseits die Wahl von Themen, an die viele anschließen können und andererseits die Niedrigschwelligkeit des Zugangs (98). Das sich daraus ergebende Bestandsproblem müssen Protestformen mit eigenen kommunikativen Schemata lösen. Das soll wesentlich eine charismatische Pose leisten, die gegenüber der Gesellschaft nachdrücklich behauptet, dass es stets ums Ganze geht, und mit Blick auf die Protestbeteiligten die Funktion erfüllt, „sich wechselseitig darin zu bestätigen, in der Haltung dem Rest der Gesellschaft überlegen zu sein“ (105).
Weil Protest seine Grenze in der Motivation der Teilnehmenden hat, ist er auf Steigerungslogiken angewiesen. Das können semantische Aufrüstungen sein, aber fallweise ebenso – abhängig von spezifischen Situationen – der Wechsel zum Einsatz von Gewalt (111 ff.). In dieser Konstellation, die die Diskrepanz zwischen imaginierter Möglichkeit und umsetzbarer Wirklichkeit ausdrückt, sieht Nassehi eine latente Tragik: Selbst erfolgreicher Protest muss sich „stets anders durchsetzen […], als es die Protestsemantik, insbesondere nach einigen Eskalationsstufen, vorsieht“ (119).
Diese Ambivalenz des Protestes betrifft auch dessen Verhältnis zum demokratischen Prozess. Als „Selbstermächtigung ohne demokratisch erworbenes Mandat“ (149) kann Protest den etablierten Machtkreislauf unterbrechen und durch die öffentlichkeitswirksame Platzierung von Themen den Möglichkeitsspielraum politischer Entscheidungen ausloten. Er wäre dann ein Demokratiegenerator, wenn dies auf eine Weise geschieht, die mit den demokratischen Verfahren kompatibel bleibt (148). Für Nassehi ist indes die konträre Variante einer vom Protest ausgelösten Demokratiegefährdung eine empirische Frage, weil – wie das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen zeige – Demokratie „auch die demokratischen Möglichkeiten von Antidemokraten“ (151) einschließt.
Fazit
Der von Nassehi gewählte Zugang einer phänomenologischen Analyse des Protestes als Kommunikationsform eröffnet durchaus erhellende Einblicke in dessen performative Funktionsweise. Die Verknüpfung mit zeitdiagnostischen Überlegungen hinsichtlich der protestgenerierenden Effekte digitalisierter Kommunikation erscheint plausibel und wird zweifellos Thema weiterer Untersuchungen sein. Allerdings kann eine empirische Analyse konkreter Protestereignisse (wie Pegida oder Fridays for Future) – zumal unter dem Gesichtspunkt ihrer Kompatibilität mit demokratischen Verfahren – nicht von der inhaltlichen Dimension des jeweils verfolgten Themas absehen. Dem würde Armin Nassehi gewiss nicht widersprechen.
Literatur
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main Suhrkamp
Manow, Philip (2020): (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. Suhrkamp-Verlag, Berlin
Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin Suhrkamp
Repräsentation und Parlamentarismus
Lektüre
Armin Nassehi
Die Wiedergewinnung des Politischen. Eine Auseinandersetzung mit Wahlverweigerung und kompromisslosem Protest
Sankt Augustin/Berlin 2016, Herausgeberin: Konrad-Adenauer-Stiftung e. V., Politik denken, Band 1
zum Thema
Demokratie gestalten – zum Verhältnis von Repräsentation und Partizipation