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Rezension / 10.09.2021

Michael Koß: Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen

München, dtv 2021

In „Demokratie ohne Mehrheit?“ plädiert Michael Koß für mehr Offenheit gegenüber der Bildung einer Minderheitsregierung, auch auf Bundesebene. Hiermit legt er einen wichtigen Debattenbeitrag zum richtigen Zeitpunkt vor, applaudiert unser Rezensent Sven Jochem. Dennoch kritisiert er an Koß‘ Argumentation, dass sie sich zu stark auf eine vermutete gesellschaftliche Spaltung stütze und die Unterschiede zwischen den skandinavischen Demokratien und ihrer langen Erfahrung mit Minderheitsregierungen einerseits sowie den politischen Systemen der deutschsprachigen Länder andererseits vernachlässige. 

BTW-Schwerpunkt: Gespaltene Gesellschaft

Michael Koß, Politikwissenschaftler der Leuphana Universität zu Lüneburg, legt mit „Demokratie ohne Mehrheit? Die Volksparteien von gestern und der Parlamentarismus von morgen“ kein im strengen Sinne des Wortes wissenschaftliches Buch vor, eher publiziert er einen Debattenbeitrag für die breite Öffentlichkeit. Insofern besticht das Buch nicht durch wissenschaftliche Darstellungen oder eine breite und tiefgehende Verweisarbeit, sondern, rechtzeitig vor der Bundestagswahl 2021, durch realpolitische Denkanstöße. Die reich an Metaphern ausgefallene Präsentation der Argumente macht das facettenreiche Thema für einen breiten Leserkreis zugänglich und anregend.

Zentrale These des Buches ist, dass gesellschaftliche Mehrheiten immer schwieriger zu organisieren seien. Daher sollten nach Einschätzung des Autors nicht direktdemokratische Abstimmungen weiter gestärkt werden, sondern die Parteien innerhalb der parlamentarischen Demokratie. Koß formuliert sehr anschaulich seine prophylaktischen Therapievorschläge in Analogie zu Ratschlägen der Medizin für eine gesunde Lebensführung: „weniger Fett essen (keine Plebiszite), mehr Gemüse (Information durch Transparenz) und regelmäßige Bewegung (Ausweitung des Wahlrechts auf den Kreis [der] dauerhaft Anwesenden)“ (216). Dabei verbindet er diese Forderungen mit seinem nachdrücklichen Werben für Minderheitsregierungen als realistische Alternativen zur gängigen Regierungsbildung in Deutschland.

Das Buch blickt vor allem auf die Situation in Deutschland und in Österreich, selten werden vergleichende Perspektiven über diese beiden Länder hinaus angeboten. Nach der Einleitung fokussiert Michael Koß den von Seymour Martin Lipset und Stein Rokkan stammenden Konfliktlinien-Ansatz. Seine These lautet, dass die Konfliktlinien „auftauen“, fluide werden, auch weil die einhegende Wirkung des Ost-West-Systemwettbewerbs auf gesellschaftliche Konfliktpotentiale entfallen sei. Daher könnten, wie Koß im dritten Kapitel darlegt, sogenannte Renegaten, also Grenzübertreter des parlamentarischen Status quo und öffentlichkeitsfokussierte Lichtgestalten, die politischen Spielregeln verschieben. Hierbei knüpft er (für meine Wahrnehmung etwas oberflächlich) an die von Dieter Thomä eingeführte Metapher des puer robustus, also des Störenfrieds, an, der ideengeschichtlich bei Thomä eingeordnet und realpolitisch facettenreich ausdifferenziert wird. Im dritten Kapitel präsentiert Michael Koß Persönlichkeitsskizzen von ehemaligen und zeitgenössischen Renegaten beider Parteiensysteme.

Wird dieser erste analytische Teil mit „Gesellschaftliche Mehrheiten“ überschrieben, firmiert der zweite Teil unter der Überschrift „Politische Mehrheiten“. Im vierten Kapitel wird eine kurze Geschichte deutscher und österreichischer Volksparteien erzählt. Hier ist der Autor skeptisch, ob die ehemalige Dominanz zweier zentripetaler Volksparteien der Mitte (Sozialdemokratie beziehungsweise Christdemokratie) unter veränderten Vorzeichen (Auftreten von grünen Parteien beziehungsweise von FPÖ und AfD) Bestand haben könnte. Eher sieht er den Trend zu einer sich aufsplitternden Parteienlandschaft gegeben, die er als Polarisierung wahrnimmt und die für ihn besondere Formen und Institutionen der Mehrheitsbildung erforderlich macht. Diese werden im fünften Kapitel diskutiert. 

Michael Koß führt darin vollkommen zu Recht aus, dass Mehrheiten zu unterschiedlichen Zeitpunkten um den Wahlprozess herum geschmiedet werden können: vor der Wahl durch Allianzen, also durch im Wahlkampf festgelegte Partnerschaften mit konkreten Koalitionszusagen oder nach der Wahl durch Koalitionsverhandlungen – oder eben durch projektbezogene, variierende Mehrheiten im Gesetzgebungsprozess durch Minderheitsregierungen. Der Autor präferiert Minderheitsregierungen, sieht er dadurch doch das Parlament als zentralen Ort demokratischen Regierens aufgewertet.

Teil 3 des Buches ist mehrheitsbildenden Maßnahmen gewidmet. Im sechsten Kapitel führt Michael Koß aus, weshalb Plebiszite nicht die parlamentarische Demokratie ergänzen, sondern im Kern gefährden. Hier argumentiert er, dass eine polarisierte Gesellschaft polarisierende Volksentscheide durchführen kann, weil – wie Max Weber dies bereits ausführte – Volksentscheide eines nicht kennen: den Kompromiss. Wichtiger sind ihm daher die bereits oben aufgeführten Ziele einer umfassenden Transparenz der Parteien, der Parteienfinanzierung sowie des parlamentarischen und exekutiven Lobbyismus. Und er führt ferner aus, dass breite Bevölkerungsschichten in Deutschland und Österreich zwar als „Alteingesessene“, als Migrant*innen, die bereits vor Jahren und Jahrzehnten in die beiden Länder kamen, mittlerweile im kulturellen und gesellschaftlichen Leben mehr oder weniger gut integriert seien. Dies gelte aber nicht für den demokratischen Akt des Wählens, da nur wenige von ihnen die genuinen Staatsbürgerrechte erworben hätten. Auch hier sieht Koß Handlungsbedarf, insofern er dafür plädiert, dauerhaft Ansässigen das Wahlrecht zuzugestehen, unabhängig davon, ob sie Staatsbürger*innen geworden seien. 

Im abschließenden siebten Kapitel werden die zentralen Forderungen des Autors mit einer Handreichung für politisch aktive Menschen versehen. Denn Koß erscheint es wichtig, dass sie eine Portion Gleichmut und einen langen Atem haben müssen; gleichwohl sollten sie ihre Aktivitäten zielführend auf die Parteien und die Parteienlandschaft ausrichten, weniger auf direktdemokratische Mechanismen. 

Vielem in dem Buch von Michael Koß kann voll und ganz beigepflichtet werden. So ist sein Blick auf die Parteien beziehungsweise die aktiven Menschen in den Parteien gerade in einer Zeit wichtig, in der die Zahl der Parteimitgliedschaften immer stärker zurückgeht. Ebenso gut begründbar erscheint mir seine Skepsis gegenüber direktdemokratischen Beschlüssen, und ich teile mit Nachdruck seine Forderung nach einer Ausweitung der Wählerbasis. Allerdings ist Michael Koß an dieser Stelle zu oberflächlich, wenn er von „Alteingesessenen“ spricht. Hier hätte von ihm offensiv die Thematik der staatbürgerlichen Integration diskutiert werden müssen. Gerade in den beiden deutschsprachigen Demokratien sind die Nachwehen des ius sanguinis offensichtlich. Einer raschen Einbürgerung werden immer noch hohe Hürden in den Weg gestellt. Dass es anders geht, dies kann ein Blick nach Schweden zeigen; dort wird unkompliziert die Staatsbürgerschaft verliehen und so die Integration von Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur zivilgesellschaftlich und kulturell gefördert, sondern eben auch staatsbürgerrechtlich – flankiert übrigens von einem eigenständigen Integrationsministerium.

Diese und weitere Details könnten weiter gewinnbringend diskutiert werden. Ich möchte mich jedoch auf zwei Punkte in der Argumentationskette von Michael Koß konzentrieren, die mir besonders diskussionswürdig erscheinen: die These der gesellschaftlichen Polarisierung und das meiner Einschätzung nach verkürzt und disharmonisch vorgetragene Loblied auf Minderheitsregierungen. 

Erstens ist die gesellschaftliche und politische Polarisierungsthese quasi sozialwissenschaftliches Gemeingut, sie wird aber nur selten überzeugend empirisch unterfüttert. Eine gesellschaftliche und parteipolitische Polarisierung unterminiere nach Koß die Funktionsweise moderner Demokratien, vor allem würden Anti-System-Parteien den demokratischen Grundkonsens herausfordern. Wer eine historische Perspektive einnimmt, wird attestieren können, dass die Konflikte in den 1960er Jahren durchaus heftig und zentrifugal waren. Und in Deutschland ist mit der CSU stets eine Partei wirkmächtig gewesen, die populistischen Versuchungen nur schwerlich widerstehen konnte. (Hier denke man nur an Franz Josef Strauß oder den späten Horst Seehofer.) 

Für Michael Koß ist die Polarisierung eng mit dem Vorhandensein sogenannter Anti-Parteien verknüpft. Diese werden als illoyale Oppositionsparteien definiert, die nicht bereit seien, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Hierzu zählt der Autor zum Beispiel die Grünen bis 1991 (warum eigentlich nicht bis 1985, als es in Hessen zur ersten grünen Regierungsbeteiligung auf Landesebene kam?), die AfD sowie die Linkspartei; für Österreich nennt der Autor einzig die FPÖ (54 f.). 

Hier wird durch definitorische Willkür ein empirisches Bedrohungspotenzial konstruiert, das einer genauen Analyse schwerlich standhält. Denn auf Landesebene hat die Linkspartei selbstredend Verantwortung übernommen. Und die AfD wäre bereit gewesen, als Unterstützerin einer Minderheitsregierung in Thüringen zu fungieren (und warum die FPÖ als Anti-Partei gezählt wird, erschließt sich mir vor dem Hintergrund ihrer doch zeitlich umfassenden Regierungsbilanz nicht). Wer den Blick ins Ausland schweifen lässt, der wird, ob er oder sie das politisch goutiert oder nicht, schnell sehen, dass die sogenannten Anti-Parteien durchaus Regierungsverantwortung übernehmen: Die Schweiz, Norwegen, Finnland sind nur wenige Beispiele einer langen Reihe. Kurzum: Diese definitorische Konstruktion einer Anti-Partei sowie eine derart ungenügend unterfütterte empirische Annäherung an das Phänomen einer vermeintlichen Polarisierung überzeugt nicht.

Zudem geht bei Michael Koß der Begriff der Polarisierung Hand in Hand mit dem Begriff der Fragmentierung. Die zunehmende Anzahl der effektiven Parteien in einem Parlament kann mit guten Gründen auch als ein Phänomen der Pluralisierung von zunehmend diversen Gesellschaften nach dem Ende starrer Volksparteien gesehen werden. Es ist nicht die Fragmentierung, die ein Problem des mehrheitsdemokratischen Regierens darstellt, sondern die Segmentierung. Erst wenn Parteien sich abschließen, sich meist unterfüttert mit überzogener moralischer Argumentation einem Kompromiss verschließen („Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, so der FDP-Chef Christian Lindner 2017), wenn Verhandlungen zwischen Parteien als nicht denkbar dargestellt werden (wie lange Zeit und zum Teil immer noch zwischen SPD und Linkspartei), erst dann wird aus einer Pluralisierung, einer Fragmentierung eines Parteiensystems ein segmentiertes Parteiensystem, bei dem Verhandlungen über die Parteigrenzen hinweg erschwert und das Finden von Mehrheiten blockiert werden.

Hier darf an die Erfahrungen der finnischen Demokratie erinnert werden. Dort herrschten zum Teil übergroße Koalitionen, in denen sich ehemalige Kommunist*innen und säkular-konservative Parteimitglieder als „strange bed-fellows“ (David Arter) in einer Regierung zusammenraufen mussten. Pragmatismus, Kompromiss und keine moralisch-programmatische Überhöhung der eigenen Politik sind Kennzeichen dieser nordischen Demokratie. Und ja, in der Gesellschaft selbst wäre auch die Akzeptanz wichtig, dass Parteiprogramme nicht unbedingte Versprechen auf eine Realisierung sind (die dann nur „geliefert werden müsse“, wie es in jüngster Zeit oft im SPD-Jargon formuliert wurde), sondern Leitideen, die immer von fragiler politischer Unterstützung abhängig sind und daher unter politischem Vorbehalt stehen.

Zweitens singt Michael Koß das Hohelied des fluiden Regierens in Minderheitsposition, allerdings mit disharmonischen Tönen. Ohne Frage kann auch ohne parlamentarische Mehrheit regiert werden, ein Blick in die Bundesländer zeigt dies. Ohne Frage ist gerade in Verhandlungsdemokratien wie in Deutschland und Österreich die Kunst des Verhandelns stark ausgeprägt. Bundesdeutsche Regierungen müssen nicht nur mit Oppositionsparteien in den Ausschüssen verhandeln, vor allem die Verhandlungen mit dem Bundesrat und den dort befindlichen Oppositionsparteien der Bundesebene sind ein Kerncharakteristikum der bundesdeutschen Verhandlungsdemokratie. Hinzu kommt das breite Feld sozialpartnerschaftlicher Verhandlungsnotwendigkeiten. Daher wäre zumindest in Deutschland das Feld für eine Minderheitsregierung auf Bundesebene gut bestellt, wären da nicht die feinen institutionellen Besonderheiten des negativen Parlamentarismus.

Michael Koß verweist auf die Institutionen des negativen Parlamentarismus, wie sie vor allem in den skandinavischen Ländern (Dänemark, Norwegen, Schweden) vorzufinden sind. Auf Seite177 führt er vorschnell aus, dass die „für Minderheitsregierungen so wichtigen Regeln des negativen Parlamentarismus [...] in Deutschland und Österreich vorhanden“ seien. Dies belegt der Autor vor allem mit Argumenten zur Investitur einer Minderheitsregierung. In Österreich sei die Investitur nach einer Wahl nicht zwingend notwendig, solange kein Misstrauensvotum die bestehende Regierung zu Fall bringe (ein parlamentarisches Verfahren, das so auch in Norwegen vorzufinden ist). Und in Deutschland kann durch die Hintertür des Artikel 63 Absatz 4 GG und mit Zustimmung des Bundespräsidenten eine Minderheitsregierung die Regierungsgeschäfte übernehmen. Aber diese Regeln der Investitur stellen nur eine Seite des negativen Parlamentarismus dar, wahrlich nicht die wichtigste.

Minderheitsregierungen werden im negativen Parlamentarismus vielfältig institutionell abgesichert. Zum einen kann die Minderheitsregierung in einem solchen System, wird sie von der Opposition an der Nase herumgeführt (was in der nordeuropäischen Realität sehr oft zu beobachten ist, wenn Oppositionsparteien der Minderheitsregierung Gesetze aufzwingen oder ihr gar den Haushalt aufoktroyieren), rasch auf Neuwahlen dringen. Diese Option ist zumindest in Deutschland nicht so einfach gegeben. Zum anderen – und aus der Perspektive des Parteienwettbewerbs viel wichtiger – ist die strategische Funktion der Enthaltungen bei parlamentarischen Abstimmungen anzuführen. Mit der Enthaltung können die Unterstützungsparteien das Regieren der Minderheitsregierung ermöglichen, weil dann die relative Mehrheit an Parlamentsstimmen ausreicht, um ein Gesetz zu verabschieden. Zentral ist im negativen Parlamentarismus, dass keine Mehrheit gegen ein Gesetz oder die Regierung stimmt. Diese Regel des negativen Parlamentarismus existiert definitiv weder in Deutschland noch in Österreich. Und erst mit einer solchen Abstimmungsregel werden Minderheitsregierungen erleichtert, können so die Unterstützungsparteien doch ihr strategisches Gesicht wahren (sie enthalten sich der Stimme), die Regierung unterstützen und ihren Einfluss auf die Policygestaltung maximieren. Denn aus welchem strategischen Ziel heraus sollte man Minderheitsregierungen anstreben, wenn die Unterstützungsparteien sowieso bei Reformen explizit mit der Minderheitsregierung stimmen müssten? 

Michael Koß zeichnet zudem ein Bild von Minderheitsregierungen, das Kaare Strøm in seiner bahnbrechenden Studie zu den Minderheitsregierungen aus dem Jahre 1990 (diese Studie vermisst man im Literaturverzeichnis bei Michael Koß) als „substanzielle Minderheitsregierung“ bezeichnet hat: Er geht davon aus, dass eine Partei (der Mitte) in der Lage ist, ihre hegemoniale Position auszunutzen, da ohne sie nicht effektiv regiert werden kann. Entsprechend gelingt es ihr, nach dem Prinzip des divide et impera die kleineren Parteien im Parteienspektrum je nach Thema und Zielsetzung als Unterstützungsparteien auszuwählen und so die Oppositionsparteien gegeneinander auszuspielen. Zentral ist dabei die Macht eines Hegemons im Parteienwettbewerb; in Nordeuropa waren dies lange Zeit sozialdemokratische Parteien mit einem Stimmenanteil über 40 Prozent. Diese Machtverhältnisse sind Geschichte, sowohl in Nordeuropa als auch in den beiden deutschsprachigen Demokratien. 

Heute dominieren Minderheitsregierungen in Nordeuropa, die von Kaare Strøm als funktionale Minderheitsregierungen bezeichnet werden. Dort wird ohne parlamentarischen Hegemon und ähnlich wie in einem Koalitionsvertrag eine Vereinbarung mit den Unterstützungsparteien zu konkreten Politikzielen geschlossen, die über die Legislaturperiode Bestand haben soll. Die oppositionellen Unterstützungsparteien können „Beobachter“ in die Ministerien entsenden, haben aber keine Ministerposten inne. Warum sie das tun? Einfach um politisch mitzubestimmen, ohne die Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit und dem Wahlvolk übernehmen zu müssen. Eindringlichstes Beispiel hierfür ist Dänemark, wo zu Beginn des Jahrhunderts die Dänische Volkspartei als Unterstützungspartei der schwachen formalen Minderheitsregierungen zahlreiche innenpolitische Reformen aufzwingen konnte, gleichwohl aber in der medialen Öffentlichkeit weiterhin den Duktus der Oppositionspartei perfektionierte. 

Minderheitsregierungen sind von anspruchsvollen institutionellen und strategischen Anforderungen abhängig. Auch für nordeuropäische Minderheitsregierungen sollte die programmatische und strategische Promiskuität der Parteien nicht überschätzt werden. Politik sucht planbare Sicherheit, hiernach streben auch und gerade Parteien in Regierungsverantwortung. Funktionierende Minderheitsregierungen sind ferner abhängig von einer Grundeinstellung der Politik, die auf den Begriff des Pragmatismus gebracht werden kann. Solange in der deutschen Politik schablonenhaft in programmatischen Grenzen und mit unüberwindlichen Vorbehalten gedacht wird, solange wird jegliche Mehrheitsfindung problematisch werden. Was es in der deutschen Politik und Öffentlichkeit braucht, ist die aktive Akzeptanz einer pluralistischen Demokratie mit zahlreichen Parteien und zahlreichen Koalitionsmöglichkeiten, die pragmatisch nicht von vornherein ausgeschlossen werden. Gesellschaft und Politik sollten Pluralität in einer diversen Gesellschaftsordnung auch im Bereich der Politik akzeptieren, und die Parteien sollten pragmatischer bereit sein, über programmatische Grenzen hinweg zu koalieren. Dann wäre das Regieren auch mit parlamentarischer Mehrheit weiterhin möglich. 

Das Debattenbuch von Michael Koß kommt vor der Bundestagswahl 2021 zur rechten Zeit und setzt einen wichtigen Ton in den Debatten des Wahlkampfes und vor allem in den zukünftigen Debatten einer möglichen Koalitionsbildung in Deutschland. Wichtigen Punkten seiner Forderungen sind vorbehaltlos zuzustimmen. Aber es ist auch deutliche Kritik anzubringen, wenn es um die Darstellung einer gesellschaftlichen und parteipolitischen Polarisierung sowie um die etwas unterkomplexe Darstellung des Regierens in der Minderheitsposition geht. Aber gerade diese zum Widerspruch anregende Darstellung ist ja die Funktion eines Debattenbuches. Und insofern ist Michael Koß eine große Zahl von Leserinnen und Lesern zu wünschen – und eine beherzte und kontroverse Debatte über seine realpolitischen Denkanstöße!

 

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