Toralf Stark: Demokratische Bürgerbeteiligung außerhalb des Wahllokals. Umbrüche in der politischen Partizipation seit den 1970er-Jahren
Toralf Stark fragt, wodurch sich politisches Handeln bestimmt. Hierfür untersucht er das Partizipationsverhalten von den 1970er-Jahren bis zum Jahr 2008 in sieben westlichen Ländern. Im Mittelpunkt steht die sozialökonomische Dimension. Die Analyse bestätigt den Trend, dass sozial Schlechtergestellte sich sukzessive von der etablierten Politik abwenden, weil sie sich dort nicht mehr vertreten fühlen. Zur Diskussion stehe, wie sich das schwindende Vertrauen in die Institutionen auf die Beteiligungsneigung und die Auswahl der Partizipationsformen auswirkt.
In seiner von der Universität Duisburg-Essen angenommenen Dissertationsschrift fragt Toralf Stark nach den Determinanten, die politisches Handeln – vor allem unkonventionelle Formen politischer Beteiligung – beeinflussen. Hierfür untersucht er das politische Partizipationsverhalten von den 1970er-Jahren bis zum Jahr 2008 in sieben westlichen Industrienationen: im Vereinigten Königreich, in den Niederlanden, den Vereinigten Staaten von Amerika, in Deutschland, Österreich, Finnland und Italien. Beginnend mit einem umfassenden Theorieteil arbeitet Stark schlüssig heraus, welche Bedeutung politische Beteiligung für das demokratische System hat. Den Fokus seiner Untersuchung legt der Autor auf die sozialökonomische Dimension, wonach ein*e Bürger*in sich „nur angemessen am politischen Willensbildungsprozess beteiligen kann, wenn er[/sie] über die notwendigen Ressourcen verfügt und gesellschaftlich integriert ist“ (108). Die veränderten individuellen Lebensumstände der Bürger*innen sowie ihre Wertestruktur – resultierend aus der ökonomischen Entwicklung – müssten sich demnach im Partizipationsverhalten widerspiegeln, so die These.
Stark schließt damit an die umfassende Partizipations- und Protestforschung an, die vor allem in jüngster Zeit auch Fragen sozialer Ungleichheit wieder thematisiert. Nach den Befunden von Armin Schäfer (Der Verlust politischer Gleichheit. Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet, 2015) und Lea Elsässer (Wessen Stimme zählt, 2018) wenden sich sozioökonomisch Schlechtergestellte seit einigen Jahren sukzessive von der Politik ab, weil sie das Gefühl haben, dort kein Gehör mehr zu finden. Starks ländervergleichende Langzeitanalyse, für die er auf Daten aus den Political Action-Studien sowie aus den Europäischen Wertestudien (und für die USA auf die Weltwertestudie) zugreift, bestätigt diesen Trend. Sie zeigt darüber hinaus auch auf, dass die politische Beteiligung zunehmend /index.php?option=com_content&view=article&id=41317orientiert erfolgt, wobei die Bürger*innen mehr als früher konventionelle Beteiligungsmöglichkeiten (Wahlen oder die Mitarbeit in Parteien) mit legal-unkonventionellen Varianten (beispielsweise der Teilnahme an einer genehmigten Demonstration) kombinieren. Abgesehen davon und von der Erkenntnis, dass für die Faktoren Bildungsgrad, Einkommen und individuelle Schichtzugehörigkeit in allen untersuchten Ländern der prognostizierte Einfluss nachgewiesen werden konnte, stellte Stark allerdings keine länderübergreifenden Muster fest.
Es würde sich daher lohnen, für weitere Studien die sieben Länder auch auf Zusammenhänge zwischen Beteiligungsverhalten und Strukturen wie Wahlpflicht, institutionelle Partizipationshürden und dergleichen hin zu analysieren. Starks Dissertation konnte dies zwar nicht leisten, bietet aber eine wichtige Richtigstellung der von Gabriel Almond und Sidney Verba einst ausgerufenen „Partizipationsexplosion“. Viel eher sei von einer „Partizipationsevolution“ (457) zu sprechen, so Stark, weil die Bürger*innen zwar aus einem größeren Instrumentarium an Beteiligungsformen schöpfen könnten, dies allerdings nicht bei allen zu einer umfassenderen Teilnahme am politischen Prozess führe.
Für Deutschland konstatiert der Autor für den Untersuchungszeitraum die „Entdeckung politischer Partizipation“ (222) sowie „Antipoden zwischen linken Aktivisten und rechten Protestlern“ (335). Aus den passiven Bürger*innen der Nachkriegsjahre seien im Rahmen der partizipativen Revolution seit den 1970er-Jahren Aktivbürger*innen geworden, die das vergrößerte Partizipationsrepertoire verstärkt nutzen. Auffallend sind vor allem jüngere Daten zur politischen Kultur: Während 1999 noch knapp drei Viertel der Befragten mit der Demokratie der Bundesrepublik zufrieden sind, sinkt dieser Anteil zum Untersuchungszeitpunkt 2008 auf nur mehr 55,8 Prozent. Da Demokratiezufriedenheit in der politischen Analyse mit dem Vertrauen in die politischen Institutionen verknüpft wird, steht für Stark zur Diskussion, „inwieweit sich diese Einstellung auf die Auswahl politischer Partizipationsformen auswirkt“ (338). In der politikwissenschaftlichen Theorie wird davon ausgegangen, dass Unzufriedenheit mit den politischen Repräsentant*innen die Bürger*innen eher motiviert, ihren Einfluss auch abseits der Wahlen geltend zu machen, während eine allgemeine Unzufriedenheit mit der Demokratie die Beteiligungsneigung mindert.
Mangels Einbezug der Europäischen Wertestudie 2017 muss für diese Überlegungen aber leider auf aktuellere als Starks Untersuchung zurückgegriffen werden. Außerdem fehlen durch die Begrenzung der Analyse auf das Jahr 2008 auch Einblicke, die die Veränderungen durch die Finanzwirtschaftskrise und ihre Auswirkungen auf die ökonomische Entwicklung – und damit auf die sozialökonomische Dimension der Beteiligungsforschung – seither aufgreifen würden. Nichtsdestotrotz bietet die Dissertationsschrift einen profunden Überblick über den State of the Art der Beteiligungsforschung und lädt zu weiteren Studien ein.
Repräsentation und Parlamentarismus
Digirama
Frank Decker / Volker Best / Sandra Fischer / Anne Küppers
Vertrauen in Demokratie. Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?
Friedrich-Ebert-Stiftung 2019 (Für ein besseres Morgen)
Informationen zum Forschungsnetzwerk
Europäische Wertestudie und European Values Study (EVS)
Rezension
{BID=40824} „Wer einer unteren sozialen Klasse angehört, hat eine geringere Chance darauf, dass seine oder ihre Anliegen politisch umgesetzt werden“, lautet das Argument von Lea Elsässer, die mit ihrer Dissertation nachweist, dass in Deutschland eine starke soziale Schieflage in der politischen Repräsentation besteht. So zeigt ihre Analyse sozialpolitischer Entscheidungen von 1980 bis 2013, dass diese deutlich zugunsten der oberen Berufsgruppen ausfielen. Die politischen Anliegen der unteren sozialen Schichten hingegen wurden im Untersuchungszeitraum von keiner Regierungspartei in den politischen Prozess getragen.
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