Der Handlungsraum wird vermessen. Zwanzig Jahre Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft
In seinem Vortrag blickt Rupert Graf Strachwitz auf die Anfänge und den Wandel der als Dritter-Sektor-Forschung begonnenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen. Er skizziert die Entwicklung und Arbeitsschwerpunkte des von ihm 1997 gegründeten Maecenata Instituts für Philantropie und Zivilgesellschaft; damit bietet sich zugleich ein Einblick in ein äußerst dynamisches Forschungsfeld.
Im November 1990 betrat ein Mann namens Helmut Anheier das Münchner Büro der Maecenata Management GmbH, einer Gesellschaft, die ich anderthalb Jahre zuvor gegründet hatte. Mein Ziel war gewesen, in dem mir aus langer haupt- und ehrenamtlicher Tätigkeit wohlbekannten gemeinnützigen Bereich drei Dinge zu verbessern, die, wie ich fand, im Argen lagen: Strukturen, Konzepte und theoretische Grundlagen gemeinwohlorientierten Handelns. Inzwischen hatte ich den Auftrag angenommen, erstmals in der deutschen Geschichte ein Gesamtverzeichnis der deutschen Stiftungen herauszugeben. Letzte regionale Verzeichnisse waren 1910 für Sachsen und 1913 für Bayern erschienen, für Preußen übrigens nie. Von der in der DDR 1952/53 durchgeführten Erfassung (mit dem Ziel der Beseitigung der Stiftungen) wussten wir damals noch nichts. Als Anheier uns besuchte, befand sich dieses Projekt auf der Zielgeraden. Die Daten, die er von uns erbat, konnte er also bekommen. Was mich aber elektrisierte, war, wofür er sie haben wollte. Es war für das von Lester Salamon und ihm geleitete Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project – der erste Versuch, den ganzen gemeinnützigen Sektor auf nationaler Ebene quantitativ zu erfassen und die Ergebnisse international zu vergleichen und damit mess- und sichtbar zu machen. Hierzu wurden zunächst Kriterien und Definitionen erarbeitet und eine Systematik entwickelt. Denn Fragen, die uns heute fast banal erscheinen, waren damals nie gestellt worden, etwa: Wer gehört denn dazu? Gibt es überhaupt so viele Gemeinsamkeiten, dass man von einem Sektor sprechen kann?
Manches von dem, was in einem großen internationalen Forscherteam von 1989 bis 1995 erarbeitet wurde, ist heute naturgemäß überholt. Aber bis heute bleibt es für uns und andere ein Referenzprojekt. Das kleine Pfund der deutschen Stiftungsdaten, mit dem wir damals wuchern konnten und die in dieses Projekt einflossen, war für mich der Anstoß zu weiterer wissenschaftlicher Bearbeitung dieses zuvor geistes- und sozialwissenschaftlich fast unbekannten Themenfeldes. Von der Veröffentlichung erster Auswertungen aus unserer Stiftungsdatenbank über die Mitwirkung an der ersten internationalen Stiftungsforschungskonferenz in Paris, beides 1994, bis zur Leitung des deutschen Beirats des John-Hopkins-Projekts in seiner zweiten Phase ab 1995 wurde es der Beginn einer wissenschaftlichen Entdeckungsfahrt, an der zahlreiche Kolleginnen und Kollegen – zu nennen sind ganz besonders Annette Zimmer, Eckhard Priller, inzwischen wissenschaftlicher Co-Direktor des Instituts, und Stefan Toepler – teilhatten. So entstand die Idee, ein eigenständiges Forschungsinstitut zu gründen, das sich auf dieses Thema konzentriert. Im Herbst 1997 wurde es gegründet. Arbeitsort wurde Berlin.
Von Anfang an war klar: Es ging nicht um ein Institut für Stiftungsforschung, sondern die Stiftungsthematik musste eingebunden sein in das größere Thema, das man damals den Dritten Sektor nannte. So hieß das Institut auch zunächst „Maecenata Institut für Dritter-Sektor-Forschung“; erst 2003 erhielt es seinen heutigen Namen. Auch unter dem neuen Namen blieb freilich die Vorstellung von drei Arenen erhalten.
Drei Forschungsschwerpunkte sind seit der Gründung mit kleinen eher semantischen Änderungen in den Bezeichnungen unverändert geblieben: „Theorie und Praxis der internationalen Zivilgesellschaft“, „Zivilgesellschaft und Staat“ sowie „Philanthropie und Stiftungswesen“. Erst 2017 ist angesichts der Veränderungen im gesellschaftlichen Umfeld ein vierter Schwerpunkt hinzugetreten: „Zivilgesellschaft und Markt“. Nach wie vor steht aber ein gesellschafts- oder auch demokratietheoretischer Ansatz im Vordergrund. Politikwissenschaftliche und soziologische Fragestellungen stehen nebeneinander.
Nach einer Anlaufphase haben wir uns um die Anbindung an eine Universität bemüht, diese 2004 auch vollzogen, sie aber 2013 aufgekündigt, weil wir zu der Überzeugung gelangt waren, unsere wissenschaftlichen Ziele als außeruniversitäre Forschungseinrichtung besser verfolgen zu können. Unsere von 2012 bis 2016 intensiv betriebenen Bemühungen, mit Partnern aus den Berliner Hochschulen ein Zentrum für Zivilgesellschaftsforschung auf den Weg zu bringen, waren leider nicht erfolgreich.
Wir haben im Lauf der Jahre einige typologische und durchaus auch normative Annahmen entwickelt, die wir unserer Arbeit zugrundelegen und die sich auf Fragen beziehen wie: Was ist Zivilgesellschaft? Was ist gute Zivilgesellschaft? Welche Aufgaben erfüllt sie in der Gesellschaft? Wie steht es um Transparenz? Diese sind international mehrheitsfähig und nicht sonderlich exzentrisch, aber der Forschungsgegenstand ist noch neu genug, um auch hierzu Debatten und Dissens zu erlauben. Beispielsweise legen wir unserer Definition von Zivilgesellschaft, internationalem Mainstream entsprechend, eine Bereichslogik zugrunde, während besonders in Deutschland auch eine auf einer Handlungslogik beruhende Definition vertreten wird.
Lehre und Nachwuchsförderung hatten von Anfang an hohe Priorität. Nicht nur beteiligen wir, das Team, uns an der Lehre an mehreren deutschen Hochschulen und sind im In- und Ausland mit Gastvorträgen und dergleichen unterwegs. 1999 gründete mein damaliger Kollege Rainer Sprengel ein Forschungscollegium, dem bis heute rund 150 Nachwuchswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen angehört haben und angehören. Die Kosten der Arbeit des Forschungscollegiums werden seit 2005 überwiegend vom „Förderverein Zivilgesellschaftsforschung“ getragen. Zwei frühere wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts, Frank Adloff und Eva Maria Hinterhuber, die als Doktoranden zu uns kamen, haben heute Lehrstühle an deutschen Hochschulen inne.
Am wichtigsten ist im Rückblick die Frage: Was haben wir eigentlich geforscht? In den Anfangsjahren standen die Rahmenbedingungen der Zivilgesellschaft im Mittelpunkt der Arbeit. Eine gemeinsam organisierte und von der Bertelsmann Stiftung finanzierte Kommission zur Reform des Stiftungs- und Gemeinnützigkeitsrechts begleitete die 1998 verstärkt einsetzenden Bemühungen von Bundestag und Bundesregierung mit wissenschaftlichen Studien, Kolloquien und Foren sowie Publikationen, Stellungnahmen und Gesprächen. In diesen Zusammenhang gehört auch meine Mitwirkung in der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ als „sachverständiges Mitglied“. Später wurden interkulturelle und interreligiöse Themen in ihrem Bezug zur Zivilgesellschaft immer wichtiger. Dass sich der Begriff Zivilgesellschaft heute als Sammelbezeichnung für zunächst so heterogene Erscheinungsformen vom Wohlfahrtsverband bis zur Spontanhelfergruppe, von der Protestbewegung bis zur Stiftung, durchgesetzt hat, liegt zu einem nicht geringen Teil an der interkulturellen Betrachtung. Dass wir uns frühzeitig mit dieser befasst haben, kommt uns heute zugute.
Das vierte große Forschungsprojekt aus diesem Bereich befindet sich jetzt in seinem dritten Arbeitsjahr. Daneben gab es stets geistesgeschichtliche und eher theoretische Studien, aber auch immer wieder ganz praktische Zugänge, Untersuchungen zur Geschichte und Gegenwart des Stiftungswesens, aber auch zu viel diskutierten Themen wie Spenden oder bürgerschaftliches Engagement. Dass uns in diesem Zusammenhang eine notwendigerweise kritische Würdigung von Stiftungshandeln unter ausdrücklichem Verzicht auf Gefälligkeitsurteile bei manchen Förderstiftungen nicht beliebt gemacht und dass dies wiederum unsere Drittmittelakquise, vorsichtig ausgedrückt, nicht einfacher gemacht hat, liegt auf der Hand.
Ab 2015 haben wir uns auch dem Flüchtlingsthema zugewandt. Erste Ergebnisse wurden 2016 publiziert. Insgesamt wurden seit der Gründung rund 60 Forschungsprojekte bearbeitet und fast 400 Publikationen auf Deutsch, Englisch und in anderen Sprachen vorgelegt, viele davon mit transnationaler und transkultureller Konnotation. Den vom ersten John-Hopkins-Projekt angestoßenen Fragestellungen und den daraus entstandenen Forschungsnetzwerken blieben und bleiben wir ungeachtet mancher Dispute verbunden.
Klare Positionierungen, beispielsweise zur Notwendigkeit von mehr Transparenz, zum interkulturellen Austausch oder zur Einbetttung des Stiftungswesens in die Zivilgesellschaft, gehören zu den Ergebnissen der Forschung. Insbesondere sind wir mehr denn je davon überzeugt, dass Zivilgesellschaft weltweit eine gesellschaftliche Arena darstellt, die zwar in sich heterogen ist, deren Akteure aber gemeinsame Merkmale aufweisen, die sie von denen in anderen Arenen unterscheiden. Wir gehen dabei von einem Gesellschaftsmodell aus, das den Menschen und nicht etwa den Staat, die Gesellschaft oder eine andere Kollektivität in den Mittelpunkt stellt. Wir glauben, dass diese Arena für die Resilienz einer Gesellschaft, aber auch für deren Entwicklung und Innovation von fundamentaler Bedeutung ist und dass deshalb Bemühungen, diese Arena und ihre Akteure zu marginalisieren, kleinzureden, zu bedrängen oder zu behindern, mittelfristig katastrophale Folgen haben können, langfristig allerdings erfolglos bleiben werden. Wir denken auch, dass zur Stärkung der Zivilgesellschaft, der wir uns ausdrücklich verschrieben haben, notwendigerweise eine wissenschaftlich fundierte, kritische Begleitung gehört. Zivilgesellschaft als wichtig und nicht etwa nur als nett zu begreifen, sie zu, wo notwendig auch disruptiver, Innovation zu befähigen und sie dadurch, dass wir sie kritisch begleiten, ernst zu nehmen, sind zwei Seiten derselben Medaille.
Am 17. Oktober 2017 haben wir aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums des Instituts das zur Zeit viel gebrauchte Schlagwort vom Shrinking Space for Civil Society aufgegriffen, es aber so nicht übernommen. Zweifellos gibt es sehr ernsthafte und höchst gefährliche Bemühungen, die Zivilgesellschaft tatsächlich zum Schrumpfen zu bringen – nicht nur in Russland, in Ungarn oder in der Türkei, wo wir handfeste Repressalien konstatieren, sondern überall, auch in Deutschland. Nicht alles, was am Sonntag von der Politik gepriesen und versprochen wird, wird am Werktag von einer ihre Position eifersüchtig hütenden Verwaltung auch umgesetzt. Wenn beispielsweise über die Köpfe von bewährten zivilgesellschaftlichen, auf Unterstützung aber angewiesenen Einrichtungen mit hohen Dotationen aus öffentlichen Mitteln neue, von den politischen beziehungsweise staatlichen Wohltätern aber völlig abhängige Einrichtungen geschaffen werden, dann ist dies ein sogenanntes Crowding-Out, ein Verdrängungsversuch, der das ohnehin prekäre Kräfteverhältnis zwischen Staat und Zivilgesellschaft negativ beeinflusst. Wir beobachten diese und andere Entwicklungen aufmerksam und mit Sorge!
Andererseits kommt dies alles nicht von ungefähr. In den 20 Jahren seit der Gründung des Maecenata Instituts ist aus einem nicht oder kaum kohärenten gemeinnützigen Bereich, einem Dritten Sektor, aus NPOs und NGOs, aus vielen einzelnen Vereinen und Stiftungen im Bewusstsein von immer mehr Bürgerinnen und Bürgern eine Zivilgesellschaft geworden. Diese hat gerade in Deutschland durch die Willkommenskultur für geflüchtete Menschen in den Jahren 2015/2016 durch ihre Leistungen an Bekanntheit, Respekt und Statur erheblich gewonnen und früher oft gehörten Spott und Zynismus hinter sich gelassen. Noch stärker ist durch von den Medien in jedes Haus gesendete Bilder aus Kairo, Istanbul, Kiew, Teheran, Warschau und vielen anderen Orten auf der Welt und nicht zuletzt auch aus Stuttgart in den vergangenen Jahren wohl fast jedem sehr deutlich geworden, welche Kraft und Stärke Zivilgesellschaft entfalten kann. Zur Zivilgesellschaft zählen schon auch die unverzichtbaren Helferinnen und Helfer, aber ebenso die zahlreichen älteren und vor allem neuen Akteure, die, wie Colin Crouch es ausdrückt, die Wächterfunktion in der Gesellschaft übernommen und zur Entstaatlichung von Politik beigetragen haben – und die diese Funktionen gewiss nicht mehr aufgeben werden. 1989 hat die Zivilgesellschaft die Mauer zu Fall gebracht und die Transformation in Mittel- und Osteuropa bewirkt. Sie wird sich, allen Bedrängungen zum Trotz, nicht mehr auf die Zuschauertribüne des politischen Geschehens zurückdrängen lassen.
Dieser Gewinn an Bürgermacht ist nicht nach jedermanns Geschmack. In jüngster Zeit scheint sich aber auch das Verhältnis zwischen Zivilgesellschaft und Markt neu zu justieren, nachdem der ausufernde Kapitalismus der 1990er- und 2000er-Jahre in eine Krise geraten ist und immer mehr Menschen Lebenssinn und Respekt vor Gewinnoptimierung setzen. Das heißt auch, dass zivilgesellschaftliche Handlungslogik in die Wirtschaft eindringt, nachdem man lange Zeit eine zunehmende Ökonomisierung der Zivilgesellschaft befürchten musste. Deshalb wenden wir das eingans zitierte Schlagwort optimistisch und nehmen es für uns, die wir am Institut arbeiten und weiter arbeiten werden, als Ansporn: Changing Space! Diesem sich ständig verändernden Handlungsraum für die Zivilgesellschaft will sich das Maecenata Institut auch weiterhin widmen.
Repräsentation und Parlamentarismus
Vortrag, den der Autor auf dem Symposium des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft „The Changing Space for Civil Society“ am 17. Oktober 2017 gehalten hat, das aus Anlass des 20jährigen Bestehens des Instituts veranstaltet wurde.
Informationen
Siri Hummel / Philipp Kreutzer
The Changing Space for Civil Society
Ein Symposium in Berlin am 17. Oktober 2017 (Arbeitspapiere zur europäischen Zivilgesellschaft / Europa bottom up 20/2017), Berlin, Maecenata Institut 2017
Der zweisprachige Symposiumsbericht ist als Online-Publikation verfügbar.
Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project
Das international vergleichende Projekt wurde 1991 mit Forschungsteams in 13 Ländern begonnen und bietet inzwischen Daten und Informationen aus über 45 Ländern.
Aus der Annotierten Bibliografie
zum Thema
Demokratie gestalten – zum Verhältnis von Repräsentation und Partizipation
Vortrag, den der Autor auf dem Symposium des Maecenata Instituts für Philanthropie und Zivilgesellschaft „The Changing Space for Civil Society“ am 17. Oktober 2017 gehalten hat, das aus Anlass des 20jährigen Bestehens des Instituts veranstaltet wurde.
Informationen
Siri Hummel / Philipp Kreutzer
The Changing Space for Civil Society
Ein Symposium in Berlin am 17. Oktober 2017 (Arbeitspapiere zur europäischen Zivilgesellschaft / Europa bottom up 20/2017), Berlin, Maecenata Institut 2017
Der zweisprachige Symposiumsbericht ist als Online-Publikation verfügbar.
Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project
Das international vergleichende Projekt wurde 1991 mit Forschungsteams in 13 Ländern begonnen und bietet inzwischen Daten und Informationen aus über 45 Ländern.