Hajo Funke / Walid Nakschbandi: Deutschland – Die herausgeforderte Demokratie
Die Geschichte der Bundesrepublik war lange eine Erfolgsgeschichte, fortgeschrieben mit der Wiedervereinigung. Aktuell aber scheinen die Bedrohungen, auch aus globaler Perspektive, derart zuzunehmen, dass Hajo Funke und Walid Nakschbandi von einer „herausgeforderten Demokratie“ sprechen. Entlang einer Rekapitulation der Entwicklung, die die politische Kultur der Bundesrepublik genommen hat, fragen sie, wie es dazu kommen konnte, dass der lange als unumstößlich geltende demokratische Grundkonsens, der sich in den vergangenen 60 Jahre entwickelt hat, ins Wanken geraten konnte.
Die Geschichte der Bundesrepublik war lange Zeit eine Erfolgsgeschichte, die sich durch die Wiedervereinigung fortschrieb. Aktuell aber scheinen die Bedrohungen, auch aus globaler Perspektive, derart zuzunehmen, dass die Politikwissenschaftler Hajo Funke und Walid Nakschbandi von einer „herausgeforderten Demokratie“ sprechen. Ihr Interesse gilt hierbei im Folgenden nicht den Institutionen, sondern der politischen Kultur der Bundesrepublik, von ihrer Gründung bis in die Gegenwart hinein. Sie gehen dabei der Frage nach, wie es dazu kommen konnte, dass der lange als unumstößlich geltende demokratische Grundkonsens, der sich in den vergangenen 60 Jahren entwickelt hat, ins Wanken geraten ist. Um eine Antwort auszuloten, widmen sich Funke und Nakschbandi in neun Kapiteln denjenigen Wegmarken, die die politische Kultur prägten. Dabei sind die Kapitel stärker chronologisch als thematisch konzipiert, was allerdings Überschneidungen nicht ausschließt.
Im ersten Teil wird ein kurzer Abriss über die Demokratisierung der Bundesrepublik anhand der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gegeben. Beginnend bei Adenauer bis hin zur Wiedervereinigung vermitteln die Autoren einen Einblick in das „kollektive Gedächtnis“ der Republik. Hier habe durch die Studentenproteste 1968, eine gestiegene öffentliche Thematisierung des Holocaust (unter anderem durch die gleichnamige Serie), aber auch durch einen Generationswechsel ein Wandel vom „kommunikativen Beschweigen“ (so Hermann Lübbe) hin zur Aufarbeitung durch Thematisierung stattgefunden.
Das zweite Kapitel ist der Herausforderung der demokratischen Kultur nach dem Fall der Berliner Mauer gewidmet. Vor allem auf dem Gebiet der ehemaligen DDR habe der ökonomische Niedergang, verbunden mit der gleichzeitigen Illusion von blühenden Landschaften nach der Wende, den Eindruck hinterlassen, dass eine Gleichbehandlung ausgeblieben sei. Für die dortigen Bürger „wurde es damit schwerer, sich offen mit der doppelten autoritären Herrschaft […] auseinanderzusetzen“ (49). Der antifaschistische Gründungsmythos der DDR und das Fehlen einer diskursiven und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem NS-System und dem Antisemitismus zwischen 1945 und 1990 hätten diesen Effekt noch verstärkt. In der wiedervereinigten Bundesrepublik habe schließlich die Debatte um die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin die Fronten noch einmal vor Augen geführt. Im „Aufstand der Anständigen“(68), mit dem eine zivilgesellschaftliche Initiative in der Demokratieförderung einhergegangen sei, und dem gleichzeitigen Anstieg rechtsextremer und antisemitischer Gewalttaten seien erste Herausforderungen des demokratischen Konsenses deutlich geworden.
Im vierten Teil richtet sich der Fokus auf die gestiegene Islamophobie, die sich zwar bereits im Zuge der Debatte um eine doppelte Staatsbürgerschaft entfaltete, deren Katalysator aber 9/11 wurde und schließlich in den Thesen Thilo Sarrazins vorläufig kulminierte. Je näher die Autoren in der Folge der Gegenwart kommen, desto stärker häufen sich die Ereignisse. Zugleich richtet sich der Blick vermehrt auf die Außenpolitik. Der Syrien-Konflikt, Iran, die USA unter Donald Trump: Die Welt scheint sich nach einer Phase relativer Stabilisierung und Demokratisierung wieder am Abgrund zum Bellizismus zu befinden.
Im sechsten Kapitel dominiert dann wieder die Binnenperspektive, ausgerichtet auf das Erstarken des Rechtspopulismus und -extremismus durch Pegida, AfD und HoGeSa – verbunden als Bewegungen, die sich in der Islamophobie geeint sehen und einen völkischen Nationalismus vertreten. Wie rasant sich in diesem Klima eine Radikalisierung vollzog, zeigen die Autoren anschließend. Schienen offener Antisemitismus oder gewalttätige Übergriffe auf Migrantinnen und Migranten vor wenigen Jahren kaum vorstellbar, so habe sich in diesem Milieu eine „autoritäre Antimoral“ (141) herausgebildet, die die angebliche Befreiung der Gesellschaft nicht nur publizistisch fordere.
Die abschließenden Schlusskapitel stellen Möglichkeiten und Hoffnungen für die Zukunft einer demokratischen Gesellschaft vor. Vor allem die Vielzahl und Diversität zivilgesellschaftlicher Projekte habe die Bereitschaft gezeigt, sich den Herausforderungen zum Erhalt einer demokratischen Gesellschaft zu stellen. Darüber hinaus müssen aber auch „durch neue Sozialpolitik die Ausschläge der Globalisierung“ eingedämmt werden, um „ohne Angst nach vorne zu schauen und zu leben“ (157). Um dem völkischen Nationalismus zu entgegnen, wird die Gesellschaft „eine liberale Anerkennungskultur gegen die Strategien der autoritären illiberalen Abwehr, ob aus Polen, Ungarn oder aus der AfD, verteidigen müssen“ (163). Schließlich gehe es hierbei um die Verteidigung der Freiheit und Gleichheit aller – zwei Errungenschaften, die lange als gesichert gegolten hätten, deren Fortbestehen durch den Zustrom rechtspopulistischer Bewegungen aber nicht mehr weiter als Selbstverständlichkeit gelte. Trotz der akuten Gefahren verweisen die Autoren aber ebenso auf die gefestigte, demokratische Mitte der deutschen Gesellschaft, die nicht bereit sei, die Errungenschaften der vergangenen 60 Jahre ohne Weiteres preiszugeben.
Nach der Lektüre bleibt, neben dem historischen Abriss, vor allem ein Eindruck von der Bedeutung der Geschichts- und Politikwissenschaft für die Demokratisierung, ob mit Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ oder mit dem Historikerstreit der 1980er-Jahre über die Thesen von Ernst Nolte. Auch an diesen Debatten zeigte sich die Demokratiefähigkeit der Bundesrepublik. Sie dienen gleichsam als ein Archiv dafür, wie umstritten die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit geführt wurde. Ebenso in die Darstellung eingewebt wird die Bedeutung des Filmes. Die Verharmlosung in der Darstellung „Der Untergang“ sowie in der Serie „Unsere Mütter, unsere Väter“ dienen Funke und Nakschbandi als Beispiele für die Implementierung von Narrativen, die der Historie widersprechen und so eine „Fehlwahrnehmung“(107) projizieren. Damit knüpfen sie in öffentlichkeitswirksamer Weise an Debatten der Geschichtswissenschaft an.
Insgesamt zeichnen Funke und Nakschbandi damit ein Bild der rasanten Radikalisierung in den vergangenen Jahren, die den 60 Jahre dauernden Aufbau einer demokratischen politischen Kultur ernsthaft infrage zu stellen vermag. Der Gefahr, die durch den Wunsch zur Rückkehr zum „völkischen Nationalismus“ mit dem Programm einer „völkischen Erweckungsbewegung: Volk. Identität. Dekadenz – aber auch Ordnung, Liebe, Nation und immer wieder Deutschland“ (123) einhergeht, setzen sie ein starkes Plädoyer entgegen. Vor allem „keine Politik mit der Angst“ (180) zu betreiben, eine weitergehende Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und ein Ende der Verharmlosung der NS-Zeit sowie die Stärkung der Zivilgesellschaft seien Schritte, mit denen die herausgeforderte Demokratie eine wehrhafte bleibe.
Repräsentation und Parlamentarismus