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Rezension / 20.11.2020

Tamara Ehs: Krisendemokratie. Sieben Lektionen aus der Coronakrise

Wien / Berlin, Mandelbaum Verlag 2020

„Die Coronakrise und ihre Auswirkungen auf die Demokratie, insbesondere auf die Grund- und Freiheitsrechte, erscheinen wie eine erste Blaupause für den politischen Ausnahmezustand, wenn wir die Klimaziele nicht erreichen und der Shutdown das nächste Mal aufgrund von Dürreperioden und Hitzetagen verordnet wird“, lautet die Einschätzung von Tamara Ehs. Sieben Lehren seien beim Umgang mit einer möglichen neuen Krise zu berücksichtigen, etwa eine aktive Rolle des Parlaments, das Alleingänge der Regierung unbedingt verhindern müsse. Soziales Vertrauen, Aufklärung und Eigenverantwortung seien wichtig.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier führte im November 2020 eine Gesprächsrunde mit einer Reihe von Menschen, die mit dem Coronavirus infiziert waren. Die Medien berichteten eifrig darüber. Eine alles überragende Botschaft dieses Gespräches ließe sich mit einem Satz umschreiben: ‚Abbitte! Ich habe das Virus total unterschätzt und dies nach meiner Infektion sehr bereut.‘ Das mag so stimmen, was aber auch stimmt: Nicht zu Wort kamen die zahllosen Menschen, die sich mit dem Virus infizierten und die quasi keinerlei Folgen spürten – weder während ihrer Erkrankung noch danach. Der durch das mediale und präsidiale Schweigen vermittelte Eindruck ist vermutlich, dass schreckliche Spätfolgen der Regelfall einer Infektion mit Covid-19 sind. Doch auch wenn man die Gefahr einer Infektion nicht herunterspielen sollte – statistisch scheinen die allermeisten vollständig und ohne Spätfolgen zu genesen.

Wie muss man also solche Formate bewerten – jenseits des seltsam anmutenden Stils, einen Bundespräsidenten wie einen Talkshowmoderator zu erleben? Sind sie ein Beitrag zum besseren Verständnis dieser Epidemie oder fallen sie unter das, was Tamara Ehs in ihrem Buch „Krisendemokratie“ als „Angstrhetorik“ beschreibt?

Ehs, eine mehrfach ausgezeichnete Politik- und Rechtswissenschaftlerin an der Universität Wien, hat ein hochaktuelles, gut einhundert Seiten starkes Büchlein zu der Frage geschrieben, welche Lektionen sich für die Demokratie aus der noch andauernden Corona-Krise ziehen lassen. Aus ihrer Sicht sind es die folgenden sieben:

Lektion 1: In jedem Fall muss das Parlament tagen können und inhaltliche Alternativen zum Regierungshandeln diskutieren.
Gerade durch historische Erfahrungen sehen viele westliche Verfassungen mit ihren gewaltenverschränkenden Systemen auch im Krisenfall vor, Alleingänge der Regierung zu verhindern (13). Bedauerlicherweise hätten die Parlamente aber der medialen Übermacht der Regierung wenig entgegenzusetzen – gerade, wenn die parlamentarischen Tribünen der Demokratie durch Infektionsschutzmaßnahmen verkleinert werden. Neben eher nur Österreich betreffende Einzelfragen (Einsetzung eines Corona-Ausschusses) übt Ehs auch grundsätzliche Kritik am aktuellen Parlamentarismus im Westen. Es gehöre leider nicht zum Selbstverständnis der Abgeordneten, manchmal auch die eigene Regierung skeptisch zu überprüfen (16). Demokratie gerate so in ein schwieriges Fahrwasser, denn zu groß sei „die Gefahr der Gewöhnung an den autoritären Maßnahmenstaat. Über den Aspekt der Gesundheit lassen sich wohl ähnlich viele Grundrechte einschränken wie über den der Sicherheit.“ (20)

Lektion 2: Gesetze und Verordnungen müssen auch in der Krise handwerklich gut gemacht sein und die Regierung darf nichts anderes als diese kommunizieren.
Für juristische Spitzfindigkeiten müsse in einem demokratischen Rechtsstaat immer Zeit sein, meint Ehs und kritisiert handwerklich schlecht gemachte und in Eile zusammengezimmerte Gesetze in Österreich. Leider zeichne sich dort ein genereller Trend ab: Während die Zahl der Social-Media-Stellen in Ministerien größer werde, werden die Stellen mit inhaltlich-rechtlicher Gesetzesarbeit reduziert (27). In dem Verlust an handwerklichem Gesetzes-Know-how sieht sie eine Gefahr: Das allgemeine Publikum verstehe die unpräzisen Vorgaben der Regierung immer weniger; zum langfristigen Schaden der Demokratie, die darauf angewiesen sei, dass die Menschen verstünden, wie sie sich gesetzeskonform verhalten sollten (30). Hinzu kommt eine zweite Entwicklung, die der Autorin im Fall der Corona-Krise große Sorge bereitet: Die Regierung habe nicht stets das kommuniziert, was Beschlusslage war, sondern medial oftmals weit darüber hinausgehende Forderungen an die Bevölkerung gerichtet. Ehs spricht an dieser Stelle von „fake laws“: Die Regierung erwecke in Interviews den irreführenden Eindruck drakonische Maßnahmen beschlossen zu haben, die Leute nähmen es ihr ab – tatsächlich sei dergleichen aber überhaupt nicht entschieden worden (31).

Lektion 3: Angstrhetorik ist nicht akzeptabel.
„Statt auf soziales Vertrauen, Aufklärung und Eigenverantwortung setzte Österreich auf eine in der Wortwahl autoritäre, angstbasierte und zudem in ihren Entscheidungsgrundlagen weitgehend intransparente Kontrollpolitik.“ (42) Wer diesen Kernsatz ihrer dritten Lektion aus der Coronakrise auf Deutschland überträgt, der überstrapaziert den Bogen sicher nicht. Auch hierzulande setzte eine exekutive Attitüde ein: Wenn die ungehorsame Bevölkerung sich nicht fügen wolle, dann müsse man eben zu schärferen Maßnahmen greifen. Insbesondere das Bundesland Bayern tat sich an dieser Stelle hervor. Ehs hat Recht: Dieses Denken verkehrt die Stellung von Volk und Regierung, Souverän und Erfüllungsgehilfen (43). Auch wenn ihr Blick beizeiten in diese Richtung geht: Das Buch könnte hier noch kritischer mit denjenigen ins Gericht gehen, die in einer Demokratie die vielbeschworenen Träger der Souveränität sind: den Bürgerinnen und Bürgern selbst. Heftig prangert sie dagegen regierungsseitige Forderungen an, die Menschen sollten sich bei festgestellten Verstößen gegen Auflagen gegenseitig denunzieren (46). Solcherlei gouvernementale Blockwartmentalität fand sich übrigens auch in Deutschland, etwa beim Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen.

Lektion 4: Die verstärkte Digitalisierung kann Einschränkungen von Grundrechten nicht kompensieren.
Das gilt für Ehs schon aus einem Grund der sozialen Gerechtigkeit: Über digitale Medien an Demokratie teilzuhaben, erfordere eine hohe Bildung und Souveränität im Umgang mit digitalen Instrumenten. Die (obere) Mittelschicht habe damit überhaupt kein Problem – sozial Schwächere und bildungsferne Schichten würden dagegen so noch weiter abgehängt und marginalisiert (52 f.)

Lektion 5: Demonstrationen müssen auch in der Krise besonders geschützt werden.
Das Recht sich zu versammeln und gegen Regierungsbeschlüsse zu protestieren – warum auch immer – ist ein fundamentaler Bestandteil westlicher Demokratien. Absolute Versammlungsverbote, wie in Österreich, seien damit unvereinbar. Auch wenn Deutschland insgesamt weniger absolut vorgegangen sei, könne man auch hier ein Aussetzen grundrechtlicher Denkkategorien in der Coronakrise registrieren (64). Spannend – und leider von ihr unbeantwortet – bleibt aber die Frage, warum das so ist. Insgesamt dürfte es sich so verhalten, dass in einer reichen, alten und größtenteils weltlichen Gesellschaft das Recht auf Leben, und damit verbunden auf Gesundheit, alle anderen Grundrechte auszuhebeln scheint. „Hier geht es um Wichtigeres, hier geht es um Menschenleben!“ – einer solch donnernden Antwort auf Forderungen nach Berücksichtigung von Grundrechten wie der Versammlungsfreiheit dürfte die absolute Mehrheit der Bevölkerung Beifall spenden. Und damit wird leider auch wieder einmal deutlich: Demokratie stirbt selten durch Diktatoren. Sie stirbt in aller Regel durch schleichende Selbstaufgabe.

Lektion 6: Pluralismus muss auch in Zeiten der Krisen sichtbar und erfahrbar sein.
TINA – there is no alternative. Die für ihren angeblich naturwissenschaftlichen Denkstil oft gerühmte Angela Merkel wurde zu Recht ebenso oft dafür kritisiert, bestimmte Maßnahmen als alternativlos darzustellen. Ehs hebt hervor, dass Alternativen die Grundlage pluralistischen und demokratischen Handelns sind (71). Da Parlament und Medien aktuell seltsam stumm seien, müsse man aus der Coronakrise lernen, wie man künftig wieder für mehr Alternativen im Diskurs sorgen könne. So schlägt sie vor, Beratungsgremien grundsätzlich pluralistisch zu besetzen (und nicht wie aktuell nur mit Virologen und Epidemiologen) und „Konsultativen“ einzurichten: Bürgerräte, auf Zeit besetzt mit per Los ausgewählten Bürgerinnen und Bürgern (74 f.).

Lektion 7: Ist Journalismus zu harmlos, schadet er der Demokratie.
Dieser Aussage von Ehs kann man unumwunden zustimmen. Aus ihrer Sicht knicke zunächst einmal eine eigentlich willige, kritische Medienlandschaft vor den überdimensionierten PR-Apparaten der Regierungen ein. Hier stellt sie einen Bezug zwischen Media-Ausgaben der Regierung und mangelnder journalistischer Qualität her (lies: Die Regierung schaltet nur bei oberflächlichen, genehmen Medien Anzeigen). Diese Einschätzung allein reicht zur Erklärung unkritischer Medienberichterstattung aber nicht aus, denn die Medien haben ihren ganz eigenen Anteil an der Entwicklung. Warum berichten weltweit Medien dermaßen ausführlich und oft nur mit dem Blick auf das visuell Sensationelle (Särge in Bergamo etc.) über Corona – oder Donald Trump, oder den Brexit? Weil sich das besser verkauft. Zu oft hängen wir immer noch der naiven-romantischen Ansicht von Medien als Teil eines aufklärerischen Projektes an und zu wenig bedenken wir, welche Machtstellung wir als Gesellschaft diesen Wirtschaftsunternehmen im Zentrum unserer Demokratien einräumen. Von Tag eins an wäre es Aufgabe der Medien gewesen, die Regierung bei ihren Corona-Maßnahmen scharf zu kontrollieren (87) – da hat Ehs recht. Das gilt ebenso im Hinblick auf ihre Einschätzung, die Medien hielten der Regierung zu wenig entgegen. Ihnen fehle die kritische Distanz – zu sehr seien sie auf visuelle Kommunikation ausgerichtet (89). Und da stößt ein pfeifend atmender Mensch mit warnender Stimme nun einmal eher auf Interesse als jemand, der nüchtern darüber spricht, von seiner Erkrankung herzlich wenig gespürt zu haben.

Im Nachwort zu den sieben Kapiteln fasst die Autorin noch einmal ihre zentralen Empfehlungen zusammen: Parlamente müssen gegenüber der Regierung selbstbewusster werden und bedürfen eigener, wissenschaftlicher Dienste; Bürgerräte sollten als „Konsultative“ etabliert werden; flächendeckende Informations- und Transparenzgesetze sind erforderlich; Medienförderung muss qualitätsorientiert geschehen; an Schulen braucht es mehr an politischer Bildung (95 f.).

Überdies stellt sie eine Mahnung in den Raum: „Als offene Frage bleibt noch, ob wir die Klimakrise demokratisch oder autoritär bearbeiten werden. Die Coronakrise und ihre Auswirkungen auf die Demokratie, insbesondere auf die Grund- und Freiheitsrechte, erscheinen wie eine erste Blaupause für den politischen Ausnahmezustand, wenn wir die Klimaziele nicht erreichen und der Shutdown das nächste Mal aufgrund von Dürreperioden und Hitzetagen verordnet wird.“ (96)

Ehs Buch ist sehr aktuell und vom Umfang knapp, deckt aber dennoch viele wichtige Aspekte ab. Was fehlt? An keiner Stelle setzt sich das Buch mit der Frage der Gefährlichkeit des Virus auseinander. Dies ist zumindest schwierig, denn für eine Bewertung der Sachlage spielt eben diese schon eine erhebliche Rolle. Die (wenngleich leise) Kritik an den zu „Maßnahmen“ verniedlichten Einschränkungen der Bürgerrechte entzündet sich ja deshalb, weil Covid-19 kein Ebola und auch keine Beulenpest ist. Und für Politikwissenschaftler*innen mit ökonomischer Vorbildung fehlen wichtige Seitenbemerkungen zur politisch-ökonomischen Situation der Coronakrise. Denn ein Grund für die fast vollständig klaglose Akzeptanz des Regierungshandelns ist die mangelnde Diskussion zur Finanzierung all dessen. Müsste stärker abgewogen oder gar beziffert werden, ob ein ‚Renten-Minus‘ oder höhere Steuern zur Co-Finanzierung der Corona-Maßnahmen von Beamtinnen und Beamten hingenommen werden sollten, dann würde sicherlich anders diskutiert werden. Doch auch wenn sie dazu nichts schreibt: Tamara Ehs ist ein absolut lesenswertes Buch gelungen.

 

CC-BY-NC-SA
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