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Rezension / 14.06.2018

Andreas Nölke: Linkspopulär. Vorwärts handeln, statt rückwärts denken

Frankfurt am Main, Westend Verlag 2018

Andreas Nölke diagnostiziert eine Repräsentationslücke im Parteiensystem. Von Armut und Abstiegsängsten geprägte Menschen fühlten sich allenfalls von der AfD wahrgenommen – deren neoliberaler Rechtspopulismus ihnen aber gar nicht diene. Und überhaupt seien links und rechts nicht mehr die einzigen politischen Koordinaten, an Gewicht hätten Einstellungen gewonnen, die sich dem kosmopolitischen oder dem kommunitaristischen Denken zuordnen ließen. Im Parteiensystem aber fehle eine linke und kommunitaristische, also linkspopuläre Option – die nicht mit dem Linkspopulismus zu verwechseln sei.

Besteht eine Repräsentationslücke im deutschen Parteiensystem? Andreas Nölke, Professor für Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt, argumentiert, dass eine linkspopuläre Position im Parteiensystem fehle, da in den vergangenen Jahren bis auf die AfD alle Parteien eine mehrheitlich kosmopolitische Position in Fragen der europäischen Integration und Flüchtlingspolitik bezogen hätten. Zudem gebe es sowohl eine starke Tendenz linker Parteien (SPD, Grüne, Linke) Richtung Mitte, die aber gegenüber den Wähler*innen indifferent erscheine, als auch einen erstarkenden Rechtspopulismus durch die AfD und zuweilen der CSU, die entsprechende Angebote an die Wähler*innen machten. Damit fehle eine Option auf der linken Seite des Parteienspektrums.

Ausgangspunkt Nölkes ist jedoch die soziale Schieflage in Deutschland und die Armut der weniger Privilegierten angesichts des anwachsenden Reichtums. „Besonders irritierend ist für die von Armut und Abstiegsangst geprägten Menschen, dass sie permanent von der guten Wirtschaftsentwicklung in Deutschland hören, zugleich jedoch den Eindruck haben, dass bei ihnen individuell nichts davon ankommt.“ (28) Diese auseinandergehende Schere sei nicht nur ökonomisch zu sehen, sondern spiegle sich auch im Repräsentationsmodus in Deutschland wieder (Kapitel 2). Die Wahlbeteiligung der ärmeren Bevölkerung sei nicht nur deutlich geringer als in den oberen Schichten, ihre Interessen würden kaum noch von den Parteien vertreten werden. Die AfD erscheine da als Alternative, die die Interessen und Sorgen der Menschen aufnehme und vermeintlich wieder repräsentiere. Nölke erörtert jedoch, dass die AfD dies programmatisch nicht ausfülle, sondern eher einen neoliberalen Rechtspopulismus verfolge, der den Interessen ihrer Wähler*innen widerspreche. Statt die AfD aber an diesen Ungereimtheiten argumentativ anzugreifen, werde sie von den anderen Parteien moralisch verteufelt und kulturpolitisch attackiert. Diese Ausgrenzungsstrategien, so die Einschätzung von Nölke, verfangen jedoch nicht, sondern tragen nur dazu bei, dass sich die AfD noch effektiver gegen ‚die etablierten Parteien‘ positionieren und ihre Ausgrenzung beklagen kann.

In den Kernkapiteln drei und vier erläutert Nölke die linkspopuläre Position. Er unterscheidet dafür einmal auf der Rechts-links-Achse. Zum anderen entnimmt er die zweite Achse der aktuellen Forschung von Kollegen des WZB, die zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus als die zwei Pole des Konflikts um offene Grenzen, mehr Toleranz, Globalisierungsbefürwortung, EU-Erweiterung etc. unterscheiden. Links-rechts und kosmopolitisch-kommunitaristisch sind also nicht deckungsgleich. Die terminologische Besetzung des Linkskommunitarismus reformuliert Nölke in die genannte linkspopuläre Position um, da er anmerkt, dass der Begriff des Kommunitarismus sowohl theoretisch als auch alltagssprachlich wenig eindeutig ist. Ebenso unterstreicht er, dass eine linkspopuläre Position keine linkspopulistische sei. Linkspopulistisch sei sie nicht, weil sie keine Gegenüberstellung von (korrupten) Eliten versus (homogenes) Volk beinhalte. Ebenso sei sie nicht rechtspopulistisch, da sie nicht von „völkischen Identitäten“ (93) ausgehe oder die Befürwortung der nationalen Demokratie aus chauvinistischen oder rassistischen Gründen bevorzuge. Eine linkspopuläre Position sei vielmehr eine realistisch-pragmatische Position, die sich nicht in Parolen erschöpfe, sondern versuche, konkrete Politikvorschläge zu machen.

Fünf Grundprinzipien leiten die linkspopuläre Position (Kapitel 4): (1) die Verbesserung der Lage der sozial Schwachen in Deutschland; (2) abgestufte Solidarität, die über den Nationalstaat hinaus reicht; (3) ein nicht-exportorientiertes Wirtschaftsmodell; (4) die Stärkung demokratischer Selbstbestimmung im Nationalstaat statt einer supranationalen Demokratie und (5) eine möglichst gewaltfreie internationale Politik, die auf Multilateralismus setzt. Darauf aufbauend skizziert der Autor schließlich in den nachfolgenden Kapiteln fünf bis acht die linkspopuläre Position hinsichtlich der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Kapitel 5), der Globalisierung und Europäischen Union (Kapitel 6), der Innen- und Migrationspolitik (Kapitel 7) sowie der Außen- und Sicherheitspolitik (Kapitel 8).

Im letzten Kapitel gleicht Nölke in sehr knapper Form noch einmal die linkspopuläre Position gegenüber SPD und LINKE ab (Kap. 9) und grenzt sie noch einmal explizit von der AfD ab. Während er aufzeigt, dass die LINKE die meisten Schnittpunkte mit dem Linkspopularismus hat, aber in Fragen der EU- und Migrationspolitik zwischen einer kommunitaristischen und kosmopolitischen Position zerrissen ist, teile die derzeitige SPD nur wenige linkspopuläre Position.

Fraglich bleibt, ob Nölke hier wirklich eine neue politische Position entwirft oder nicht vielmehr die Positionen der anderen Parteien überzeichnet und ihnen voreilig die kosmopolitische Position zuschreibt. Bis auf die wenigen Monate im Sommer 2015 haben CDU und CSU sowohl davor als auch danach eine eher restriktive Migrationspolitik verfolgt (man denke an die Ausweitung der Anzahl an sichereren Herkunftsländern, Residenzpflicht für Geflüchtete, Befürwortung der Sachmittel- statt Geldausgabe für Asylsuchende, Ablehnung der doppelten Staatsbürgerschaft, regelmäßige Debatte über eine deutsche Leitkultur). Den Sommer 2015 also hier als grundsätzlichen Positionswechsel anzuführen, der die Repräsentationslücke geschaffen habe, erscheint mir zu gewagt – gerade auch im Hinblick auf die von Nölke selbst im ersten Kapitel hingewiesene eklatante Ungleichheit in Deutschland sowie die sich ausweitende Schere zwischen Arm und Reich, die zu dieser Repräsentationslücke beigetragen haben. Den Sommer 2015 also als Tropfen zu sehen, der das Fass zum Überlaufen brachte, verdeckt die längerfristigen Entwicklungen in der EU- und Migrationspolitik und vermischt diese mit sozial- und wirtschaftspolitischen Schieflagen.

Gerade die LINKE erscheint mir mit ihrer anhaltenden Kritik an der Agenda 2010, ihrer Kritik an Globalisierung, Finanzmarktkapitalismus und Freihandelsideologien à la TTIP als klare linkspopuläre Partei. Ähnlich verhält es sich mit ihrer Europapolitik, die LINKE bezeichnet die EU in ihrem Erfurter Parteiprogramm von 2011 als neoliberal und militaristisch und steht der weiteren Integration ohne umfassende soziale Dimension und Demokratisierung ablehnend gegenüber – Positionen also, die wohl auch Nölke teilt. Und selbst dass die LINKE in Migrationsfragen einen kosmopolitischen Internationalismus verfolgt, erscheint mir nicht unvereinbar mit der linkspopulären Position einer „abgestuften Solidarität in einer globalen Welt“ (101).

Für wissenschaftliche Leser*innen sind zudem kleinere Wermutstropfen, die jedoch eher an den Verlag als an den Autoren zu adressieren sind, dass ein eher ungewöhnlicher Zitierstil mit dem Titel im Text den Lesefluss etwas beeinträchtigt (gerade in Kapitel 1 mit der Nennung zahlreicher Studien) und dass sich am Ende kein Literaturverzeichnis befindet.

 

CC-BY-NC-SA
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Linkspopulismus: Oxymoron oder Alternative? Ein Blick über den politiktheoretischen Tellerrand. Fallbeispiel: Argentinien

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