Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz
Wir befinden uns in einem neuen (Kalten?) Krieg, so Hannes Adomeit und Joachim Krause. Um das Ausmaß all dessen für die Ordnung Europas zu verdeutlichen, beantworten die Sirius-Autoren die Frage, welche Beweggründe und Zielsetzungen Putins Drohungen und der Invasion zugrunde liegen. Sie zeichnen nach, was er bisher unternahm, um seine Ziele zu erreichen – und wie der Westen wann (nicht) reagierte. Was bleibt, ist ein Ausblick darauf, was der Eintritt in diesen zweiten Kalten Krieg und fünf mögliche Ausgangsszenarien in der Ukraine für die westliche Staatengemeinschaft nun bedeuten.
1 Einleitung
Der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 markierte einen einschneidenden Umbruch in den internationalen Beziehungen, den Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag ganz richtig eine „Zeitenwende“ nannte. Eingeleitet hatten dieses Drama zwei ungewöhnliche Ultimaten Russlands an die US-Regierung und die Mitgliedstaaten der NATO, die die russische Regierung Mitte Dezember 2021 auch auf der Webseite des Außenministeriums veröffentlichte: Die westlichen Staaten, so der Inhalt, sollten sich schriftlich und verbindlich verpflichten, kein weiteres Land in die NATO aufzunehmen. Zudem sei die Präsenz ausländischer Truppen auf dem Gebiet der neuen Mitglieder in Ostmitteleuropa gänzlich abzubauen. Auch müssten die USA ihre Kernwaffen aus Europa zurückziehen und dürften in Europa keine Raketen stationieren, die Russland erreichen könnten. Mit dieser Aufforderung einher ging die Androhung „militärtechnischer Maßnahmen“ für den Fall der Zurückweisung. Um seine „militärtechnische“ Drohung zu untermauern, setzte Moskau die bereits begonnene Verlegung von Truppen an die ukrainische Grenze fort (auch unter Einbeziehung des Territoriums von Belarus). Was viele nicht begreifen wollten: Dieses Ultimatum war eine verklausulierte Kriegserklärung gegen die Ukraine und den Westen, gegen die auch noch so viel gut gemeinte Diplomatie nichts ausrichten konnte.
Mit dem Ultimatum und spätestens dem russischen Überfall auf die Ukraine am Morgen des 24. Februar hat der jahrelang latente Konflikt zwischen Russland und der westlichen Staatengemeinschaft ein Niveau erreicht, auf dem man von einem „neuen Kalten Krieg“ sprechen muss. Und angesichts der Kämpfe in der Ukraine ist nicht einmal sicher, ob es bei einem „kalten“ Krieg bleiben wird. Die Härte seiner Forderung und die zeitnahe Umsetzung der angedrohten militärtechnischen Maßnahmen lassen den Schluss zu, dass Moskau alles viele Jahre im Voraus durchdacht und geplant hatte – und dass wir noch lange nicht das Ende der russischen Herausforderung gesehen haben. Dass sein Vorgehen eine Vielzahl von Sanktionen und damit eine faktische Abkoppelung Russlands von der Weltwirtschaft auslösen wird, dessen war Moskau sich bei der Planung sicher. All dies war einkalkuliert und zeigt, dass die westliche Staatengemeinschaft es nicht mit einem regionalen Konfliktgeschehen zu tun hat, das unglücklicherweise eskaliert ist, sondern mit einer internationalen Herausforderung, die grundsätzlicher Natur und von globalstrategischer Reichweite ist.
Die Bundesregierung blieb bis zur Einleitung der Kampfhandlungen durch Russland zurückhaltend und vollzog erst dann eine Kehrtwende, als sich das gesamte Ausmaß des militärischen Überfalls und der enorme Verteidigungswille der ukrainischen Bevölkerung abzeichneten. Zuvor hatten nahezu alle Verbündeten völlig zu Recht die wankelmütige Einstellung der Ampelkoalition (zu Nord Stream 2 und Waffenlieferungen an die Ukraine) kritisiert. Auf der Sondersitzung des Deutschen Bundestags am 27. Februar 2022 erfolgte schließlich im Rahmen der Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz die grundlegende Umorientierung der deutschen Politik.[2] Sie umfasste die Zustimmung zu massiven Wirtschaftssanktionen gegen Russland (einschließlich dem Stopp von Nord Stream 2), der Lieferung von Waffen an die Ukraine und einem Sofortprogramm zur Ausrüstung und Wiederaufrüstung der Bundeswehr.
Der am 27. Februar 2022 angekündigte Politikwechsel ist richtig und konsequent. Er kommt aber acht Jahre zu spät. Spätestens seit Besetzung der Krim durch russische Spezialeinheiten im Februar 2014 und den anschließenden Aggressionen gegen die Ost-Ukraine war offenkundig, dass Russland die strategische Konfrontation mit dem Westen sucht und eine fundamentale Revision der europäischen politischen Ordnung anstrebt, die man zwischen 1989 und 1997 unter Einbeziehung Moskaus ausgehandelt hatte.[3] Diese Ordnung bedeutete die politische Unabhängigkeit für Polen, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen und Bulgaren und für die Deutschen in der DDR. Sie bedeutete für Ukraine, Belarus, Estland, Lettland und Litauen, Moldau, Georgien, Armenien und Aserbaidschan die nationale Unabhängigkeit. Sie basierte auf den Prinzipien der Anerkennung der staatlichen Souveränität und Unverletzlichkeit von Grenzen, auf Gewaltverbot, dem vertraglich geregelten Verzicht auf Invasionsfähigkeit und dem verbrieften Recht jedes Staates, über seine Bündniszugehörigkeit selbst zu entscheiden. Zentrales Element waren die Achtung des Völkerrechts und die Nutzung multilateraler Institutionen, um die friedliche Zusammenarbeit zwischen Staaten zu ermöglichen.[4] All dies steht jetzt in Frage, weil der Kreml diese Ordnung mit militärischen Mitteln, Drohungen, Lügen und Täuschungsmanövern umstürzen will.
Um die Dimension und die Konsequenzen der derzeitigen Krise zu verstehen, sollen in diesem Beitrag vier Fragen beantwortet werden: (1) Welche Beweggründe und Zielsetzungen liegen Putins Drohungen und der Invasion zugrunde? (2) Was hat er unternommen, um seine Ziele zu erreichen? (3) Hat der Westen angemessen auf die Krise reagiert? und (4) Was bedeutet der Eintritt in den zweiten Kalten Krieg für die westliche Staatengemeinschaft und Deutschland? ...
weiterlesen
„Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz“
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen
Band 6, Heft. 2-2022, Seiten 129-149, https://doi.org/10.1515/sirius-2022-2002
Außen- und Sicherheitspolitik
Aus den Denkfabriken / Hannes Adomeit / 07.06.2021
Reicht Dialog allein? Ein kritischer Blick auf fünf Thinktank-Studien zum russisch-US-amerikanischen Verhältnis
Hannes Adomeit bespricht fünf Thinktank-Studien, die hierzu unterschiedliche Vorschläge machen. Während zwei der Studien aus Sicht Adomeits ein zu „weiches Licht“ auf Russland werfen, gelingt es den drei anderen besser, den Autor zu überzeugen: Er stimmt mit den Verfassern der Studien überein, dass ein Dialog mit Russland nur gelingen könne, wenn er durch ein Paket weiterer Maßnahmen begleitet werde.
Analyse / Rainer Meyer zum Felde / 25.06.2018
Abschreckung und Dialogbereitschaft. Der Paradigmenwechsel der NATO seit 2014
Die NATO war für zwei Jahrzehnte primär eine politische Allianz, die Russland als Partnerstaat ansah. Mit der Annexion der Krim durch Russland sowie der hybriden Aggression gegen die Ost-Ukraine hat sich ein Paradigmenwechsel vollzogen, bei dem es darum geht, einerseits Verteidigungsfähigkeit herzustellen, andererseits aber auch die Dialogbereitschaft zu erhalten. Der Beitrag zeichnet den Weg der NATO seither nach und befasst sich mit der Frage, was der Paradigmenwechsel der NATO für die deutsche Sicherheitspolitik und die Bundeswehr bedeutet.