Die Vision eines Europas „geeint, frei und in Frieden?“ heute
Die EU und ihre sechs östlichen Partner kommen am 15. Dezember 2021 zum sechsten Gipfeltreffen der „Östlichen Partnerschaft“ (ÖP) zusammen. Sie sollten ihre Zusammenarbeit grundlegend überdenken, finden Hugo von Essen und Andreas Umland. Die EU müsse besser zwischen langsamen und schnellen Reformern unterscheiden sowie die Integration des Assoziierungstrios Ukraine, Moldau und Georgien vertiefen, ihre brennenden Sicherheitsfragen angehen und ihnen wirksamer bei der Bekämpfung hybrider Bedrohungen helfen. Darüber hinaus sollte sich Brüssel stärker als bislang für die Demokratisierung in der gesamten ÖP-Region engagieren.
Ein Beitrag von Hugo von Essen und Andreas Umland
Die in letzter Zeit wachsenden Spannungen in Osteuropa wie die belarussisch-polnische Grenz- und Migrationskrise oder Russlands militärische Drohgebärden rund um die Ukraine erinnern an die schmerzliche Unvollständigkeit des europäischen Einigungsprojekts nach Ende des Kalten Krieges. Sie rücken das Programm „Östliche Partnerschaft“ (ÖP) der EU in den Mittelpunkt der europäischen Politik. Am 15. Dezember 2021 wird die EU dieses Programm auf dem sechsten ÖP-Gipfel mit ihren osteuropäischen Partnern in Brüssel besprechen.
Die Ukraine, Georgien, Moldawien, Armenien, Aserbaidschan und Belarus sind nicht nur EU-Nachbarn, sondern auch Teile Europas. Daher war es richtig, dass die EU 2009 die „Östliche Partnerschaft“ als Sonderprogramm für diese sechs Länder aufgelegt hat. Seitdem hat die ÖP für einige der sechs Länder spürbare Ergebnisse gebracht: Reformkräfte wurden mobilisiert, EU-Finanzhilfe und -Marktzugang haben die Auswirkungen von Wirtschaftskrisen und russischen Handelsembargos gemildert und die Assoziierungsabkommen mit der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau (das „Assoziationstrio“) haben die Handels- und Investitionsströme, die politischen Verbindungen, die Kulturbeziehungen und die zwischenmenschlichen Kontakte verbessert.
Dennoch sieht das Gesamtbild in der ÖP-Region düster aus. Das Wirtschaftswachstum war eher unregelmäßig, Korruption wurde zwar aufgedeckt, aber nicht beseitigt und Reformen wurden teils nicht durchgeführt, nur unzureichend umgesetzt oder sogar rückgängig gemacht. In Brüssel, den EU-Mitgliedstaaten und Washington hat sich Ermüdung mit den ÖP-Ländern breitgemacht. Das Bewusstsein für die strategische Bedeutung der Region ist zurückgegangen. Schlimmer noch, der Kreml versucht mit allen Mitteln, die Souveränität der sechs ÖP-Staaten in dieser oder jener Form zu unterwandern.
Trotz der enormen Herausforderungen existiert weiter die Vision von einem Europa „geeint, frei und in Frieden“, wie einst von George Bush Senior formuliert. Dieses einst herausragende strategische Projekt zielt darauf ab, ein vereinigtes und sicheres Europa zu schaffen, das auf demokratischen Prinzipien, Rechtsstaatlichkeit und der Achtung der Menschenrechte beruht. Der Plan impliziert gut regierte demokratische Gesellschaften, wirtschaftlichen Wohlstand und internationale Sicherheit in Osteuropa. Heute muss diese Vision in Erinnerung gerufen und neu belebt werden.
Die Alternative zum gesamteuropäischen Projekt ist nicht die Fortsetzung des derzeitigen Status quo. Die internen Probleme der sechs ÖP-Nationen und deren externe Bedrohungen, vor allem durch Russland, werden, so sie nicht eingedämmt werden, zu Rückschritten führen – wenn nicht gar zu Krisen und Zerfall. Moskaus Gegenvision ist eine eurasische Sicherheitsordnung, die auf der Dominanz von Großmächten sowie deren privilegierten Einflusssphären beruht und impliziert, dass einige Staaten weniger souverän und unabhängig sind als andere.
Entgegen der russischen Propaganda befindet sich der Westen nicht in einem geopolitischen Wettstreit mit Russland. Die umfassende Vision einer gemeinsamen, kooperativen und friedlichen Zukunft für den gesamten europäischen Kontinent schließt ein künftiges demokratisches Russland ein. Dieses neue Russland muss sich allerdings an das Völkerrecht und die an sich bereits gemeinsam vereinbarte europäische Sicherheitsordnung halten.
Um die Vision eines friedlichen und geeinten Europas zu verwirklichen und mit neuem Leben zu füllen, muss die EU ihre Östliche Partnerschaft aufwerten und weiterentwickeln. Im Einzelnen bedeutet dies:
Stärkere Differenzierung. Der bestehende multilaterale Rahmen der Östlichen Partnerschaft ermöglicht bereits regionale Zusammenarbeit in so wichtigen Fragen wie Sicherheit, Konnektivität und Klimawandel und stärkt die kollektive Sichtbarkeit der sechs ÖP-Staaten gegenüber Brüssel. Um die gewaltigen Probleme der einzelnen ÖP-Länder besser zu bewältigen, muss die EU ihre bilateralen Beziehungen in der östlichen Nachbarschaft weiter differenzieren und intensivieren. Brüssel sollte durch maßgeschneiderte Maßnahmen, gezielte Anreize und individuelle Aktionspläne besser auf die besonderen Umstände jedes einzelnen Landes reagieren.
Vertiefte Integration. Für das Assoziierungstrio Ukraine, Moldau und Georgien würde stärkere Differenzierung eine vertiefte Integration in die EU in mehreren Bereichen bedeuten. Dies betrifft vor allem eine umfassendere Unterstützung bei der Rechtsangleichung des Trios an den EU-Besitzstand, eine intensivere Beteiligung am Binnenmarkt der Union (insbesondere in den Bereichen Energie und Banken) und eine verbesserte Zusammenarbeit in Bereichen wie Verkehr, Digitalisierung und Sicherheit. Es meint auch eine schnellere Einbeziehung in immer mehr interne EU-Programme und -Agenturen, eine engere allgemeine institutionelle Beziehung zwischen dem Trio und Brüssel sowie erweiterte bilaterale und multilaterale Konsultationsformate.
Ausgeweitete Sicherheitszusammenarbeit. Die EU muss die nötige politische Stabilität für wirtschaftliche Entwicklung und Reformbemühungen in der ÖP-Region besser gewährleisten und die Sicherheitslage sowohl in West- als auch in Osteuropa verbessern. Um dies zu erreichen, sollte die EU ihre sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit dem Assoziierungstrio deutlich verstärken. Das mangelnde Engagement der EU hat ihren Einfluss und Wert als ernstzunehmender geopolitischer Partner geschmälert, den Erfolg der ÖP behindert und andere Akteure ermutigt, ihre Einflussbereiche auszuweiten. Wenn die EU ein strategisch eigenständiger geopolitischer Akteur werden, die ÖP-Initiative einen wirklichen Wandel herbeiführen und Europa sicherer werden soll, muss Brüssel mehr Ideen und Mittel in die Sicherheit ihrer östlichen Nachbarschaft investieren.
Bessere Abwehr hybrider Bedrohungen. Von hoher Bedeutung für die künftige Sicherheit sowohl der ÖP als auch der EU ist eine vertiefte Zusammenarbeit beim Schutz vor Hybridangriffen. Eine neue Toolbox zur Abwehr hybrider Bedrohungen der EU sollte gemeinsam mit dem Assoziierungstrio umgesetzt werden. Diese Toolbox muss verschiedene Teilstrukturen der EU sowie nationale Institutionen vereinen und etwa eine verbesserte strategische Kommunikation, erhöhte Sichtbarkeit der EU auf Bürgerebene und verstärkte Unterstützung für unabhängige lokale Medien zum Ziel haben.
Neubelebung des demokratischen Engagements. In ihrer zunehmend opportunistischen und transaktionalen Behandlung der ÖP verschließt die EU mehr und mehr die Augen vor langsamen, manipulierten oder fehlenden Reformen. Damit wird die übergeordnete Agenda der EU untergraben und Brüssel verliert an Glaubwürdigkeit. Auch wenn größere geopolitische Umstände nicht ignoriert werden können, darf die EU ihr womöglich wichtigstes politisches Instrument nicht aufgeben – ihre normative Kraft. Um nachhaltige Reformen und Demokratisierung zu gewährleisten, sollte sich die EU verstärkt auf den Aufbau von Institutionen, eine systematische und „intelligente“ Konditionalität sowie ein erweitertes und diversifiziertes Engagement für die Zivilgesellschaft setzen.
Hugo von Essen und Andreas Umland sind Analysten des Stockholmer Zentrums für Osteuropastudien am Schwedischen Institut für Internationale Angelegenheiten. Ein ausführlicherer englischsprachiger Bericht findet sich hier.
Außen- und Sicherheitspolitik
Standpunkt / Andreas Umland / 30.07.2021
Die Ukraine, USA und Nichtverbreitung von Atomwaffen. Replik auf einen Artikel zur amerikanischen Ukrainepolitik
Stein des Anstoßes ist für Andreas Umland ein Artikel von Ted Galen Carpenter mit dem Titel "Ukraine's Accelerating Slide into Authoritarianism?“. Darin übt er harsche Kritik an der US-Unterstützung für die Ukraine. Carpenters Bild von einem angeblich wachsenden Autoritarismus und Ultranationalismus in der Ukraine sind für Umland höchst unverständlich. Zwar sei die Ukraine keine ideale liberale Demokratie, aber sie sei vergleichsweise frei und demokratisch. Umland weist auf die Gefahren hin, die ein Rückzug der USA aus ukrainischen Angelegenheiten bedeuten würde: Die regionale Instabilität würde sich erhöhen und das Budapester Memorandum ausgehöhlt.
Essay / Andreas Umland / 17.09.2020
Belarus ist nicht die Ukraine. Wird Belarus nach Lukaschenka den Weg der Ukraine oder Armeniens gehen?
Geschichte und Politik der postsowjetischen belarussischen und ukrainischen Nation sind sehr verschieden. Die gegenwärtige Transformation von Belarus mag daher zu Ergebnissen führen, die eher denjenigen der Samtenen Revolution 2018 in Armenien als denen der Revolution der Würde 2013/2014 in der Ukraine gleichen. Jedoch könnte das pathologische Verhältnis des Moskauer Imperialismus zu Russlands ostslawischen "Brudervölkern?“ bedeuten, dass die Zukunft von Belarus letztlich nichtsdestoweniger dem Schicksal der Ukraine ähneln wird.
Rezension / Wilhelm Johann Siemers / 02.09.2021
Mychailo Wynnyckyj: Ukraine's Maidan, Russia's War. A Chronicle and Analysis of the Revolution of Dignity
"Ukraine matters?“, so lautet die zentrale Botschaft von Mychailo Wynnyckyis Monografie "Ukraine´s Maidan, Russia´s War?“. Hierin beschreibt der Autor aus der Perspektive des 'teilnehmenden Beobachters?‘ die Proteste, die 2013/14 den damaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch aus dem Amt vertrieben. Wilhelm Johann Siemers?‘ Rezension des Buches stellt die enorme Bedeutung, die Wynnyckyi dem Aufstand beimisst, heraus: Er erscheint als Zeichen eines profunden Wandels in der politischen Kultur des Landes, der von Russland bekämpft werde und gleichzeitig den Westen nicht kalt lassen dürfe.
Externe Veröffentlichungen
Sabine Fischer, Astrid Sahm, André Härtel / 01. 122021
Stiftung Wissenschaft und Politik
Mykola Kapitonenko / 20. 11.2021
Die Östliche Partnerschaft – Was tot ist, kann niemals sterben
Cicero
Franziska Smolnik, Mikheil Sarjveladze, Giorgi Tadumadze / 25. 032021
Stiftung Wissenschaft und Politik