Kari Palonen: At the Origins of Parliamentary Europe. Supranational parliamentary government in debates of the Ad Hoc Assembly for the European Political Community in 1952-1953
Eine Ad-hoc-Versammlung europäischer Parlamentarier*innen konzipierte 1952 einen Entwurf für einen supranationalen Parlamentarismus der Europäischen Politischen Gemeinschaft, der nie umgesetzt wurde. Kari Palonen bildet die Debatten jener Tage in der Versammlung ab und möchte damit neue Perspektiven auf die alternativen Möglichkeiten in der Geschichte der Parlamentarisierung der EU eröffnen. Für unsere Rezensentin leistet er damit einen „wichtigen und innovativen Beitrag zur konzeptionellen Historiografie europäischer Politik und Governance“.
Eine Rezension von Mechthild Roos
Das Europäische Parlament ist im Begriff, wieder in seinen normalen Arbeitsmodus zu verfallen, nachdem es sich im Nachgang der Europawahlen zwischen Juni und November 2024 primär mit der Neuzusammensetzung der Europäischen Kommission befasst hat. Während die Europa-Abgeordneten diese Phase in der Vergangenheit wiederholt als Lackmustest für das tatsächliche Ausmaß an Macht und Einfluss ihrer Institution auf die EU-Politik nutzten, wurde ihnen dieses Mal partei- und teils nationalpolitisches Manövrieren zulasten der parlamentarischen Kontrollfunktion angelastet: Einige Fraktionen und nationale Delegationen schienen den Hauptfokus eher darauf zu legen, eigene Vertreter*innen auf prominente Kommissar*innenposten zu heben oder Kandidat*innen gegnerischer nationaler Parteien zu verhindern, als die Rolle des Parlaments im grundsätzlich volatilen institutionellen EU-Machtgefüge zwischen Kommission, Rat und Parlament zu stärken.
Diese Phase inner- und zwischen-institutionellen Aushandelns ebenso wie die politische, öffentliche und wissenschaftliche Kritik daran zeigen deutlich, dass die Europäische Union bis heute kein unangefochten etabliertes parlamentarisches Fundament hat. Freilich sind die Gesetzgebungs-, Haushalts- und Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments vertraglich festgelegt und gesichert. Und doch bieten vage Vertragspassagen ebenso wie stetige Kompetenzverschiebungen durch Krisen und aktuelle Wandlungsprozesse reichlich Möglichkeiten, die spezifischen Aufgaben und Zuständigkeiten des Parlaments zu hinterfragen und umzuinterpretieren.
Die Wurzeln des europäischen, supranationalen Parlamentarismus
Welche Rolle genau dem Europäischen Parlament innerhalb der EU und, größer noch, dem Prozess europäischer Integration zukommt, ist eine Frage, die nur mit Blick auf Geschichte beantwortet werden kann. Schließlich ist sie fester Bestandteil jeglicher historischer Debatten um die Ausgestaltung europäischer Einigung, wie das vorliegende Buch des finnischen Parlamentarismus- und Demokratieexperten Kari Palonen näher beleuchtet. Darin führt Palonen seine Leser*innen näher an eines der ersten Projekte des supranationalen Parlamentarismus heran: die geplante parlamentarische Dimension der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Dieses Projekt, das in seinem Ausmaß an Kompetenztransfers von der nationalen auf die supranationale Ebene teils an die heutige EU heranreicht bzw. ihre Architektur sogar in einzelnen Aspekten übertrumpft hätte, wurde 1952 – kurz nach der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (oder Montanunion) - von den sechs Gründungsstaaten der Montanunion auf den Weg gebracht. Es sollte auf einer europäischen Verfassung fußen und nicht zuletzt ein machtvolles Zweikammer-Parlament haben (bestehend aus einer von den Bürger*innen direkt gewählten Kammer ähnlich dem heutigen Europäischen Parlament und einem Senat mit delegierten Vertreter*innen der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten).
Dass dieses Parlament und insbesondere dessen direkt gewählte Kammer mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestattet werden sollte, ist im Grunde wenig überraschend, wenn wir uns die Genese des Institutionsentwurfs anschauen: Wie Palonen nachzeichnet, waren die Autor*innen dieses Entwurfs – nämlich die Mitglieder der für diesen Zweck eigens etablierten Ad-Hoc-Versammlung – Abgeordnete der Montanunion-Versammlung (der Vorgängerin des heutigen Europäischen Parlaments), plus einiger Vertreter*innen der Beratenden Versammlung des Europarats und einzelner nationaler Parlamente. Europäische Abgeordnete entwarfen hier also die Rolle, Funktion und Macht ihrer eigenen zukünftigen Institution.
Letztlich verschwanden die konkreten Entwürfe für die Europäische Politische Gemeinschaft und ihre Institutionen zwar in der Schublade (finalisiert mit der abgelehnten Ratifizierung durch die französische Nationalversammlung im August 1954). Die einmal ausformulierten Ideen aber taten es nicht: Das zeigt nicht zuletzt die weitere institutionelle Entwicklung des Europäischen Parlaments, dessen Einfluss- und Kompetenzausbau in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich durch seine Mitglieder und ihre den oben genannten Entwürfen teils sehr nahen Ideen eines europäischen supranationalen Parlamentarismus angetrieben wurde. Nachhaltige Auswirkungen habe diese Aushandlungsphase um die Struktur und die Kompetenzen der Europäischen Politischen Gemeinschaft aber auch in Bezug auf die Politisierung europäischer Einigung gehabt, wie Palonen prägnant argumentiert. Dem bis dahin weitgehend diplomatisch und intergouvernemental geprägten Aushandlungsprozess um die zukünftige Gemeinschaft hätten die Abgeordneten der Ad-Hoc-Versammlung damit eine aus demokratietheoretischer Sicht eminente Dimension öffentlicher und politischer Debatten hinzugefügt.
Ein Blick auf die Verhandlungstische
In intensiver Auseinandersetzung mit den Primärquellen dieses Entwurfsprozesses nimmt Palonen seine Leser*innen mit in die europäische Aufbruchsstimmung der frühen 1950er-Jahre. Zugleich zeigt er durch den Blick in Reden, Dokumente und Verträge aber auch, dass keinesfalls Konsens über die Frage herrschte, welche Form die europäische Zusammenarbeit – und insbesondere die Rolle einer parlamentarischen Institution darin – im Schatten des Zweiten Weltkriegs und den ausufernden Spannungen des Kalten Kriegs annehmen sollte. Und nicht zuletzt macht Palonens detaillierte Nachzeichnung der Aushandlungsprozesse innerhalb der Ad-Hoc-Versammlung deutlich, dass das politische Momentum, innerhalb dessen eine Gruppe engagierter Abgeordneter um die Manifestierung ihrer Ideen europäischer Einigung rang, gewisse Begrenzungen hatte.
Palonens reichhaltige Quellenzusammenstellung zeigt aber auch, dass das Spannungsfeld aus Zeit- und Kompetenzbegrenzungen sowie stark divergierenden Integrationsvorstellungen, innerhalb dessen die Ad-Hoc-Versammlung ihre Entwürfe entwickelte, letztlich selbst ein Stück zur Entwicklung des parlamentarischen Charakters der Versammlung der Montanunion (und damit des zukünftigen Europäischen Parlaments) beitrug. Schließlich sei effiziente Detail- und Aushandlungsarbeit nicht im Plenum der Ad-Hoc-Versammlung möglich gewesen, sondern habe zu bedeutenden Teilen auf Ausschussebene stattgefunden. Diese Arbeitsweise war zwar für die Montanunions-Versammlung bereits formal eingeführt, sei hier aber durch intensive Anwendung verfestigt und weiter institutionalisiert worden – gerade auch in der alltäglichen Arbeitsweise der einzelnen Abgeordneten.
Palonen macht anhand der dichten Darstellung von Sitzungsdokumenten, Reden und Vertragstexten den Kontext und die Prozesse des Ringens um europäische institutionelle Zukunftsmodelle greifbar. Allerdings öffnet er die Tür zu den politischen Aushandlungsräumen teilweise nur für ein limitiertes Publikum: So zitiert er die Quellen, direkt eingebunden in den Argumentationsfluss, weitestgehend im Original – und also auf Französisch, Deutsch und Englisch, oft ohne Übersetzung. Das verschafft freilich große Nähe und unmittelbare Einblicke in die beleuchteten Prozesse. Allerdings können so nur jene, die alle drei Sprachen hinreichend beherrschen, der Argumentation des Buches vollständig folgen. Selbiges gilt für die vielfachen Bezüge zu Werken vor allem deutscher politischer Philosophie, darunter zuvörderst Max Webers.
Darüber hinaus werden verschiedene zusammengehörende bzw. sich aufeinander beziehende Quelltexte zwar im Detail referiert; mitunter fehlt daran anschließend aber eine größere kontextualisierende Einordnung und Interpretation durch den Autor. Damit ist es teils den Leser*innen überlassen, eigene Schlüsse zur Bedeutung der referierten Reden und Dokumente im größeren Kontext europäischer Einigung sowie demokratischer und diplomatischer Prozesse zu ziehen – soweit sie dazu qua Vorwissen in der Lage sind.
Der womöglich bedeutendste Mehrwert dieses Buches liegt in der detaillierten Betrachtung des ausgefeilten und durchdachten, aber gleichzeitig umstrittenen Konzepts eines supranationalen, europäischen Parlamentarismus, das bereits Anfang der 1950er-Jahre ausgearbeitet wurde und – nicht zu vergessen – einer Verabschiedung sehr nahe kam. Zugleich profitieren die Leser*innen aber auch an unterschiedlichen Stellen von Palonens breiter Expertise zu den längeren Linien parlamentarischer, intergouvernementaler, supranationaler und sonstiger politischer und philosophischer Entwicklungen, die nicht nur die Entwürfe für die Europäische Politische Gemeinschaft und ihre parlamentarische Versammlung prägten, sondern ebenso die Evolution europäischer Einigung im Allgemeinen. Hierzu nimmt Palonen seine Leser*innen immer wieder mit auf spannende historische Exkurse in vorangegangene Jahrzehnte und Jahrhunderte, durch die die weitreichende Bedeutung auch kleinerer Debattenstränge innerhalb der Ad-Hoc-Versammlung greifbar wird.
Ein wichtiger Beitrag zur europäischen Parlamentarismusforschung
Palonens Betrachtung der Ad-Hoc-Versammlung reiht sich ein in eine wachsende Forschungslandschaft zur demokratischen und, spezifischer, parlamentarischen Dimension europäischer Einigung. In der Tat hat der supranationale Parlamentarismus der 1940er- bis 1950er-Jahre in den letzten Jahren breite und zunehmende wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. So widmet sich etwa Koen van Zons kürzlich erschienenes Buch „Heralds of a Democratic Europe”[1] den Anfängen demokratischer Repräsentation und parlamentarischer Institutionalisierungsprozesse – darunter nicht zuletzt auch in einem ausführlichen Kapitel zur Ad-Hoc-Versammlung und ihrer Rolle innerhalb der Europäischen Politischen Gemeinschaft. Siehe hierzu auch die von Palonen ebenfalls referierten Werke von Schorkopf[2], Krumrey[3], Guerrieri[4] und Rittberger[5]; sowie nochmals Guerrieri[6] explizit zur Rolle europäischer Abgeordneter der Montanunion-Versammlung in der Ad-Hoc-Versammlung und Pistone[7], der in einem Kapitel detailliert Einflussversuche der Union Europäischer Föderalisten auf die Ad-Hoc-Versammlung beleuchtet. Mit den auch im vorliegenden Buch als bedeutsam herausgearbeiteten Mehrfach-Mandaten europäischer Abgeordneter befassen sich nicht zuletzt Roos[8], Knudsen[9] und Cohen[10].
Die Einbettung von Palonens eigener Forschung zur Ad-Hoc-Versammlung und der Entwicklung des europäischen Parlamentarismus in den 1950er-Jahren in diese historiografische und politikwissenschaftliche Forschungslandschaft ist eher begrenzt. Nichtsdestotrotz zeigt Palonen in seinem Buch im Rückbezug auf die oben genannte reiche Primärquellenbasis eindrücklich, welche Hindernisse der hier betrachtete Entwurfsprozess des supranationalen Parlamentarismus überwinden musste bzw. wollte – und in welchem Maße dies ge- oder misslang. Palonen nennt sich selbst in seinem Buch „a conceptual historian of politics“ (95). Und in der Tat leistet sein Werk einen wichtigen und innovativen Beitrag zur konzeptionellen Historiografie europäischer Politik und Governance. Palonen verhilft uns damit zu einem besseren Verständnis der demokratischen und parlamentarischen Grundpfeiler, die der institutionalisierten europäischen Einigung in den 1950er-Jahren nahezu und Jahrzehnte später in Teilen tatsächlich gegeben wurden.
Anmerkungen:
[1] Van Zon, Koen (2024): Heralds of a Democratic Europe. Representation without Politicization in the European Community, 1948-68, Newcastle upon Tyne: Agenda Publishing.
[2] Schorkopf, Frank (2023): Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948-2007, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
[3] Krumrey, Jacob (2018): The Symbolic Politics of European Integration. Staging Europe, Basingstoke: Palgrave Macmillan.
[4] Guerrieri, Sandro (2014): From the Hague Congress to the Council of Europe: hopes, achievements and disappointments in the parliamentary way to European integration (1948–51), in: Parliaments, Estates & Representation, 34:2, S. 216–227.
[5] Rittberger, Berthold (2006): No integration without representation! European integration, parliamentary democracy, and two forgotten communities, in: Journal of European Public Policy, 13:8, S. 1211–1229.
[6] Guerrieri, Sandro (2016): The European Parliament in the project of the Ad Hoc Assembly (10 March 1953), in: Romano, Andrea (Hg.), Culture parlamentari a confronto. Modelli della rappresentanza politica e identità nazionali, Bologna: CLUEB, S. 169-178.
[7] Pistone, Sergio (2008): The Union of European Federalists, Mailand: Giuffrè Editore.
[8] Roos, Mechthild (2021): The Parliamentary Roots of European Social Policy. Turning Talk into Power, Cham: Palgrave.
[9] Knudsen, Ann-Christina L. (2012): Modes de recrutement et de circulation des premiers membres britanniques et danois du Parlement européen, in: Cultures & Conflits, 85–86, S. 61–79; Knudsen, Ann-Christina L. (2014): The European Parliament and political careers at the Nexus of European integration and transnational history, in Laursen, Johnny (Hg.), The institutions and dynamics of the European Community, 1973–83, Baden-Baden: Nomos, S. 76–96.
[10] Cohen, A. (2012): L’autonomisation du “Parlement européen". Interdépendance et différenciation des assemblées parlementaires supranationales (années 1950 - années 1970), in: Cultures & Conflits, 85–86, S. 13–33.
Außen- und Sicherheitspolitik
Externe Veröffentlichungen
Kari Palonen / 27.08.2024
Verlag Barbara Budrich
Mehr zum Themenfeld Die internationale Ordnung, der Westen und die USA