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SIRIUS: Standpunkt / 17.05.2023

Taugt die realistische Theorieschule zur Erklärung des russischen Kriegs gegen die Ukraine?

Bild: fancycrave1, Pixabay.

Johannes Varwick diskutiert für SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen anhand der realistischen Schule aus der IB-Theorie Erklärungsansätze, verlorene Chancen, persistierende Problemstellungen und daraus abgeleitete Handlungsoptionen im Ukrainekrieg. Dabei bestehe die Bringschuld der Forschung stets darin, die eigenen Konzepte verständlich zu formulieren, während er die Politik in der Pflicht sieht, den Austausch mit der Wissenschaft zu suchen und so eigene Handlungsoptionen fortwährend entwickeln zu können.


Ein Standpunkt von Johannes Varwick 


Einleitung – Warum die Theorie der internationalen Beziehungen anlässlich des Kriegs in der Ukraine bemühen?

Die europäische Friedensordnung liegt in Trümmern. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist in Zielen und Mitteln ein Zivilisationsbruch, der die internationale Politik auf vielen Ebenen verändert hat und weiter verändern wird. Das ist nicht nur eines der prägendsten Ereignisse der internationalen Sicherheitspolitik der vergangenen 30 Jahre, sondern stellt auch die theoretische Beschäftigung mit internationaler Politik vor eine Bewährungsprobe. Theoriefragen werden zwar innerhalb der Sozialwissenschaften intensiv diskutiert, sind jedoch oftmals von praktischen Debatten abgekoppelt und bewegen sich häufig in einem elfenbeinturmartigen Diskursraum. Dies gilt ebenso für die Sicherheitspolitik, obschon bei ihr traditionell sowohl theoriegeleitete als auch praxisorientierte Ansätze eine Rolle spielen.

Was kann die theoriegeleitete Beschäftigung mit internationaler Sicherheitspolitik leisten? Karl Popper sah Theorien als Netze, die wir auswerfen, um die Welt einzufangen, zu rationalisieren und zu erklären.[1] Das Auswerfen eines Netzes löst noch keine Probleme, ist aber womöglich Voraussetzung dafür, die „richtigen“ Probleme zu erkennen und Handlungsoptionen zu entwickeln. Politische Entscheidungsträger können gewiss ohne Theorie auskommen – und auch die Beschäftigung mit Sicherheitspolitik ist theoriefrei möglich. Allerdings werden Begriffe und Konzepte mit theoretischem Zugriff eher greifbar und sortierter als bei Analysen, die nicht die ihnen – implizit oder explizit – zugrundeliegenden theoretischen Annahmen betrachten.

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg kann die Theorie der internationalen Beziehungen (IB-Theorie) durchaus helfen zu erklären, was geschehen ist, auf verpasste Chancen und Probleme aufmerksam zu machen und daraus abgeleitet Handlungsoptionen vorzuschlagen.[2] Dabei kommen naturgemäß sehr unterschiedliche Sichtweisen und großtheoretische Denkschulen – verstanden als weltbildartige Konstrukte, die den Charakter des internationalen Milieus erfassen[3] – infrage. Die eine Theorie, die für alles passt, gibt es selbstverständlich nicht. Vielmehr haben sich im Lauf der Zeit einige große Stränge (im Wesentlichen Realismus/Neorealismus, Liberalismus, Institutionalismus und Konstruktivismus) herausgebildet, die im Sinn eines Theorienpluralismus nebeneinander bestehen und zum Teil komplementär, zum Teil konkurrierend Erklärungskraft beanspruchen.

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1   Popper, Karl (1935): Logik der Forschung. Zur Erkenntnistheorie der modernen Naturwissenschaft. Wien, J. Springer, S. 26: 10.1007/978-3-7091-4177-9
2   Vgl. Stephen M. Walt: An International Relations Theory Guide to the War in Ukraine. A consideration of which theories have been vindicated – and which have fallen flat, Foreign Policy online, 8.3.2022
3    Meyers, Reinhard (2015): Begriff und Funktion von IB-Theorie, in: Wichard Woyke/Johannes Varwick (Hrsg.): Handwörterbuch internationale Politik, 13. Auflage, Opladen, Verlag Barbara Budrich/UTB, S. 28–34.


 

 

Taugt die realistische Theorieschule zur Erklärung des russischen Kriegs gegen die Ukraine?

SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen 

Band 7 Heft. 1-2023, Seiten 72-79,  https://doi.org/10.1515/sirius-2023-1007 

 

Die Erstveröffentlichung des Textes erfolgte am 4. April 2023.

Die Zeitschrift SIRIUS wird herausgegeben durch die Stiftung Wissenschaft und Demokratie (SW&D), ebenso ermöglicht die Stiftung ab dem Jahr­gang 2022 die digitale Veröffentlichung aller Artikel in Open Access unter der Lizenz CC­BY NC ND. Die SW&D ist eine wissenschaftsfördernde Stiftung, die sich in ihrer operativen Tätigkeit als Herausgeberin von SIRIUS und mit ihrem Online­Portal für Politikwissenschaft insbesondere um die Kommunikation politikwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bemüht. Darüber hinaus unterhält sie eine eigene Forschungseinrichtung, das Institut für Parlamentarismusforschung in Berlin, und fördert das Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel.

Band 7 der Zeitschrift SIRIUS wird während des 30-­jährigen Jubiläums der SW&D veröffentlicht. Die SW&D ist seit 30 Jahren tätig und verfolgt mit ihren Einrichtungen und Förderprojekten das Ziel, insbesondere die Politikwissenschaft bei der Lösung praktischer und normativer Probleme der Demokratie zu unterstützen.      

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