/ 22.06.2013

Heinz Steinert
Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 2010; 332 S.; 29,90 €; ISBN 978-3-593-39310-0Hätte Weber im Seminar von Heinz Steinert eine Abschlussarbeit geschrieben, er wäre durchgefallen. Aus heutiger Perspektive, so die Bewertung, sei die Weber-These von der Wahlverwandtschaft zwischen Kapitalismus und protestantischen Sekten unhaltbar. Anhand einzelner Kapitel des Textes zeigt Steinert, wie methodisch unsauber Weber arbeitete: unklare Fragestellung und Begriffsbildungen, fehlerhafte Indikatoren und Operationalisierung, mangelhaftes Datenmaterial, einseitige Textlektüre und Datenauswertung, verzerrte Übersetzungen, unbelegte Behauptungen, sachliche und logische Fehler sowie widersprüchliche Thesen, die mit rhetorischer Rafffinesse so konstruiert sind, dass sie unwiderlegbar bleiben. Dieser niederschmetternde Befund provoziert zwei Fragen. Zunächst: Weshalb hat Weber – obwohl er die Schwächen wohl kannte – an der These festgehalten? Sie sei die Folge seiner heute inakzeptablen Wissenschaftstheorie und zugleich der Reflex des verunsicherten Bürgers im preußischen Fin de siècle, den Steinert im letzten Kapitel bei Freud Platz nehmen lässt. Politisch gesehen sei die Weber-These die antikatholische Projektion des selbstbewussten Kulturprotestantismus, der die eigene Klassenzugehörigkeit überhöht, sich für die Lage der Arbeiter uninteressiert zeigt und Ausdruck einer latenten Polenfeindlichkeit ist. Daher die zweite Frage: Wieso hat sich die hundertjährige Forschung davon nicht distanziert? Steinerts Antwort lautet, dass die Protestantismus-These bei ihrem wichtigsten Verehrer eine ganz ähnliche ideologische Funktion erfülle. Indem Parsons den Prozess der Rationalisierung aus dem Puritanismus ableite, ließe sich mit Rückgriff auf Weber die Überlegenheit des Westens (der USA) und die „Unterentwicklung“ der Dritten Welt legitimieren. Dass an der wissenschaftlich und politisch obsoleten These noch heute festgehalten wird, führt Steinert auf die kulturindustrielle Vermarktung eines Klassikers zurück, der man gern zitiert, aber eben auch nicht mehr textkritisch liest. Insgesamt mag man den polemischen und bisweilen abschätzig-schulmeisterlichen Tonfall des Buches missbilligen, dennoch ist es zu empfehlen: Erstens für die Zusammentragung der Schwächen eines klassischen Textes und zweitens für die unterhaltsam zu lesende Rüge des heutigen Forschungsbetriebes, in dem ein unbedachtes Bonmot mehr zählt als die ideengeschichtlich akkurate Forschung.
Frank Schale (FS)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Chemnitz.
Rubrizierung: 5.46 | 5.42
Empfohlene Zitierweise: Frank Schale, Rezension zu: Heinz Steinert: Max Webers unwiderlegbare Fehlkonstruktionen. Frankfurt a. M./New York: 2010, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/33040-max-webers-unwiderlegbare-fehlkonstruktionen_39467, veröffentlicht am 19.11.2010.
Buch-Nr.: 39467
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Dr., wiss. Mitarbeiter, Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Technische Universität Chemnitz.
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