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Essay / 23.07.2018

Armut – eine verdrängte gesellschaftliche Realität. Über ein Missverständnis mit fatalen Folgen

In der Diskussion über Fragen der Einkommensverteilung habe im Nachkriegsdeutschland der 1950er-Jahre die Annahme vorgeherrscht, dass „es einen Fahrstuhleffekt nach oben für alle gesellschaftlichen Gruppen gebe“, schreibt Franz Schultheis. Und bei der Einführung der Sozialhilfe sei der Gesetzgeber davon ausgegangen, dass Armut „nach einer gewissen Übergangszeit von selbst überflüssig sein würde“. In dieser bis in die1980er-Jahre dominierenden Vorstellung lag ein grundlegendes Missverständnis in der Wahrnehmung und im Umgang mit Armut, wie Schultheis in seinem Essay beleuchtet – mit fatalen Folgen bis in die Gegenwart.

reflection Foto aitoff pixabayDurch eine verzerrte Wahrnehmung wurde Armut in Deutschland lange Jahre nicht als ernstes Problem erkannt. Foto: aitoff (pixabay)

 

Vor mehr als einem Jahrhundert postulierte der deutsche Soziologe Georg Simmel, dass man eine Gesellschaft am besten daran erkennen und verstehen könne, wenn man sich anschaut, wie sie mit ihren Armen umgeht. Legt man diese These auf die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit an, dann kann man mit gutem Grund behaupten, dass die Besonderheit des deutschen Umgangs mit dem Phänomen Armut in dessen Verdrängung aus dem öffentlichen Bewusstsein liegt.

Seit den Fünfzigerjahren herrschte in der deutschen Diskussion um Fragen der gesellschaftlichen Situation im Hinblick auf die Verteilung von Einkommen und Vermögen und der sozialen Klassen- oder Schichtbeziehungen die These von einer sogenannten „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ vor, erstmals formuliert von Helmut Schelsky im Jahre 1953. Diese These wurde dann in den 1980er-Jahren in modernisierter Form in Gestalt unterschiedlicher Variationen des gleichen Themas fortgeführt. Hier sprach man dann von einer entstrukturierten, individualisierten pluralistischen Gesellschaft mit nur noch horizontalen Differenzierungen unterschiedlicher soziokultureller Milieus mit unterschiedlichen Lebensstilen. Man nahm an, dass es einen Fahrstuhleffekt nach oben für alle gesellschaftlichen Gruppen gebe. Diese Sicht auf die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit ging davon aus, dass sich gesellschaftliche Ungleichheiten der Verteilung von Ressourcen und Disparitäten der Lebenschancen in der Bevölkerung immer weiter einebnen würden, und es nur eine Frage der Zeit wäre, bis das Phänomen Armut vollständig verschwände.

Der Mythos von der „bewältigten Armut“

In den Fünfzigerjahren kam es in Deutschland ja auch tatsächlich zur Durchsetzung eines durchaus großzügigen, weltweit herausstechenden Modells universeller sozialer Mindestsicherung in Form von Sozialhilfe. In dieser Epoche sprach man noch von einer „Armut des Volkes“ als einer Art kollektiv erlittenen Nachwirkung des Zweiten Weltkrieges und dessen direkten Folgeschäden für Individuum und Gesellschaft.

Der Gesetzgeber ließ sich damals bei der Einführung der Sozialhilfe von der Vorstellung leiten, dass diese umfassende soziale Grundsicherung nach einer gewissen Übergangszeit von selbst überflüssig würde. Denn die Nachwirkungen des Krieges in Gestalt von Kriegsgeschädigten verschiedenster Art (Invalide, Kriegs-Witwen und -Waisen etc.) würden ja nach einer Generation verschwunden sein.

Mit der Einführung der Sozialhilfe ging aber auch die Vorstellung einher, dass „Armut“ als solche dank dieser garantierten Mindestsicherung definitiv behoben beziehungsweise „abgeschafft“ sei – ein grundlegendes Missverständnis mit enormen Konsequenzen für die gesellschaftliche Wahrnehmung von und den Umgang mit Armut.

Aus soziologischer Sicht ist gerade, per definitionem, „arm“, wer qua Zuspruch von Unterstützung – hier „Sozialhilfe“ – legitimerweise als einer gesellschaftlichen Kategorie angehörig anerkannt wird, die sich unterhalb einer gesellschaftlich definierten Armutsgrenze situiert. Ebenso wie nur derjenige als „arbeitslos“ anzusehen ist, der Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung geltend machen kann, ist auch ein „Armer“ über die Zugangsberechtigung zur „Armen-Unterstützung“ definiert. Das heißt, dass die beachtliche Zahl an nicht geltend gemachten berechtigten Ansprüchen auf Sozialhilfe in den „toten Winkel“ der offiziellen Darstellung von Armut fällt.

Die Idee, Deutschland habe sich durch die Schaffung einer solchen Sozialgesetzgebung endgültig von der Armut verabschiedet, wurde dem Autor dieser Zeilen sehr eindrücklich vor Augen geführt, als er in den späten 1980er-Jahren an einem EU-geförderten Forschungsprojekt (SRED) von deutscher Seite als Partner beteiligt war. Kurz vor dem Start dieser Forschung zur „Extremen städtischen Armut in Europa“ wurde das Vorhaben durch eine Intervention des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl infrage gestellt. Er wollte die deutsche Beteiligung an dem Projekt stoppen, weil, wie er feststellte, „Armut“ in Deutschland ja dank der Existenz von Sozialhilfe abgeschafft sei.

Nicht nur Kohl unterlag diesem – für ein „gutes Gewissen“ sehr dienlichen – Missverständnis. Auch in der breiten Öffentlichkeit der deutschen Bevölkerung hat sich allem Anschein nach die Auffassung durchgesetzt und bis heute hartnäckig gehalten, dass „Armut“ hierzulande ein bewältigtes soziales Problem darstellt und ein für die Beschreibung deutscher Zustände ungeeigneter Begriff geworden sei, der besser für die Auseinandersetzung mit extremem Elend in Regionen Afrikas oder Asiens, wo noch Hunger herrscht, reserviert sein sollte.

Dabei wird dann „Armut“ in einer kruden materialistischen Sicht mit Mangel an lebensnotwendigen Gütern gleichgesetzt und nur für Situationen anerkannt, wo es um nacktes Überleben geht. Ein solch ahistorisches Bild von Armut übersieht, dass man diese nur in Bezug auf einen konkreten gesellschaftlichen Kontext mit seinen als Normalität und Standard angesehenen Bedürfnissen und Bedingungen alltäglicher Lebensführung definieren kann. Armut steht hier in Kontrast zur Teilhabe an den durchschnittlich gegebenen Lebenschancen einer Gesellschaft. Insofern passt hier auch der Begriff der Ausgrenzung oder – heute international gebräuchlich, da auch im Englischen und Französischen identisch – der Exklusion gut zur Beschreibung und Analyse dieses Phänomens des Ausschlusses von der Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern aller Art.

Armut als versagte gesellschaftliche Teilhabe

Hierzu zählen aber nicht nur Einkommen und Vermögen und die damit verbundenen Möglichkeiten der Daseinssicherung und autonomen Lebensführung. Auch die Teilhabe am normalen gesellschaftlichen und kulturellen Leben gehört dazu, also die Möglichkeit, von Zeit zu Zeit in ein Café oder ein Gasthaus zu gehen, ein Kino oder Theater zu besuchen, Freunde zu sich nach Hause einzuladen, einmal im Jahr in Ferien zu fahren, die Kinder an Weihnachten zu beschenken und ihre Klassenfahrt zu finanzieren. Wer einmal durchrechnet, wie groß beziehungsweise klein der Handlungsspielraum eines Hartz-IV-Beziehers ist, kommt schnell zu einem rundum traurigen Gesamtbild dessen, was die gelebte Wirklichkeit von Armut in der heutigen Gesellschaft betrifft. Führt man ausführliche Interviews mit von sozialer Ausgrenzung Betroffenen, wird man mit einer Ökonomie des Mangels konfrontiert, bei der die gesamte Lebensführung durch die Notwendigkeit bestimmt wird, jeden Cent, wie der Volksmund es ausrückt, dreimal umzudrehen. Sie sind ständig mit der Wahl dieser oder jener Qual des Verzichts auf in unserer Wohlstandsgesellschaft eigentlich noch so selbstverständlich erscheinende Güter konfrontiert.

Doch es geht nicht allein um materielle Dinge und Teilhabe am durchschnittlichen Konsum. Ebenso schwerwiegend, wenn auch oft vergessen beziehungsweise verdrängt, ist die symbolische Dimension gesellschaftlicher Teilhabe in Form sozialer Anerkennung als „vollwertiges“, wenn nicht gar „geschätztes“ Mitglied der Gemeinschaft. Armut ist stigmatisiert in unserer Leistungsgesellschaft, in der stetige Selbstverwirklichung und -optimierung der Individuen maßgeblich gemessen werden am beruflichem Status und Erfolg sowie dem damit einhergehenden Lebensstil. Selbst wenn in unzähligen empirischen Untersuchungen aufgezeigt wird, wie schnell Mitmenschen durch Wechsel- und Unfälle des Lebens – von Scheidung, Todesfall über Arbeitslosigkeit bis hin zur Überschuldung – in den Teufelskreis der Verarmung geraten können, hält sich das von populistischen Ressentiments genährte Vorurteil von der sogenannten selbstverschuldeten Armut hartnäckig und wird zur Quelle einer die Armut begleitenden Form moralischen Elends und Leidens.

Verschämte Armut als symbolische Gewalt

Wenn Armut, so die These, in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Realität hierzulande so wenig sichtbar und hörbar ist, geht dies nicht nur auf deren politische Leugnung oder ihr Ignorieren zurück und auch nicht allein auf den Umstand, dass Arme keine einflussreiche Lobby haben, keine gewerkschaftliche Vertretung kennen und sich bei keiner der politischen Partei angemessen vertreten fühlen. Dies liegt auch an einem auf den ersten Blick paradox anmutenden, soziologisch aber hoch signifikanten Mechanismus, der die Armen unfreiwillig zu aktiven Mitspielern kollektiver Verdrängung macht. Arm zu sein ist in unserer Gesellschaft mehr denn je beschämend. Es wird in breiten Kreisen der öffentlichen Meinung als Symptom des Scheiterns, als Ausdruck mangelnder Leistungsbereitschaft oder -fähigkeit interpretiert. Dies führt unter anderem zu dem perversen Effekt, dass sich die Opfer gesellschaftlicher Ausgrenzung in der Rolle von „Überzähligen“, gesellschaftlich „Unnützlichen“ sehen und dazu tendieren, so wenig wie möglich öffentlich sichtbar und präsent zu sein. Verschämte Armut ist Niederschlag einer symbolischen Gewalt, bei der die stigmatisierenden Fremdzuschreibungen von ihren Adressaten hin- beziehungsweise auf sich genommen und zu einem für ihr Selbstverhältnis zentralen Aspekt verinnerlicht werden. Der Habitus der Armut wird maßgeblich davon geprägt, dass die erlittene Marginalität – in ihrer Extremform in der Etikettierung als arbeitsscheue Nutznießer des Wohlfahrtsstaates – zu einem Verlust von Selbstwertgefühl führt. Dem Leiden an den materiellen Miseren wird noch ein nicht minder belastendes psychisch-moralisches Elend hinzufügt. Diese gesellschaftlich eingebettete, institutionell normalisierte Lage und Befindlichkeit erweist sich als besonders dramatisch, wenn Kinder schon von Geburt an in ihr sozialisiert werden, mit ihr aufwachsen und sie habitualisieren. Wenn heute jedes sechste Kind in Deutschland nach offiziellen Statistiken armutsgefährdet ist oder gar in manifester Armut lebt, so duldet eine der weltweit reichsten Gesellschaften den Fortbestand eines fatalen Reproduktionsmusters von Armut, bei dem diese „vererbt“ wird.

Wie kann Armut nachhaltig bewältigt werden?

Fragt man nach möglichen Auswegen aus dem beschriebenen Teufelskreis der Armut mit seinen sich wechselseitig verstärkenden Faktoren und Dynamiken, so gibt es nur mittelfristig realisierbare Strategien und kein Patentrezept. Die Bekämpfung von Armut braucht eine umfassende und langfristige gesellschaftspolitische Strategie. Statt einem Kurieren an Symptomen in Form von Sicherung eines Mindesteinkommens – zu viel, um zu sterben, zu wenig, um damit menschenwürdig leben zu können – müsste sich zunächst ein dezidierter politischer Wille manifestieren, diesen gesellschaftlichen Skandal „Armut in einem reichen Lande“ an der Wurzel anzupacken. Hiervon kann nach dem sozialstaatlichen Abbau von Sicherungen unter der Ägide von Hartz IV nicht die Rede sein kann. Der notwendige lange Atem einer Politik der Armutsbegrenzung müsste sich vor allem auf eine massive Investition in die Zukunft der nachwachsenden Generation Armutsgefährdeter konzentrieren. Ihr Zugang zu Bildung ab dem frühen Kindesalter mit einer breiten Palette kostenfreier Angebote an Infrastruktur und Dienstleistungen müsste nachhaltig verbessert werden. Denn eine gute Bildung und berufliche Ausbildung sind immer noch die beste Gewähr für eine gelingende soziale Inklusion.


Erstveröffentlichung:

Franz Schultheis: Armut – eine verdrängte gesellschaftliche Realtität, in: neue caritas 3/2018: 9-11

 

CC-BY-NC-SA
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