Elif Özmen: Was ist Liberalismus?
„Was ist Liberalismus?“, fragt die Philosophin Elif Özmen und präsentiert als Antwort den Kern aus Freiheit, Gleichheit und Individualismus. Angesichts zahlreicher Krisendiagnosen müsse dieses trio liberale auch heute noch Ausgangspunkt jeder Verteidigung des Liberalismus sein. Rezensent Mounir Zahran überzeugt vor allem die „ausgezeichnet strukturierte“ Darstellung der normativen Gemeinsamkeiten liberaler Theorien. Als problematisch erweise sich jedoch der Verzicht auf eine tiefere historische Einordnung, da so die spezifische historische Genese des Liberalismus unberücksichtigt bleibe.
In Zeiten des Kalten Krieges hatten liberale Denkerinnen und Denker wie Isaiah Berlin und Karl Popper ein leichtes Spiel. Der Cold-War-Liberalismus definierte sich beinahe ausschließlich über seine Opposition zum sowjetischen Kommunismus sowie zum erst kürzlich bezwungenen Faschismus. Dieser lauwarme Liberalismus, wie ihn Samuel Moyn in Liberalism Against Itself beschreibt, hat weniger versucht, die eigenen Stärken hervorzuheben, sondern begnügte sich größtenteils damit, auf die Grausamkeiten seiner Gegner hinzuweisen. Angesichts der wenig verlockenden Alternativen zum Liberalismus mussten sich seine Fürsprecherinnen und Fürsprecher relativ wenig Mühe geben. Dabei enthält die liberale Theorie, auch ohne auf die Unzulänglichkeiten anderer politischer Entwürfe hinzuweisen, überzeugende Argumente. Diesen Ansatz verfolgt die Philosophin Elif Özmen und liefert in ihrer kürzlich erschienenen Monographie Was ist Liberalismus? (2023) nicht nur einen systematischen Überblick über den Liberalismus an sich, sondern verrät auch, was für ihn spricht, ohne dass er sich an seinen Gegnern abarbeiten muss. Das Ergebnis ist ein ausgezeichnet strukturiertes Werk, das in drei normative Grundkonzepte des Liberalismus – Individualismus, Freiheit und Gleichheit – einführt.
Bevor jedoch näher auf den Inhalt des Buches eingegangen wird, soll zunächst der allgemeine Kontext seiner Erscheinung durchleuchtet werden. Seit der Ölpreiskrise in den 1970er-Jahren und der damit einhergehenden Wohlstandsstagnation sehen Beobachterinnen und Beobachter die liberale Demokratie in regelmäßigen Abständen in der Krise. Diese wiederkehrenden Krisendiagnosen gehen oftmals mit einem Anstieg von Publikationen einher, die den Liberalismus zum Untersuchungsgegenstand haben. Es hat den Anschein, dass sich Liberale gerade in Zeiten der Unsicherheit ihrer eigenen Identität vergewissern wollen. Im deutschen Sprachraum stechen neben Özmens Veröffentlichung Christoph Möllers‘ Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik (2020), Jens Hackes Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit (2018) und Jan-Werner Müllers Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus (2019) hervor. Im englischsprachigen Raum sind jüngst ebenfalls zu beachten Francis Fukuyamas Liberalism and Its Discontents (2022) und Samuel Moyns bereits erwähnte ideengeschichtliche Studie Liberalism Against Itself (2023). Was ist Liberalismus? unterscheidet sich insofern von diesen Bucherscheinungen, dass es hier „nicht um eine (weitere) Ideengeschichte des Liberalismus und auch nicht um eine (neue) Theorievariation“ geht, „sondern um die Offenlegung der begrifflichen und normativen Architektur, welche die verschiedenen liberalen Theorieversionen als liberale Theorien trägt“ (11). Demnach handelt es sich hier um eine authentische Momentaufnahme der liberalen Theorie. Es wird nicht nach den historischen Ausgangspunkten des Liberalismus gefragt, sondern nach dem überzeitlichen Kern gesucht. Mit ihrer Selbstzuschreibung „weniger ambitioniert“ als ihre Kollegen vorzugehen, tut sich die Autorin unrecht. Denn das Vorhaben ist als durch und durch ambitioniert zu bezeichnen, weil es wenig Werke gibt, denen es glückt, die Familienähnlichkeiten zwischen den liberalen Theorien so konzise auf den Punkt zu bringen. Im weiteren Verlauf der Rezension wird allerdings deutlich, dass die große Stärke des Buches auch seine größte Schwäche ist.
Özmen zufolge lässt sich im Kontext unterschiedlicher Autoren, Zeiten und Theorietraditionen der liberalen Philosophie ein gemeinsames Kerntrio bestehend aus Individualismus, Freiheit und Gleichheit ausmachen. Dieser Dreiklang bilde gewissermaßen den raum- und zeitübergreifenden Kern des Liberalismus. Die Freiheit von inneren und äußeren Zwängen habe für das Individuum eine geradezu existentialistische Funktion: Ohne Freiheit könne der Mensch seinen präferierten Lebensentwurf weder erkennen noch verwirklichen (68). Dabei stünden Freiheit und Gleichheit in einem besonderen Verhältnis. Liberale Gleichheit bedeutet Özmen zufolge nicht im Sinne marxistischer Theorie materielle Gleichheit – denn liberale Gerechtigkeitsvorstellungen möchten eine gerechte materielle Verteilung herbeiführen, keine gleiche –, sondern verweist stets auf eine gleiche Freiheit. Das heißt, dass allen politischen Subjekten die „gleichen Freiheitsansprüche“ (12) zukommen.
Welche Rolle kommt hier dem Individualismus zu? Aus liberaler Sicht gehe jedwede Legitimierung der politischen Ordnung von den Individuen aus, sie „gelten als erster und einziger Ausgangs- und Bezugspunkt der normativen Rechtfertigung“ (47). Was heißt das? „[D]ass die Vernünftigkeit und Gerechtigkeit der politischen Ordnung vor jedem Individuum und gleichzeitig durch die Individuen gerechtfertigt werden kann“ (52). Politische Ordnungen sind bei Özmen weder göttlich noch können sie einfach so freistehend in der Welt entdeckt werden, sie sind künstlich und können daher weder von Gott noch irgendeiner anderen außerweltlichen Entität gerechtfertigt werden. Menschen würden ihre Zustimmung nur gegenüber Ordnungen geben, in denen sie sich als gleiche und freie Individuen wiederfinden: Gleichheit, Freiheit und Individualismus sind „auf eine spezifische Weise miteinander verschränkt“ (12). Hierzu entwirft Özmen eine „Vereinbarkeitsthese“ (80): Sie sind unverzichtbar, vereinbar und stehen in einem „aufeinander verweisende[n] und sich wechselseitig stützende[n] Verhältnis“ (82).
Anders als es einige Politikerinnen und Politiker der FDP gerne glauben machen wollen, ist der Staat eine notwendige Bedingung einer liberalen Ordnung. Es ist seine Aufgabe, das Verhältnis zwischen dem eben beschriebenen trio liberale überhaupt erst zu ermöglichen. Wie sieht solch ein liberaler Staat aus? Nach dem Zweiten Weltkrieg betrachteten Liberale und Demokraten „bei allen Unterschieden und Differenzen im Detail“ (19) Liberalismus und Demokratie von nun an als Einheit. Demnach sei der liberale Staat zugleich ein demokratischer Staat, der in den liberalen Demokratien dieser Welt seine Realisierung erfährt. Hatte die klassische Demokratietheorie noch Vorstellungen vom guten Leben in sich enthalten, so enthalte sich die liberale Demokratietheorie solcher Aussagen, sie agiere nüchterner: „Es geht ihr um die Sicherung elementarer Freiheitsrechte und die Sicherung von Verfahren zur zeitlich begrenzten Bestimmung des rechenschaftspflichtigen politischen Personals“ (19). Von politischem Utopismus werde Abstand genommen, es sei eher eine Politik des Ausprobierens, die kleine Fehlentscheidungen erträglich und umkehrbar macht.
Die vielleicht wichtigste Besonderheit gegenüber anderen politischen Ordnungen ist Özmen zufolge die institutionell abgesicherte Kritikfähigkeit der demokratischen Ordnung. So verhindere die liberale Zuschreibung, dass eine „Tendenz zur Behauptung unabweisbarer Gründe […] und unumstößlicher Wahrheiten“ (192) entsteht. Die liberale Ordnung werde als kontingent erkannt, und gerade deshalb dürfen und müssen auch Politikerinnen und Politiker und ihre Entscheidungen radikal infrage gestellt werden. Dies gelte bis zu einem gewissen Grad auch für Verfassungen. Die liberalen Begrenzungen sorgen demnach dafür, so Özmen, dass die Ordnung selbst nach einer umwälzenden Reform eine demokratische Ordnung bleiben wird.
Ähnlichkeiten zur radikalen Demokratietheorie, die sich in manchen ihrer Strömungen zuweilen als Antipode zum Liberalismus versteht, sind im Kontingenzbewusstsein und dem Hang zur Selbstbefragung schwer von der Hand zu weisen. Bei der radikalen Demokratietheorie handelt es sich um eine politiktheoretische Denkschule die sich, zumindest im deutschen Sprachraum, zunehmender Beliebtheit erfreut. Der liberalen Demokratie machen Radikaldemokratinnen und Radikaldemokraten, wie Chantal Mouffe und Jacques Rancière, den Vorwurf, dass sie sich vor allem für die Konservierung stabiler, ungleicher Ordnungsverhältnisse interessiert und die grundsätzliche Konflikthaftigkeit des Politischen negiert. Aus ihrer Sicht stellen Stabilität und Ungleichheit eine Bedrohung für die wesentliche Dynamik der Demokratie dar (Hausteiner et al. 2020, 11). Radikaldemokratische Politik möchte die Kontingenz dieser menschengemachten Ordnung wahrnehmbar machen und damit jede Ordnung radikal infrage gestellt wissen (Comtesse et al. 2019, 474).
Aber erfüllt nicht der Liberalismus all das bereits, sowohl in Form der liberalen Demokratietheorie als auch in seiner Manifestation in den real existierenden Demokratien? Wird diese Ordnung nicht gerade im Zuge der Klimaproteste kritisch hinterfragt, und passt sie sich nicht gerade, wenn auch zugegebenermaßen sehr langsam, den Forderungen dieser neuen politischen Generation an? Im Gegensatz zu den radikaldemokratischen Theorien hat der Liberalismus eine konkrete Vorstellung davon, welche Staatsform er bevorzugt und wie diese institutionell aufbereitet sein soll. Noch wichtiger: Die radikale Demokratietheorie rückt den politischen Konflikt zwischen den politischen Subjekten in den normativen Mittelpunkt, versäumt es aber eine Anleitung zur Beilegung dieser Konflikte anzubieten. Konflikte werden im institutionellen Design der liberalen Demokratie quasi miterwartet. Der Liberalismus erwartet Konflikte und sieht sich funktionell gesehen auf die Lösung dieser Konflikte ausgerichtet. Für eine „durch Rechtsunsicherheit, drastische Konflikte und gegebenenfalls gewalttätige Auseinandersetzungen bedrohten Gemeinschaft“ (105) werden Verfahren der Stabilisierung errichtet.
Die radikale Demokratietheorie möchte anders als der Liberalismus sein und ist es am Ende nicht so ganz. Noch dazu verliert die radikale Demokratietheorie aufgrund ihrer vielfach diagnostizierten institutionellen Lücke an praktischer Überzeugungskraft.[1] In der Debatte versierte Leserinnen und Leser könnten sich nach der Lektüre von Özmens Buch fragen, was die radikale Demokratietheorie außer einer besonderen „Raffinesse in der Produktion politischer Pathosformeln“ (Manow 2020, 172) im Gegensatz zum Liberalismus zu bieten hat. Auch deshalb ist das Buch eine Bereicherung.
Doch die wohl wertvollsten Einsichten entfaltet die Arbeit in ihrem letzten Viertel, in dem zwischen einem alten und einem neuen Liberalismus unterschieden wird. Özmens argumentative Stärke liegt in der sorgfältigen theoretischen Rekonstruktion des Liberalismus, der die Grundlage für ihr eigentliches Anliegen bildet: Nicht nur die Frage zu beantworten, was der Liberalismus ist, sondern auch, was er angesichts der gegenwärtigen Krisen wieder sein sollte.
Auf der einen Seite stehe der von Özmen präferierte alte Liberalismus, der noch den Anspruch hatte, „eine im Prinzip universelle Begründung liberaler Normen vorlegen zu können“ (156): Ein Liberalismus, der noch von Immanuel Kant und den frühen John Rawls vertreten worden sei. Auf der anderen Seite stehe der neue Liberalismus, zu dessen prominentesten Vertretern neben Richard Rorty nun auch der späte Rawls gehört. Hier tritt laut Özmen die Zusammen- und Übereinkunft freier und gleicher Menschen in den Hintergrund. Während der alte Liberalismus von der Vernunftbegabung aller Menschen ausgegangen sei und diese als einzige Voraussetzung einer Einigung auf eine freiheitliche Ordnung angesehen habe, verknüpfe der neue liberale Liberalismus dies „mit den kontingenten Kontexten von westlichen liberalen Demokratien“ (169). Es werde nicht mehr an die Möglichkeit geglaubt, dass zum Beispiel Russinnen und Russen durch vernünftige Gründe unter Freien und Gleichen zu einem liberaldemokratischen Minimalkonsens gelangen. Nein, es „geht vielmehr um die Artikulation der mit den kontingenten Kontexten von westlichen liberalen Demokratien verknüpften vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen“ (169). Was laut Özmen übrig bleibt, „ist ein Liberalismus, der sich nur noch an die Bürger:innen von liberalen Gesellschaften mit einer Geschichte und Tradition demokratischer Kultur richtet“ (169).
Und daher, so Özmen, müsse man sich fragen, „ob der neue politische Liberalismus denjenigen Gesellschaften, zu deren Geschichte der Liberalismus nicht gehört […], eigentlich etwas anzubieten hat“ (169). Özmens Frage ist berechtigt und auch von trauriger Aktualität. Was würde die Theorie des späten Rawls den Massen im Iran noch zu sagen haben? Hätte ein solcher Liberalismus den Deutschen nach der barbarischen Nazi-Diktatur überhaupt etwas anzubieten gehabt? Eine Denkschule, die sich als „Apologie westliche Institutionen versteht, ist normativ schwach“ (170). Und ein Liberalismus, der sich nicht mehr als Advokat aller Menschen verstehe, „wird […] auch innerhalb liberaler Gesellschaften […] keine normative Verbindlichkeit entfalten können“ (170). Özmens Illustration überzeugt auch den Verfasser dieser Rezension, der zwar den kulturellen Relativismus des neuen Liberalismus an sich überzeugend findet, aber die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, nun kritischer sehen muss.
Özmens zweiter Kritikpunkt am neuen Liberalismus überzeugt indes weniger. Neben einer schwächelnden Überzeugungskraft berge dieser noch weitere Gefahren. Indem Wahrheitsansprüche relativiert werden, werde die liberale Demokratie gegenüber autokratischen Gebären verwundbar. Populistinnen und Populisten nähmen es mit der Wahrheit nicht mehr so genau. Fakten würden so verbogen werden, dass sie politisch nützlich sind. Eine solche Praxis führe zu einer Akzeptanz der politischen Lüge. Politische Lügen „korrumpieren den objektivierbaren Beitrag von Wahrheitsansprüchen für die Prozesse und Inhalte von Meinungsbildungen“ (175). Es gehe um nichts Geringeres als den Erhalt des „vernünftigen Meinungsdissenses“ angesichts der zunehmenden Verbreitung alternativer Fakten im politischen Diskurs: Özmen diagnostiziert hier eine „Krise der Wahrheit“ (176). Für liberale Demokratien sei es von äußerster Wichtigkeit, dass eine Politikerin oder Bürgerin ihre eigenen Fehler eingestehen kann. Die Erwartung, dass sich deshalb im Laufe der Zeit dann doch die besseren Argumente, Prognosen und Ideen durchsetzen, garantiere „die Vertrauens- und Anerkennungswürdigkeit […] demokratischer Entscheidungen“ (182). Populisten wie Donald Trump und Jair Bolsonaro würden mit ihrem politischen Ansatz des Lügens diese Vertrauens- und Anerkennungswürdigkeit korrumpieren. Aber ist dieser Politikansatz wirklich so neu? Gab es nicht auch in der heute als nüchtern und bodenständig wahrgenommenen Bonner Republik[2] Lügner par excellence wie Franz Josef Strauß und Rainer Barzel? War es in den USA mit Konsorten wie Richard Nixon und George W. Bush so viel anders? Was sich wohl eher geändert hat, ist, dass Lügen in immer größeren Teilen der Bevölkerung Anklang finden und sich dort dauerhaft festsetzen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Jedoch wird die Lösung dieses Problems, so verlockend sie auch klingen mag, nicht in der Rehabilitierung einer alten philosophischen Tradition zu finden sein.
Und nun zum letzten Punkt. Wie bereits angemerkt, ist die große Stärke des Buches auch dessen größte Schwäche. Obwohl das Buch kein geschichtswissenschaftliches Werk ist und auch keines sein möchte, hätte eine tiefergehende historische Einordnung einiger Entwicklungen und Wendepunkte des Liberalismus zur Klärung seines Wesens beitragen können. Beispielsweise spricht Özmen davon, dass „der Begriff der Neutralität für liberale Theorien relativ neu sei“ und erst seit den 1970er-Jahren „im Sinne einer Neutralität der Begründung und einer Neutralität des Staates“ (131) verwendet wird. Weshalb liberale Theorien das Konzept Neutralität gerade zu diesem Zeitpunkt für sich entdeckt haben, lässt sich natürlich nur vermuten. Ähnlich verhält es sich in diesem Absatz: „Die Vorstellung vom Menschen als eines von Natur aus in einen metaphysischen Sinn- und Zweckzusammenhang eingebundenes Wesen, welches nur in einer politischen Ordnung seinem Wesen gemäß leben und gut leben kann, wird als obsolet betrachtet. Der Grund hierfür liegt auch in einer neuen […] Skepsis gegenüber […] dogmatischen Ansprüchen; hier galt es für die politische Philosophie, sich mit dem normativen Individualismus neu zu verorten“ (184). Wann entstand diese neue, tiefgehende Skepsis gegenüber dogmatischen Ansprüchen und was genau waren die Gründe dafür?
Politische Theorie und politische Philosophie entwickeln sich nicht abgeschottet von der Außenwelt in den Köpfen ihrer Denkerinnen und Denker. Brüche und Wendungen in den Theorietraditionen sind als Reaktionen auf politische Entwicklungen und Umbrüche in der Welt zu verstehen. Politische Probleme tauchen auf und die Politische Theorie reagiert. Und von allen politischen Denkschulen gilt dies insbesondere für den Liberalismus: eine Theorie, die ihre wichtigsten Wendepunkte und Innovationen aus spezifischen historischen Problemen ableitet. Diese Perspektive wegzulassen, mag Özmen zwar nicht daran hindern, die Frage zu beantworten, was der Liberalismus ist, aber es führt dazu, dass ihr der Sinn für die verschiedenen Ausgangspunkte des Liberalismus verschlossen bleibt. Damit ist das tiefere Verständnis gemeint, warum sich eine Denkerin in ihrer Theorie zu einem bestimmten Zeitpunkt der Freiheit, Gleichheit und dem Individualismus verschreibt. Denn der Liberalismus ist nicht nur das Ergebnis seiner Denkerinnen und Denker, sondern auch Ausdruck eines spezifischen historischen Werdens, das in hundert Jahren wahrscheinlich wieder andere Liberalismen hervorbringen dürfte, denen der normative Kern aus Freiheit, Gleichheit und Individualismus gemeinsam bleiben wird.
Allerdings wird Özmen – bei allem Lob für die Klarheit ihrer Darstellung – auch ihrer systematischen Rekonstruktion nicht ganz gerecht. Über die Gemeinsamkeiten zwischen Judith Shklar, John Stuart Mill und Friedrich von Hayek ist von der Autorin viel gesprochen worden. Wo aber enden diese Gemeinsamkeiten? Zum Liberalismus gehören neben dem gemeinsamen normativen Kern auch die zahlreichen Widersprüche zwischen seinen Denkerinnen und Denkern. Die Leserin hätte verschiedene, auf den ersten Blick widersprüchliche Denkrichtungen kennenlernen können, die, wenn man sie auf einen Kern zurückführt, am Ende doch noch zur selben Theoriefamilie gehören. Wenn man den Liberalismus in seiner ganzen Pluralität und Widersprüchlichkeit hätte verstehen wollen, hätte man diese Unterschiede stärker herausarbeiten können. Natürlich würde dadurch von den Leserinnen und Lesern eine höhere Ambiguitätstoleranz erwartet. Ein Unterfangen, das also nicht ohne Risiko wäre. Der Gewinn bestünde jedoch darin, dass die Frage, was Liberalismus ist, auf diese Weise umfassender hätte beantwortet werden können. Für ein solches Projekt wäre die historische Rekonstruktion des Liberalismus mit ihrem Sinn für unterschiedliche Ausgangspunkte (Liberalismus versus Monarchie, Liberalismus versus Faschismus, Liberalismus versus Sozialismus) zwar nicht zwingend erforderlich gewesen, hätte es aber deutlich erleichtert.
Özmens Plädoyer an die Liberalen, ihren eigenen normativen Kern aus Individualismus, Freiheit und Gleichheit ernst zu nehmen und nicht als etwas spezifisch Kulturelles zu begreifen, ist zugleich ein Plädoyer dafür, die Möglichkeit liberaler Demokratien nicht auf die westliche Hemisphäre zu beschränken. Dem Diktum Böckenfördes möchte man an dieser Stelle widersprechen und feststellen, dass der freiheitliche Staat sehr wohl seine eigenen Voraussetzungen garantieren kann.
Endnoten
Literatur
Demokratie und Frieden
Rezension / Thomas Mirbach / 06.06.2023
César Rendueles: Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet
Chancengleichheit sei nicht nur ein Mythos, sondern trage auch dazu bei, Ungleichheiten zu rechtfertigen, schreibt der Soziologieprofessor César Rendueles. Stattdessen plädiert er für einen Egalitarismus, der Gleichheit als politisches Ziel und nicht als Ausgangspunkt begreift. Dies bedeute beispielsweise Bildung nicht als Instrument zur Herstellung von Gleichheit, sondern Gleichheit als Voraussetzung für bestmögliche Bildung zu verstehen. Eine gelungene Auseinandersetzung mit den Ohnmachtserfahrungen vieler Menschen angesichts neoliberaler Ökonomisierung, lobt Thomas Mirbach.
Rezension / Rainer Lisowski / 22.02.2023
Francis Fukuyama: Der Liberalismus und seine Feinde
Rainer Lisowski lobt das vorliegende Buch als „klar und schlüssig strukturiert“ und „im Stil gut lesbar geschrieben“, in dem Francis Fukuyama seine Thesen zum aktuellen Stand des politischen Liberalismus für ein breites Lesepublikum verdichtet. Eine echte Alternative zum Liberalismus sehe Fukuyama nicht, er arbeitet daher die Fehlentwicklungen des verbreiteten Verständnisses nach Rawls heraus. So benennt er im vorliegenden Essay aktuelle Bedrohungen durch Fehlentwicklungen, vor allem auf die USA bezogen, und diskutiert fünf Punkte, um zu einem klassischen Liberalismus zurückzukehren.
Interview / Oliver Eberl, Tanja Thomsen, David Kirchner / 19.02.2023
Oliver Eberl im Interview über „Naturzustand und Barbarei“: „Dekolonisierung der Politischen Theorie bedeutet, unser Bild vom Staat zu hinterfragen“
Im Interview spricht Oliver Eberl über sein Buch „Naturzustand und Barbarei“, das 2022 mit dem Preis „Das politikwissenschaftliche Buch“ ausgezeichnet wurde. Darin unterzieht er die Begriffe „Naturzustand“ und „Barbarei“ einer ideengeschichtlichen Untersuchung und weist ihre Verwobenheit mit dem Kolonialismus nach. So sei das Konzept des „Naturzustands“, das für die Begründung von Staatlichkeit maßgeblich sei, von dem kolonialen Begriff der „Barbarei“ kontaminiert. Vor diesem Hintergrund fordert Eberl eine „Dekolonialisierung der Politischen Theorie“.
Rezension / Tamara Ehs / 15.02.2023
Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus
Die Soziolog*innen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey entwickeln in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ anhand biographischer Interviews die Sozialfigur der libertären Autoritären. Im Gegensatz zum unterwürfigen autoritären Charakter, wie ihn die Frankfurter Schule einst entwarf, zeichneten sich libertäre Autoritäre durch einen zügellosen Freiheitsbegriff und eine Maximalvorstellung von Autonomie aus. Verantwortlich für diesen Wandel seien die Verwerfungen kapitalistischer Gesellschaften, die das Individuum enttäuscht und von gesellschaftlichen Solidaritäten entkoppelt zurückließen. Rezensentin Tamara Ehs hält die Milieubeschreibung und theoretische Herleitung der libertären Autoritären für überzeugend.
Rezension / Thomas Mirbach / 07.12.2022
Christian Lammert, Boris Vormann: Das Versprechen der Gleichheit. Legitimation und die Grenzen der Demokratie
Rezensent Thomas Mirbach hält das Buch „Das Versprechen der Gleichheit“ von Christian Lammert und Boris Vormann für eine „sehr anregende Studie“ zum Thema „Krise der Demokratie“. Sowohl der konzeptionelle Ansatz – auf spezifische Verschränkungen des gesellschaftlichen ‚Innen’ und ‚Außen’ zu achten – als auch die Destruktion des egalitären und anti-kolonialen Gründungsmythos der US-amerikanischen Demokratie seien Stärken dieser Publikation, schreibt Mirbach. Ebenso hervorzuheben sei die Integration rassismus- und diskriminierungskritischer Perspektiven in die Analyse des gesellschaftlichen ‚Wir’ als Basis von Gleichheitsversprechen.