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Rezension / 09.10.2020

Luise Sammann: Großmachtträume. Die Türkei zwischen Demokratie und Diktatur

Dietzingen, Reclam 2020

Die Journalistin Luise Sammann setzt sich mit Recep Tayyip Erdoğan, dem derzeitigen türkischen Präsidenten, auseinander. Ihr zentrales Plädoyer besteht in der Aufforderung, die politische Dynamik hinter dem AKP-Spitzenmann zu verstehen und den Blick nicht nur auf einen Politiker zu verengen. Das Problem sei die türkische Gesellschaft selbst. Eine erkennbare Mehrheit stehe hinter dem Präsidenten und seiner Partei. Erdoğans Gegenspieler würden ihm zwar undemokratisches Verhalten vorwerfen, seien aber in der Regel selbst keine lupenreinen Demokraten.

Recep Tayyip Erdoğan ist für viele im Westen eine politische Reizfigur. Spricht man über die Türkei, dann endet das Gespräch eher früh als spät beim derzeitigen türkischen Präsidenten, der das Land länger als jeder seiner Vorgänger regiert. Auch in ihrem Buch „Großmachtträume“ setzt sich die Journalistin Luise Sammann intensiv mit Erdoğan (den sie einen „Lieblingsfeind“ [8] nennt) auseinander und versucht dabei, mit dem einen oder anderen Mythos aufzuräumen. Dass er etwa eine religiöse Diktatur einführen wolle, glaubt die Autorin nicht. Ihr Kernargument: Er ist seit 17 Jahren an der Macht und er steht im Zenit seiner Stärke – wieso hat er dann nicht schon viel mehr Pflöcke eingeschlagen? Manche Dinge müsse man in die richtige Perspektive rücken. Der Umgang mit Alkohol sei beim bekennenden Abstinenzler Erdoğan zum Beispiel nach wie vor liberaler geregelt als etwa in den USA. Nein, Sammann sieht in den Mitgliedern der AKP „keine echten Islamisten“ (45).

Das zentrale Plädoyer von Sammann besteht aber gerade in der Aufforderung, die politische Dynamik hinter dem AKP-Spitzenmann zu verstehen und den Blick nicht nur auf einen Politiker zu verengen. Das Problem sei die türkische Gesellschaft selbst. Die zentralen Thesen des Buches lassen sich schnell darlegen: Wer Erdoğan und seiner Partei AKP reine Wahlmanipulation vorwerfe, greife schlichtweg zu kurz. Eine erkennbare Mehrheit stehe klar hinter dem Präsidenten und seiner Partei. Erdoğans Gegenspieler würden ihm zwar undemokratisches Verhalten vorwerfen, seien aber in der Regel selbst keine lupenreinen Demokraten. Die eine starke Führung einfordernde Gesellschaft sorge sich um eine weitere Spaltung und Schwächung des Landes, vor allem durch das Ausland. Das Trauma des Zerfalls des Osmanischen Reiches wirke unverarbeitet fort. Dennoch müssten die EU und vor allem Deutschland eine andere Außenpolitik versuchen und dabei zwischen dem Land und seinem Präsidenten unterscheiden. Wie so ein Kunststück gelingen kann, bleibt aber das Geheimnis der Autorin. Empirische Belege gibt es nicht, denn es handelt sich um ein journalistisches Buch, mit dem die Autorin ihre Auslandsstation verarbeitet hat: Sammann hat gut zehn Jahre mit ihrer Familie in der Türkei gelebt und für den Deutschlandfunk aus dem Land berichtet.

Springen wir noch einmal zurück an den Anfang der Publikation. Wieso man sich aus deutscher Sicht mit dem Land am Bosporus befassen sollte, macht die Autorin eingangs deutlich: Die Türkei sei mit 80 Millionen Menschen so bevölkerungsreich wie wir selbst; gut 10 Millionen Türken lebten zudem verteilt in ganz Europa (davon 3 Millionen in Deutschland); die Lage zwischen Asien und Europa mache das Land geostrategisch relevant; ebenso die Rolle als Energie-Drehscheibe für die EU; zudem habe es die zweigrößte Armee der NATO – kurzum: man könne Ankara schlechterdings nicht ignorieren (14 ff.).

Weniger bekannt seien vielen die strukturellen Probleme des Landes. Seine Gesellschaft stellt sie immer wieder als tief gespalten zwischen „schwarzen“ und „weißen“ Türken dar. Während die einen Anhänger der Religion und tief patriarchalisch geprägt seien, oftmals dem Osmanischen Reich nachtrauend, seien die anderen dem Erbe Atatürks zutiefst verbunden und bis ins Mark laizistisch. Und: Letztere waren seit Gründung der Republik die gesellschaftliche Elite, hielten alle Macht in Militär, Justiz, Politik und Wirtschaft in den Händen und blickten auf den „rückständigen“ Teil des Landes herab. Wie auch andere Autoren diagnostiziert Sammann an dieser Stelle einen Teil des aufgestauten Frustes und der eifrigen Mission von Erdoğan und seinen Anhängern. Sie sieht den Wunsch, nach vielen Jahren der Marginalisierung selbst den Ton angeben zu können. Wie ein Schutzschild gegenüber der Rückkehr der „weißen Türken“ an die Macht geben Erdoğan und die AKP selbst armen und mittellosen Menschen das Gefühl, am Aufstieg der Türkei wirtschaftlich und politisch teilzuhaben (72) – nicht zuletzt, da der Charismatiker „Bruder Tayyip“ eine einfache und bildhafte Sprache perfekt zu sprechen verstehe. Auch wenn sich die AKP auf die „schwarze Türkei“ konzentriere, sei sie trotzdem die einzige wahre Volkspartei des Landes, die nahezu alle Bevölkerungsschichten erreiche (84).

Wer glaubt, Erdoğan habe sich seine Wahlsiege erschlichen, der irre gewaltig (38), auch wenn sich die AKP gerade über die Medien Vorteile gegenüber der politischen Konkurrenz verschafft habe. Wenn Sammann die Medien in der Türkei als gleichgeschaltet (61) bezeichnet, folgt sie damit einem verbreiteten Urteil von Medienschaffenden.

Gerade die deutsche Öffentlichkeit neigt oftmals dazu, sich mit Gegnern eines autoritären Staatschefs zu solidarisieren und diese automatisch unterstützen zu wollen. Diesbezüglich findet Sammann deutliche Töne. Mit „Von wegen Vorzeigedemokraten“ ist das Kapitel (87 ff.) überschrieben, in dem sie herauskristallisiert, dass Erdoğans Gegner eigentlich dasselbe wollen, wie seine Anhänger: eine starke Spitzenfigur (gerne lider genannt, 23), nur eben jemanden aus ihrem eigenen Club und nicht den aktuellen Amtsinhaber. Erdoğan, Abdullah Öcalan, Devlet Bahçeli, Selahattin Demitraş – in allen Lagern herrscht nach Sicht von Sammann der Wunsch nach starken Führungsfiguren. Auffallend oft nutzt sie dabei die Metapher der Familie mit dem „strengen Vater“ als Leitidee einer in weiten Teilen noch patriarchischer geprägten Gesellschaft als der unseren. „Denn ein Großteil der türkischen Gesellschaft sehnt sich dieser Tage eben nicht vor allem nach Demokratie, Pressefreiheit etc., sondern nach noch mehr Stärke, Macht und Anerkennung“ (137).

Neben der Spaltung der Gesellschaft und einem Generalverdacht gegenüber dem Ausland ist aus Sicht der Autorin auch die Erinnerung an die schwierigen 1990er-Jahre noch wach. Auch wenn sie selbst zu Beginn jenes Jahrzehnts noch im (Vor-)schulalter war, erinnert die Autorin an die heikle Lage der Republik in diesen für sie turbulenten Jahren: Die überkommenen Parteien hatten sich durch Korruptions- und Verschwendungsvorwürfe – fast 200 Milliarden Dollar sollen verschwendet worden sein (34) – in den Augen vieler Menschen heillos diskreditiert und der schwelende Kurdenkonflikt brachte eine ständige Angst vor Terroranschlägen mit sich.

Wer die Geschichte der Türkei ein wenig kennt und die tiefe Zäsur und die bis heute nachwirkende Verunsicherung durch den Kollaps des Osmanischen Reiches versteht, kann viele Befunde Sammanns besser nachvollziehen. Dazu zählen etwa die Angst vieler Menschen in der Türkei vor einem Zerfall des Staates, die grundsätzliche Skepsis gegenüber „zu viel“ Pluralismus und der Wunsch nach starker Führung in allen politischen Lagern, oder die allgegenwärtige Sorge vor äußeren Bedrohungen, gegen die sich das Land wappnen müsse und die vermutlich eine Folge des Untergangs des Osmanischen Reiches ist – oder der Tatsache geschuldet ist, dass 90 Prozent der Bevölkerung noch nie im Ausland waren (55).

Zwei Schwächen des Buches sollen nicht unerwähnt bleiben: Die außenpolitische Analyse fällt deutlich schwächer aus als die innenpolitische. Außerdem – wie sollte es anders sein – hat auch Sammann keine wirklich brauchbaren Lösungsvorschläge, wie sich Europa und seine Mitgliedstaaten der Republik Türkei gegenüber verhalten sollten. Zum Teil sind ihre Gedanken gar widersprüchlich, wenn etwa einerseits geraten wird, das Land mit Respekt zu behandeln, dann aber andererseits gefordert wird, seinem Präsidenten quasi als Strafe den roten Teppich unter den Füßen zu versagen, um eine Missbilligung seiner Politik zu verdeutlichen (vgl. 149, 151). In Europa ist zunehmend eine Moralisierung im außenpolitischen Diskurs zu beobachten. In Teilen wird diese von den Medien befördert. Auch Sammann ist davon nicht völlig frei. Vordergründig wird eine neue Realpolitik gefordert, dann wiederum wird vor einem Kernelement realpolitischer Denkweise zurückgeschaudert: die Machtpotenziale der anderen Seite nüchtern anzuerkennen. Europa helfen letztlich keine Ausflüchte ins Moralisieren: Ein kräftiger Hebel der Türkei gegenüber Europa ist und bleibt das Thema Migration. Sammann bietet diesbezüglich keine realistische Einschätzung der Lage.

Was nützen solche journalistisch geschriebenen, erkennbar nicht auf das Fachpublikum ausgerichteten Bücher für die Politikwissenschaft? Im günstigsten Fall spüren sie neue Themen auf, wirken wie ein Seismograph und illustrieren besser als manche Statistik, wie es sich in einem Land tatsächlich verhält. Vermittelt wird ein Gefühl für die Stimmung in einem Land, auch wenn die gemachten Aussagen keine zwingende Beweiskraft haben. In der Regel wird dies aber auch nicht beansprucht.

 

CC-BY-NC-SA
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