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Rezension / 14.07.2020

Soner Cagaptay: Erdogan’s Empire. Turkey and the Politics of the Middle East

London u. a., Bloomsbury 2019

Die Außenpolitik der Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan und seines ehemaligen Außenministers Ahmet Davutoğlu steht im Fokus der Analyse. Deren Ziel sei es, die Türkei wieder „groß“ werden zu lassen – diese Leitidee werde auch als Neoosmanismus oder multidimensionale Außenpolitik bezeichnet, so Rezensent Rainer Lisowski. Sie stehe für eine Lösung der Fixierung auf NATO und EU. Dennoch leide die türkische Außenpolitik auch weiterhin unter der diffizilen Lage des Landes an der Nahtstelle zwischen politisch und kulturell sehr unterschiedlich geprägten Regionen, sodass am Ende eine Außenpolitik zwischen allen Stühlen bleibe.

Was haben außenpolitische Schwergewichte wie Richard Perle, Condoleezza Rice, Paul Wolfowitz und Henry Kissinger gemeinsam? Sie alle sitzen im Board of Advisors des Washington Institute for Near East Policy (WINEP). Der illustre Kreis deutet an: Wir haben es hierbei mit einem renommierten und mit der US-Außenpolitik verwurzelten Forschungsinstitut zu tun. Soner Cagaptay ist der Leiter der WINEP-Forschungsabteilung „Türkei“ und hat mit „Erdoğan’s Empire“ ein neues Werk zur Außenpolitik des am längsten regierenden türkischen Staatsmannes jüngerer Zeit vorgelegt.

Cagaptay analysiert zunächst die politische Grundausrichtung der türkischen Außenpolitik unter Erdoğan und seinem ehemaligen Außenminister Ahmet Davutoğlu, den er gelegentlich als den eigentlichen Architekten türkischer Außenpolitik der ersten Dekade dieses Jahrhunderts darstellt. Alles beginnt mit dem Niedergang des osmanischen Reiches und der Neugründung der Türkei unter Mustafa Kemal Atatürk (Kapitel 1), die eine stärkere Ausrichtung auf den Westen mit sich brachte – welche allerdings schon unter den letzten ottomanischen Herrschern begann und von Atatürk aus Sicht Cagaptays lediglich forciert wurde. Allerdings musste die Republik Türkei schnell erkennen, trotz ihrer Anlehnung an den Westen, nicht zu alter Größe wieder aufsteigen zu können. Sie blieb eine Randfigur der internationalen Politik. „Restoring Turk’s Dignity – as Muslims“ – schon die Überschrift des zweiten Kapitels deutet an, was unter Erdoğan geschehen sollte: Die Türkei sollte wieder verstärkt an die Bande der imperialen Politik ihres Staatsvorgängers anschließen und diese auf die beiden Pfeiler Religion und Türkentum stellen. Dies vorweg: Beides gleichzeitig zu verfolgen gelang nur bedingt. In der wichtigen Zielregion Zentralasien etwa waren turkstämmige Länder wie Usbekistan durch mehr als vier Jahrzehnte kommunistischer Herrschaft einfach zu säkular geworden. Beide Pfeiler schlossen sich demnach gegenseitig aus und die Saat für ein Scheitern dieses Politikansatzes war von Beginn an gelegt.

In Cagaptays Analyse mischen sich historische Studien, soziologische Betrachtungen – etwa zu Erdoğans Politikstil – und klassische Policy-Analysen. Besonders lesenswert sind die immer wieder eingestreuten kleinen Skizzen, etwa der sozialräumlichen Strukturen Istanbuls, die den Menschen Recep Tayyip Erdoğan geformt haben (28 ff.). Gerade durch diese biografischen Details kann man besser nachempfinden, wie sich in einem jungen und benachteiligten Mann der Zorn auf eine abgehobene liberale Istanbuler Elite formte und sich zugleich der Wille bildete, diesen mit dem eigenen Erfolg in Bildung und Beruf etwas entgegen zu setzen. Und seine kurze Haft Ende der 1990er-Jahre schuf langjähriges politisches Kapital, in Form von religiöser Glaubwürdigkeit.

Durch „Soft Power“ (Kapitel 4) und das Konzept „Strategischer Tiefe“ (Kapitel 3), das den eigentlichen Kern dieser neuen Außenpolitik umreißt, sollte die Türkei unter Erdoğan wieder „groß“ werden. Erdoğans und Davutoğlus ursprüngliche Leitidee wurde vielfach auch als Neoosmanismus oder multidimensionale Außenpolitik bezeichnet. In jedem Fall steht sie in ihrem Kern für eine Lösung der einseitigen Fixierung auf Europa und den „strategischen Westen“ (NATO, EU).

Doch der Versuch, sich vom Westen allein zu lösen änderte leider nichts an den historischen und politischen Zwängen, in denen die Türkei bis heute steckt. Aus Cagaptays Buch werden diese Beschränkungen türkischer Außenpolitik gut sichtbar. Neben den wirtschaftlichen Restriktionen einer sich noch entwickelnden Ökonomie ist es vor allem ihre diffizile Lage an der Nahtstelle zwischen den politisch und kulturell sehr unterschiedlich geprägten Regionen Europa, Asien und der arabischen Halbinsel, wodurch sich ihr außenpolitischer Faden schnell verheddern kann. Vier nahe und ferne Nachbarn aus diesen Regionen werden daher in dem Buch einer näheren Analyse unterzogen.

Syrien (Kapitel 7) war schon in den Tagen der Hohen Pforte ein permanenter Unruheherd und bleibt es bis heute. Immer bestand für die Türkei die Gefahr militärischer Abenteuer, denn durch jeweilige Minderheiten im eigenen Land sind die beiden Staaten miteinander verflochten. Russland (Kapitel 8) wird als Angstgegner der Türkei porträtiert. Stets droht das ungleich stärkere Russland von Norden her Druck auf die für Moskau geostrategisch wichtige Schwarzmeerregion auszuüben. Tim Marshall schreibt in seinem lesenswerten Büchlein „Die Macht der Geographie“, dass das Fehlen eines eisfreien Hafens mit direktem Zugang zu den Weltmeeren eine von Russlands zwei Achillesfersen sei. Die Türkei sehnt sich danach, mit dem Riesenreich auf Augenhöhe verhandeln zu können. Bis in unsere Tage bleibt dieser Wunsch unerfüllt und Cagaptays Buch zeichnet die kleinen und großen Demütigungen nach, die Erdoğan im Umgang mit Putin ertragen musste.

Der Iran – das frühere Persien – wird als der zweite Hauptrivale porträtiert, dem Ankara allerdings mit mehr Selbstbewusstsein begegnet. Der Umgang mit den arabischen Nachbarländern schließlich (Kapitel 10) ist einer der Trümmerhaufen, die des Präsidenten Politik schuf. Am Ende stand nur noch das kleine Katar auf Seiten der Türkei.

Der Inhalt des Buches baut sich geschickt auf: Nach den Ursachen (Ende des Osmanischen Reiches; Westbindung unter Atatürk) wird zunächst die ursprünglich „neue“ Politik Erdoğans (und Davutoğlus) skizziert, um dann die Hauptakteure türkischer Außenpolitik – Europa, die USA, Russland, Iran, Syrien und die arabischen Länder – in ihrem Beziehungsgeflecht zu Ankara zu durchleuchten. Ankerpunkt sind dabei immer wieder historische Ereignisse wie der „Arabische Frühling“, die aus den verschiedenen Länderperspektiven betrachtet werden. Jene unvorhergesehenen Ereignisse sind es auch, die zu einem Misserfolg des Konzepts der „Strategischen Tiefe“ geführt haben. Als letztendlichen Grund für dessen Scheitern identifiziert Cagaptay den zu starken Glauben und die zu feste Bindung an die unterschiedlichen Gruppen der panarabischen Muslimbruderschaft im Nahen Osten. Mit dieser hätten Erdoğan und Davutoğlu fortwährend zu viel nur auf eine Karte gesetzt und dauerhaft zu viele Feindschaften provoziert (183, 188) – gerade an den arabischen Herrscherhöfen und im Westen.

Es folgte eine „Course Correction“ (Kapitel 12): Erdoğan dämmerte irgendwann, dass die von Davutoğlu initiierte neue Politik in ein Desaster mündete und er ersetzte neben dem Außenminister auch seine außenpolitischen Leitlinien. Neben einem kurzen Seitenblick auf das Verhältnis von Erdoğan zu Trump (Kapitel 13) werden abschließend die beiden neuen Kerne Erdoğans heutiger Außenpolitik beschrieben: Ein Fokus auf Ostafrika (Kapitel 14) und auf den „Bayram-Belt“ (Kapitel 15). Bei der großen Hungersnot am Horn von Afrika zu Beginn der zweiten Dekade dieses Jahrhunderts flog Erdoğan persönlich in die Krisenregion und versprach Hilfe – anders als die „gesichtslosen“ und technokratischen Hilfsorganisationen aus Europa und den USA. Sein Einsatz zahlte sich aus: Bei der Bewerbung der Türkei um einen nichtständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat erhielt das Land enorm viele Stimmen aus den muslimisch geprägten Ländern Afrikas. Und im „Bayram-Gürtel“ (Bayram ist das türkische Wort für Fest- und Feiertage) in Osteuropa sowie dem Balkan genießt Erdoğan weiterhin hohes Ansehen – sehr zum Ärger mancher EU-Politiker. Zu diesen bleibt nach Cagaptays Analyse das Verhältnis auf Dauer eher kühl. Denn ein weiteres, tiefgreifendes Erlebnis hat den Politiker Erdoğan an dieser Stelle geprägt: Die aus seiner Sicht allenfalls lauwarme Unterstützung des Westens während des Putschversuches gegen ihn, bei dem er über Stunden in Lebensgefahr schwebte (266).

Am Ende bleibt eine Außenpolitik zwischen allen Stühlen, die nach Cagaptay Ähnlichkeiten zu de Gaulles „stand-alone“-Politik aufweist (270), die sich nicht vollends vom Kemalismus abwendet, aber die Religion stets betont und somit am ehesten als „Grüner Kemalismus“ (295) bezeichnet werden könnte.

Zur Kritik an dem Buch: Manche Kapitel fallen etwas kleinteilig aus. Der Syrienkonflikt etwa wird sehr detailliert chronologisch nacherzählt (111 ff.) Ansonsten empfiehlt sich die Lektüre des Buches, um das Wirken der Türkei in der Welt und den Politiker Erdoğan näher kennenzulernen.

 

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