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Rezension / 11.01.2023

Ibram X. Kendi: How to be an Antiracist

New York, Penguin/Random House 2019

Handeln sei stets entweder rassistisch oder antirassistisch, so Ibram X. Kendi: Menschen könnten sich aber jederzeit dafür entscheiden, antirassistisch zu agieren. Dabei fasse Kendi Rassismus allerdings begrifflich sehr weit, spreche im Buch beispielsweise von biologischem, kulturellem, ethnischem, klassenorientiertem oder genderorientiertem Rassismus, bemerkt unser Rezensent Rainer Lisowski kritisch. Als US-amerikanischer Rassismusforscher problematisiert Kendi in diesem Zusammenhang auch Fragen zu sozialer Absicherung und stellt Individualismus und Meritokratie zur Debatte.

Ob Ferda Ataman, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, das Buch „How to be an Antiracist“ des Bostoner Rassismusforschers Ibram X. Kendi kennt, ist nicht bekannt. Angesichts ihrer Vorschläge, tatsächliche oder vermeintliche Lücken im Antidiskriminierungsgesetz ändern zu wollen, dürften ihr zumindest einige Gedanken des Buches von Kendi gefallen. Denn der Autor stellt in seinem Werk auch ein Kompendium aller möglichen Bereiche auf, in denen Menschen diskriminiert werden könnten, wofür er allerdings den Begriff Rassismus recht weit dehnt. Kritisch gewendet könnte man schreiben: Wofür er concept creep betreibt.

Die etwa 240 Seiten sind in 18 Kapitel untergliedert. Die Gliederung folgt im Wesentlichen dem Gedanken, Bereiche aufzuzeigen, in denen Menschen diskriminiert werden. Entsprechend stellt der Autor vor, was seiner Ansicht nach einen biologischen, kulturellen, ethnischen, klassenorientierten, genderorientierten etc. Rassismus ausmacht.

Blicken wir auf eine Reihe ausgewählter Ideen in dem Buch, das in den USA ein großer Bestseller war. Das Kapitel „Definitionen“, mit dem die inhaltliche Diskussion Fahrt aufnimmt, ist zunächst einmal gut in einer zentralen Idee zusammenzufassen: Rassismus bedeute, rassistische Politikansätze (policies) nicht zu kritisieren und beenden zu wollen (13 ff.). Rassismus ist für Kendi keine auf der individuellen Ebene zu verortende Frage von Hass oder Ignoranz, sondern eine Frage von Selbstinteresse – einem Selbstinteresse bestimmter Menschengruppen, die durch bestimmte Politikansätze bevorzugt werden und mit ihrem Festhalten an solcher Politik zulasten anderer letztlich rassistisch handeln (42, 230). Kendi ist damit klar erkennbar ein Verfechter der Idee vom systemischen Rassismus. Dem Gedanken also, dass Rassismus keine Frage des Einzelnen, seines Charakters oder seiner Einstellungen sei, sondern etwas, das in der DNA einer Gesellschaft wurzele.

Leider wird Kendi dann schon an dieser frühen Stelle in seinem Buch tendenziell manichäisch. So gibt es aus seiner Sicht in Fragen von Rassismus – auch bedingt durch diese systemische Grundidee – keine Neutralität. Seiner Meinung nach kann ein Mensch nicht nicht-rassistisch sein. Entweder, so argumentiert Kendi, wäre man rassistisch oder man wäre antirassistisch. Eine andere Einteilung ist bei ihm nicht möglich (9, 20). Zudem glaubt auch er, wie andere namhafte Autorinnen und Autoren des aktuellen Rassismusdiskurses, dass alles und somit sämtliche Bereiche der Gesellschaft von der Rassismusfrage beeinflusst und durchdrungen würden (18).

Anders als beispielsweise Robin DiAngelo sieht Kendi aber sehr wohl, dass auch Nichtweiße rassistisch sein und handeln können. Dass Schwarze in den USA beispielsweise – wie DiAngelo meint – niemals rassistisch sein könnten, weil sie in einer Position der Schwäche gefangen wären, hält Kendi für wenig plausibel. Au contraire! „Black people can be racist towards white people“ (128). Angesichts schwarzer Milliardärinnen und Milliardäre, schwarzer Millionärinnen und Millionären, schwarzer Mittelschicht und schwarzer Personen in Machtpositionen hält er DiAngelos Argument für nicht tragbar. Auch wenn selbstverständlich schwarze Menschen in den USA bei weitem mehr Nachteile im Leben ertragen müssten als weiße (136). Gerade mit Blick auf die USA liegt Kendi sicher nicht falsch, wenn er die soziale Frage als den Kern allen Rassismus betrachtet.

Daraus zieht er einen – zumindest aus europäischer Perspektive – richtigen und zwei voreilige Schlüsse. Die meisten Europäerinnen und Europäer würden Kendi sicher zustimmen, dass die Menschen in den USA mehr sozialstaatliche Absicherung brauchen. Das gilt gerade für Schwarze. Skeptisch sollte man allerdings bei dem weitergehenden Gedanken Kendis werden, der Individualismus und Meritokratie als Wurzeln allen Übels betrachtet. Bezüge zu sozialistischen Gedanken werden in seinem Buch überdeutlich: Alles, was nicht radikal auf Gleichheit setze, wäre rassistisch (31). Meritokratie und Individualismus sind für ihn rassistisch. Und schließlich: „Capitalism is essentially racist; racism is essentially capitalist.” (163) Hier schreibt einer, der für den Umsturz „des Systems“ schreibt.

An anderer Stelle geht er dann aber leider nicht so weit: Wenngleich Kendi Rasse als ein gesellschaftliches Konstrukt ansieht (37), folgt er nicht dem Plädoyer des Philosophen Kwame Appiah, der dafür plädiert, die Idee von menschlichen Rassen vollständig aufzugeben. Nicht zuletzt deshalb muss man Kendi eher den linksidentitären Autorinnen- und Autorenspektrum zuordnen, während Appiah in vielen Fragen an einem klassischen, philosophischen Liberalismus festhält.

In vielem kann man Kendi zustimmen. Diejenigen etwa, die Hierarchien zwischen Rassen konstruieren und selbige dann biologisch zu begründen versuchen, wird man sicher als Rassistinnen und Rassisten bezeichnen dürfen. Oft sollte man Kendi aber auch deutlich widersprechen. Dass man ihn den identitären Schriftstellerinnen und Schriftstellern zuordnen muss, erkennt man an kaum einer Stelle besser als im Kapitel „Space“ (166-180). Hier findet im Grunde genommen eine erstaunliche Volte gegen die klassische Bürgerrechtsbewegung statt. Während diese noch gegen die Separation weißer und schwarzer Menschen gekämpft hat, entwickelt Kendi die Idee, dass Menschen sich gegeneinander absondern können sollten: „Separation is not always segregation.“ (175) Im Grunde stellt er sich eine Art balkanisiertes Zusammenleben vor: Zwar sollte jeder Zugang zu „weißen“ Stadtvierteln, „schwarzen“ Quartieren, oder „Latinobereichen“ usw. erhalten (180). Entscheidend bleibt aber der Aspekt, voneinander getrennt in einer gemeinsamen Stadt zu leben, dem er das Wort redet.

In dieser Hinsicht ist Kendis Buch nicht frei von inneren Widersprüchen. Auch bei der kulturellen Frage wird es hakelig. Die Aussage, es sei rassistisch, die Kultur anderer Kulturen als minderwertig zu erachten oder für weniger zivilisiert zu halten (24), mag erstmal sympathisch klingen. Was aber, wenn die Beschneidung von Mädchen oder auch das Quälen von Tieren fester Bestandteil dieser Kultur sind? Auch bei kulturellen Werken wird es kompliziert, denn die Gefahr hinter Kendis Rigorismus schaut so aus: Wer in seinen Augen nicht ausreichend kulturrelativistisch auftritt, wird sich schnell mit dem Vorwurf des Rassismus überzogen sehen. Wer sich etwa auf den Standpunkt stellte, Bachs H-Moll-Messe, die Gemälde von Zhang Zeduan oder die Benin-Bronzen stellten in höherem Maße ein Menschheitserbe dar als andere kulturelle Werke, etwa mündliche Überlieferungen oder regional begrenzte Kulturgüter (wie bayrisches Schuhplattlern), der wäre für ihn eine Rassistin oder ein Rassist. Ist es das, was wir für sinnvoll erachten?

Ursache seiner Einstellungen im Konkreten ist vermutlich das epistemologische Fundament von Kendis Denken. Auch Kendi knüpft gedanklich beim Dekonstruktivismus an. So glaube er etwa, dass es keine Objektivität gäbe, sondern nur kollektive Subjektivität (167). Dies nimmt, wie oft im Dekonstruktivismus, bizarre Formen an. Auf die Frage, was man tun solle, wenn es keine Objektivität gibt, übernimmt er einen Gedanken seiner akademischen Lehrmeisterin Ama Mazama, die ihn dazu aufgefordert habe, statt der Objektivität einfach nur „die Wahrheit“ zu sagen. Was nun allerdings Objektivität anderes sein soll als das Streben nach Wahrheit, bleibt ein Rätsel.

Kendis Buch ist durchaus interessant zu lesen, vor allem weil er immer wieder biografische Elemente einfügt. Mit „My Racist Introduction“, in der Kendi seinen eigenen rassistischen Gedanken nachspürt (3-11), beginnt das Buch sogar auf eine sehr einnehmende Weise. Manchmal ist aber genau diese Vermischung von Wissenschaft und Privatem für europäische Lesegewohnheiten auch etwas seltsam; spurweise wirkt es leicht unseriös. Allerdings wird genau durch diese ständigen biografischen Einsprengsel das erzeugt, was sich insbesondere ein jüngeres Publikum unter dem Stichwort „Authentizität“ zu wünschen scheint.

Der Publizist Thomas Chatterton Williams beschrieb Kendi in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Mai 2021 einmal als einen der intolerantesten Personen, die er selbst kennen würde. Dies mag stimmen und manches in dem Buch nährt den Verdacht. Aus dem Text des Buches selbst ließe sich eine zu große Intoleranz aber nicht unbedingt ableiten – wohl aber die teils widersprüchlichen Ideen eines linksidentitären Schriftstellers, der im Grunde für einen Systemumsturz schreibt. Ob er viele Menschen für diese Idee gewinnen kann, darf bezweifelt werden. Und vielleicht tut er damit seinem so wichtigen Ziel, sich aktiv gegen Rassismus zu engagieren, nicht unbedingt einen Gefallen.

CC-BY-NC-SA
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