„Einwanderung ist Normalität“. Aydan Özoğuz über Leitbilder und gelebte Integration
In diesem Interview beschreibt Aydan Özoğuz, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, die Einwanderung nach Deutschland als einen Weg in eine Zukunft, in der der Wohlstand des Landes erhalten bleibt. Für notwendig hält sie unter anderem ein Einwanderungsgesetz mit stringenten Regelungen, die Einführung des kommunalen Wahlrechts für dauerhaft in Deutschland lebende Ausländer aus Nicht-EU-Staaten und eine echte Teilhabekultur.
Interview mit Aydan Özoğuz
Die Fragen stellte Sabine Steppat
In diesem Interview beschreibt Aydan Özoğuz, Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, die Einwanderung nach Deutschland als einen Weg in eine Zukunft, in der der Wohlstand des Landes erhalten bleibt. Das Amt des Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration existiert seit 1978. Während es anfänglich lediglich zwei Mitarbeiter zählte, umfasst es heute einen beinahe 60-köpfigen Arbeitsstab. Bis 2005 war es bei unterschiedlichen Bundesministerien angesiedelt, 2005 ordnete Angela Merkel es dem Bundeskanzleramt zu. Seitdem ist die Beauftragte als Staatsministerin für Integration tätig – im Range einer Parlamentarischen Staatssekretärin. Umgangssprachlich wird das Amt auch als „Ausländerbeauftragte“ oder „Integrationsbeauftragte“ der Bundesregierung bezeichnet.
Es ist die Aufgabe der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, sowohl die Integration von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte zu fördern als auch geeignete Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass alle Menschen in Deutschland − gleich welcher Herkunft − gut zusammen leben können. Das wichtigste Ziel ist, Rahmenbedingungen für mehr Teilhabe und gleiche Chancen für alle Menschen, mit und ohne Einwanderungsgeschichten, in unserer Gesellschaft zu schaffen. Mindestens alle zwei Jahre legt die Beauftragte dem Deutschen Bundestag einen Bericht (Bericht der Beauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration) vor.
Bisher haben immer Frauen dieses Amt bekleidet, die Vorgängerinnen von Aydan Özoğuz waren Liselotte Funcke, Almuth Berger, Cornelia Schmalz-Jacobsen, Marieluise Beck und Maria Böhmer.
Sabine Steppat: Ist Deutschland schon lange ein Einwanderungsland? Auf welchen Grundpfeilern finden die Menschen als Gesellschaft zusammen?
Aydan Özoğuz: Klar, Deutschland war schon immer ein Einwanderungsland, auch wenn wir uns dazu vielleicht erst seit fünfzehn Jahren richtig bekennen. Nach 1949 kamen Millionen Menschen in unser Land und viele fanden hier ihre Heimat: Gastarbeiter aus der Türkei, Italien oder Griechenland, Vertragsarbeiter aus Vietnam oder Polen, Aussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion oder EU-Bürgerinnen und -Bürger im Rahmen der Freizügigkeit. In einer vielfältigen Einwanderungsgesellschaft muss für alle die gleiche Grundlage gelten – nämlich unser Grundgesetz mit seiner freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Auf dieser Grundlage aufbauend müssen alle, egal welcher Herkunft, die gleichen Chancen auf Teilhabe haben, zum Beispiel am Arbeitsmarkt, bei der Bewerbung zum Ausbildungsplatz oder im Gesundheitswesen.
Sabine Steppat: Wie lässt sich der interkulturelle Dialog verstärken?
Aydan Özoğuz: Sicherlich am besten durch mehr Begegnungen und direkten Kontakt. Deshalb lege ich genau darauf großen Wert bei meinen Projekten als Integrationsbeauftragte. Zum Beispiel fördere ich gezielt das Ehrenamt in der Flüchtlingsunterstützung, denn hier kommen Menschen unterschiedlicher Kulturen schnell in Kontakt und das schafft mehr Miteinander und stärkt das gegenseitige Verständnis.
Sabine Steppat: Was gewinnt die Gesellschaft durch Zuwanderung?
Aydan Özoğuz: Es gibt einen demografischen und wirtschaftlichen Mehrwert durch Zuwanderung. Das beweist die deutsche Migrationsgeschichte der letzten Jahrzehnte. Bis 2050 werden acht Millionen Menschen weniger arbeiten. In Zukunft wird es mehr alte als junge Menschen in Deutschland geben. Zuwanderung ist ein Weg, diese Entwicklung abzudämpfen und unseren Wohlstand zu sichern. Gleichzeitig ist es wichtig, dass wir das Potenzial unserer Bevölkerung komplett nutzen: Jeder Jugendliche soll eine Ausbildung haben und eine Arbeit finden; jede Frau, jeder Mann soll aus der Eltern- oder Teilzeit in Vollzeit zurückkehren können.
Sabine Steppat: Brauchen wir ein Einwanderungsgesetz, um diese Entwicklung zu steuern?
Aydan Özoğuz: Ja, wir brauchen ein Einwanderungsgesetz mit übersichtlichen und stringenten Regeln. Aktuell haben wir über 50 abgestufte Aufenthaltstitel, da blickt keiner durch – weder Fachkräfte aus dem Ausland, die wir dringend benötigen, noch unsere Bevölkerung, die wissen muss, wer aus welchem Grund kommen darf. Der demografische Wandel und der Fachkräftemangel verstärken den Bedarf nach einem echten Einwanderungsgesetz aus einem Guss. Jeder soll wissen, unter welchen Bedingungen man nach Deutschland einwandern kann. Dafür müssen wir unser Aufenthaltsgesetz dringend überarbeiten.
Sabine Steppat: Seit Langem wird die Forderung erhoben, dass die deutsche Gesellschaft für das Zusammenleben ein Leitbild benötigt. Stimmen Sie dem zu, braucht die Bundesrepublik ein Leitbild für die Einwanderungsgesellschaft? Wie könnte es aussehen?
Aydan Özoğuz: Ja, wir brauchen ein Leitbild, auf das sich möglichst viele verständigen können. Weil über die Fragen von Migration und Integration immer wieder heftig gestritten wird, ist eine konstruktive Diskussion in unserer Gesellschaft darüber umso wichtiger. Ich habe eine Expertenkommission der Friedrich-Ebert-Stiftung geleitet, die im Februar 2017 einen ersten Vorschlag für ein inklusives Leitbild erarbeitet hat. Zentrale Punkte des Leitbildes: Einwanderung ist Normalität, wir brauchen ein positives Bekenntnis zu Vielfalt, Teilhabe in allen gesellschaftlichen Bereichen ist entscheidend und es braucht keine Sonderstrukturen für Eingewanderte.
Sabine Steppat: Welche integrationspolitischen Forderungen ergeben sich daraus?
Aydan Özoğuz: Aus dem Leitbild haben wir eine umfassende politische Agenda abgeleitet. Unsere wichtigsten Forderungen: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz mit stringenten Regelungen, ein Bundesministerium für Migration und Integration zur Bündelung der Querschnittsaufgabe Integration, erleichterte Bedingungen bei der Einbürgerung auch unter Hinnahme von Mehrstaatigkeit, die Erweiterung der Integrationskurse, die interkulturelle Öffnung der Verwaltung und die Stärkung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
Sabine Steppat: Halten Sie auch das kommunale Wahlrecht für dauerhaft in Deutschland lebende Ausländerinnen und Ausländer aus Nicht-EU-Staaten für sinnvoll?
Aydan Özoğuz: Ja, das wäre ein Schritt für mehr Partizipation von Millionen Menschen im Land. Es geht nicht darum, dass „Flüchtlinge den Bundestag wählen“ sollen, wie mir Populisten vom rechten Rand gerne unterstellen. Sondern es geht darum, dass Menschen, die seit Jahren hier rechtmäßig leben und Steuern zahlen, vor Ort über Fragen mitbestimmen dürfen, die ihr unmittelbares Lebensumfeld betreffen.
Sabine Steppat: Aufgrund des Abstimmungsverhaltens der Deutschtürken in der Bundesrepublik beim türkischen Verfassungsreferendum haben einige CDU-Politiker Konsequenzen hinsichtlich der doppelten Staatsbürgerschaft gefordert. Bundesinnenminister Thomas de Maiziere plädiert zum Beispiel dafür, dass diese auch zukünftig die Ausnahme bleiben und nicht zum Regelfall werden dürfe. Wie denken Sie darüber? Wie sinnvoll ist der Doppelpass?
Aydan Özoğuz: Ich bin weiterhin für die Hinnahme von Mehrstaatigkeit auch bei der Einbürgerung. Der Doppelpass ist kein Selbstzweck. Es geht nicht darum, dass jemand mit zwei Pässen besser dran ist als mit einem Pass. Der Doppelpass sollte stattdessen akzeptiert werden, um Einbürgerungen zu erleichtern, denn nur so gibt es vollständige rechtliche und politische Teilhabe. Klar ist auch: Zwei Pässe bedeuten auch immer doppelte Verantwortung mit allen Rechten und Pflichten eines Staatsbürgers. Das sollte immer gut überlegt sein. Übrigens ist der Doppelpass schon heute keineswegs die Ausnahme: 2016 fanden 58 Prozent der Einbürgerungen mit fortbestehender ausländischer Staatsangehörigkeit statt.
Sabine Steppat: Integrationspolitik ist eine Querschnittsaufgabe. Welche Politikbereiche sind dabei von besonderer Relevanz?
Aydan Özoğuz: Am wichtigsten sind das Bildungswesen mit Spracherwerb, Schulbesuch und Ausbildung, der Bereich des Arbeitsmarktes und die Stadtentwicklungspolitik. Gerade in diesen Bereichen sind gleiche Chancen auf Teilhabe unerlässlich, um für mehr Integration zu sorgen.
Sabine Steppat: Mit welchen Maßnahmen könnte die Situation der Flüchtlinge am Arbeitsmarkt verbessert werden?
Aydan Özoğuz: Da ist in den letzten Jahren schon viel passiert: Wir haben durchgesetzt, dass Asylbewerberinnen und -bewerber bereits drei Monate nach ihrer Ankunft arbeiten dürfen. Ebenso haben Asylbewerberinnen und -bewerber mit Bleibeperspektive Zugang zu Integrationskursen und berufsbezogener Sprachförderung. Zusätzlich haben wir die Anerkennung ausländischer Bildungsabschlüsse verbessert und die Maßnahmen zur Berufsvorbereitung geöffnet. Natürlich ist es eine große Herausforderung, so viele Menschen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wichtig ist, dass unsere Arbeitsagenturen und Jobcenter gut darauf vorbereitet sind – mit ausreichend interkulturell geschultem Personal und passenden Maßnahmen zur Arbeitsmarktvermittlung. Von anerkannten Flüchtlingen erwarten wir, dass sie sich mit ganzer Kraft für Spracherwerb und Integration in den Arbeitsmarkt einsetzen. Viele sind topmotiviert und auch deshalb bin ich zuversichtlich, dass wir bei der Arbeitsmarktintegration vorankommen werden.
Sabine Steppat: Wie wichtig ist die kommunale Ebene für die Integration von Zugewanderten und wie könnten die Kommunen vom Bund noch stärker unterstützt werden?
Aydan Özoğuz: Die kommunale Ebene ist entscheidend und der oft gehörte Slogan „Integration findet vor Ort statt“ stimmt. Darum war es so wichtig, dass der Bund die Kommunen bei der Integration der vielen Geflüchteten finanziell massiv unterstützt hat: 2016 mit 9,3 Milliarden Euro, in diesem Jahr mit 6,9 Milliarden Euro. Es war wichtig, dass wir die Kommunen hier stark entlastet haben und sie wegen der Mehrbedarfe für Unterbringung und Integration von Flüchtlingen keine anderen Einrichtungen oder Angebote wie Bücherhallen, Spielplätze oder Schwimmhallen schließen mussten. Der Bund muss die Kommunen aber weiter unterstützen. Wichtig wäre zum Beispiel die Aufhebung des unsinnigen Kooperationsverbotes im Grundgesetz, damit der Bund in finanzschwachen Kommunen direkt in Bildungseinrichtungen wie Kitas, Schulen, Horte und Berufsschulen investieren kann.
Sabine Steppat: Wie sollte eine Willkommenskultur für Einwanderer aussehen?
Aydan Özoğuz: Die beste Willkommenskultur ist eine echte Teilhabekultur. Wer neu in das Land kommt, muss von Anfang an teilhaben können und gleichzeitig dürfen wir erwarten, dass alle Anstrengungen dafür unternommen werden: unsere Sprache lernen, einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen, sich gut in der Nachbarschaft einleben. In dieser Legislaturperiode haben wir viele Gesetze und Verordnungen verabschiedet, die dafür endlich bessere Bedingungen schaffen. Das wurde jahrzehntelang von der Politik versäumt und darum sollten wir heute nicht zu ungeduldig sein, wenn die Teilhabe von Einwanderinnen und Einwanderern nicht immer schnell vorankommt. Deutschland ist 2017 ein integratives und starkes Land, das sollte uns Mut machen.
Demokratie und Frieden
Angaben zur Person
Aydan Özoğuz ist Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration und Staatsministerin bei der Bundeskanzlerin.
Nach dem Abschluss ihres Studiums der Anglistik, der spanischen Sprache und Literatur sowie der Personalwirtschaft 1994 war sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Körber-Stiftung, Hamburg (diese Tätigkeit ruht seit 2009 nach Einzug in den Deutschen Bundestag). Von 2001 bis 2008 war sie Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. Seit 2009 ist sie Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2011 Stellvertretende Vorsitzende der SPD.
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