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Rezension / 09.11.2023

Leon Wansleben: The Rise of Central Banks. State Power in Financial Capitalism

Cambridge, MA: Harvard University Press, 2023

Die politische Bedeutung von Zentralbanken ist in der Eurokrise sowie spätestens während der Inflation infolge des Ukrainekriegs zu einem Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung geworden. Dahinter steht jedoch eine jahrzehntelange Entwicklung, wie Leon Wansleben in „The Rise of Central Banks“ zeigt. Während er diese nachzeichnet, geht er insbesondere auf die Auswirkungen der Zentralbankpolitik auf die Struktur des Finanzsektors ein. Max Lüggert hebt diese Leistung in seiner Rezension positiv hervor, hätte sich jedoch gewünscht, dass der Autor insbesondere die Rolle der Europäischen Zentralbank stärker einbezogen und seine Analysen angesichts aktueller Entwicklungen zu konkreten Vorschlägen weiterentwickelt hätte.

Zentralbanken nehmen in heutigen Staaten eine interessante Doppelfunktion ein. Sie sind einerseits Impulsgeber für die Ausgestaltung von Finanzmärkten und haben somit einen erheblichen Einfluss auf die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung. Andererseits sind sie in der Regel öffentlich-rechtlich organisiert, haben bei aller Unabhängigkeit ein Mandat, das gesetzlich festgelegt ist und befinden sich in regem Austausch – formell wie informell – mit politischen Akteuren. Die relative Bedeutung von Zentralbanken hat dabei auch im Lauf der vergangenen Jahrzehnte zugenommen. Leon Wansleben, Leiter der Forschungsgruppe „Soziologie öffentlicher Finanzen und Schulden“ am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung versucht mit seinem Buch eine Rekonstruktion dieser Entwicklung. Die Argumentation wird entlang der Fallbeispiele von vier Ländern entwickelt; neben den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich sind dies Deutschland und die Schweiz.

Für Wansleben liegt ein maßgeblicher Wendepunkt in der Bedeutung von Zentralbanken in den 1960er und 1970er Jahren, in denen die wirtschaftliche Dynamik der Nachkriegszeit in vielen Industriestaaten abnahm und es zeitgleich zu einer erhöhten Inflation kam. Parallel dazu habe sich ausgehend von den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich der Trend zur Finanzialisierung entwickelt, indem die relative Bedeutung des Finanzsektors für die Wirtschaft als Ganzes zugenommen habe. Wansleben beschreibt, wie die Zentralbanken in dieser Zeit mithilfe von Geldmengenzielen und Leitzinsanpassungen versuchten, der steigenden Inflation Herr zu werden. Diese Interventionen seien nicht immer von Erfolg gekrönt gewesen, wie vor allem das Beispiel Großbritannien zeige. Für Wansleben war der erste Schritt in Richtung einer zunehmenden Bedeutung von Zentralbanken jedoch gelegt. Viele Zentralbanken seien bis dahin eher intermediäre Akteure gewesen, die nur mit einem überschaubaren Kreis finanzieller Eliten in Austausch getreten seien und ein unterschiedliches Maß an Unabhängigkeit – ein großes bei der Schweizerischen Nationalbank (SNB), ein kleines bei der Bank of England – gegenüber der Regierung gehabt hätten.

Zu Beginn der 1980er Jahre führte das Ziel der Inflationsbekämpfung Wansleben zufolge jedoch zu einer neuen Stellung der Zentralbanken. So sei ihre Unabhängigkeit nun zunehmend auch rechtlich kodifiziert und die Gewährleistung von Preisstabilität als ihre primäres Mandat klar kommuniziert worden. Das Publikum der Zentralbanken habe sich somit verbreitert: Die Außenkommunikation der Zentralbanken habe sich nicht mehr nur an einzelne Finanzakteure, sondern in erster Linie die gesamten Finanzmärkte und mittelbar auch andere volkswirtschaftliche Akteure wie die Arbeitgeber und Gewerkschaften gerichtet. Wichtig wurden den Schilderungen des Autors zufolge das Erwartungsmanagement, sprich die Steuerung der Erwartung ökonomischer Akteure über die künftige Inflation sowie der Versuch der Zentralbanken eine gewisse Berechenbarkeit herzustellen, damit die von Ihnen gesendeten Signale wie gewünscht an den Finanzmärkten aufgenommen und weitergegeben würden. Dieser Kurs sei zunächst durch die Bank of England und die amerikanische Federal Reserve (Fed) vorgegeben worden, habe bei der Bundesbank und der SNB zunächst jedoch auf Skepsis gestoßen. Diese hätten das Argument vorgetragen, dass man in der Kommunikation gegenüber den Finanzmärkten eine gewisse Unsicherheit bewahren solle, um zu vermeiden, dass spekulative Praktiken von den Finanzmarktakteuren als praktisch risikolos wahrgenommen würden. Zu Beginn der 1990er Jahre verstummte nach Wanslebens Schilderung jedoch auch dieser Widerstand – gegen die Entwicklung hin zur Finanzialisierung und die parallel dazu verlaufende Deregulierung von Kapitalverkehr und Finanzmarktaufsicht wurden in keinem Industrieland wirksame politische Einwände artikuliert. Zu jener Zeit hätten sich die Märkte um repurchase options (kurz Repo) zu einem wichtigen Segment der Finanzmärkte entwickelt. Auf diesen Märkten werde Liquidität im Gegenzug zur Hinterlegung von Sicherheiten zur Verfügung gestellt. Diese Versorgung mit Liquidität erfolge oft sehr kurzfristig, weshalb sich geldpolitische Weichenstellungen von Zentralbanken dort besonders schnell niederschlagen würden.

Ab Mitte der 1990er habe sich bei den Zentralbanken vor diesem Hintergrund das Bild einer „Great Moderation“ (176) eingestellt. Die Inflation konnte Wansleben zufolge weitgehend eingedämmt werden, exogene wirtschaftliche Schocks waren kaum vorhanden und auf den Finanzmärkten stellte sich ein Gleichgewicht ein, das sich abgesehen von kleineren Interventionen der Zentralbanken in den folgenden Jahren weitgehend selbst aufrechterhielt. In dieser Zeit hätten jedoch die blinden Flecke zugenommen, die durch die Zentralbanken ignoriert worden seien. Volkswirtschaftlich, so hält der Autor fest, sei die oberflächliche Stabilität auch von schwachem Wirtschaftswachstum und einer Privilegierung der Inhaber von Wertpapieren und ähnliche Vermögenswerten geprägt gewesen, was letztlich in einer zunehmenden Ungleichheit bei Einkommen und insbesondere Vermögen gemündet habe. Und in der Überzeugung, dass Repo-Märkte ein effizientes Instrument zur Steuerung der Finanzmärkte seien, habe man diese Märkte ab den 1990er Jahren bewusst ausgebaut. Ausgerechnet dort sollte jedoch 2007 die Finanzkrise ihren Ausgang nehmen. Wie oben geschildert, wird an Repo-Märkten Liquidität gegen Sicherheiten zur Verfügung gestellt. In vielen Fällen handelte es sich dabei jedoch um Wertpapiere mit Bezug zu Immobilien.

Als sich 2007 in diesem Sektor ein akuter Vertrauensverlust einstellte, kamen die Repo-Märkte Wansleben zufolge schlagartig zum Erliegen und eine wichtige Säule der Refinanzierung vieler Finanzmarktakteure brach ersatzlos weg. Die Folgen sind bekannt: Einige große Banken und Versicherungen gerieten in die Insolvenz, viele weitere mussten durch staatliche Unterstützung gerettet werden. Mit den im Anschluss an die Finanzkrise notwendig gewordenen Maßnahmen der Zentralbanken beendet Wansleben seine historische Rekonstruktion.

Sein klares Urteil lautet, dass die Finanzmärkte seit 2007 in ihrer bestehenden Form praktisch fortwährend auf irgendeine Art öffentlicher Unterstützung angewiesen seien – sei es über günstige Konditionen der Zentralbanken oder direkte finanzielle Beihilfen von Staaten. Vor allem durch niedrige Zinsen und die großzügige Bereitstellung von Liquidität hätten sich Banken und Versicherungen ein wenig stabilisieren können; wirtschaftliches Wachstum sei so jedoch nicht erzeugt worden und mittlerweile sei bis in die Mittelklasse private Verschuldung nötig, um einen gewissen Lebensstandard beibehalten zu können.

Wansleben legt in seinem Buch klar und gut belegt dar, wie die Zentralbanken in den vergangenen Jahrzehnten zur Entstehung des folgenden Dilemmas beigetragen haben: Durch strukturelle Anreize haben sie ein Finanzsystem entstehen lassen, das einerseits nicht nachhaltig, andererseits aber von solcher Bedeutung ist, dass man es nicht ohne weiteres zerbrechen lassen kann. Diese Argumentation ist schlüssig ausgeführt, einige Fragen bleiben jedoch nach der Lektüre offen. So ist es erklärungsbedürftig, dass die Europäische Zentralbank (EZB) im Buch praktisch nicht betrachtet wird. Dies mag einer Stringenz der gewählten Fallbeispiele geschuldet sein, die Entwicklung in der Eurozone wird an einzelnen Stellen über den Umweg des Fallbeispiels Bundesbank geschildert. Gerade für den Bedeutungszuwachs von Zentralbanken ist die EZB jedoch ein Paradebeispiel; eine nähere Betrachtung (zum Beispiel anhand der Rolle der EZB innerhalb der Troika während der Eurokrise) hätte die Erkenntnisse des Buches sicherlich abgerundet. Darüber hinaus ist die geschilderte Kritik an neoliberalen Entwicklungen zwar fundiert, man hätte von Wansleben aber erwarten können, aus dieser Kritik konkrete politische Vorschläge zu abzuleiten. Am Ende dieses Buches konstatiert der Autor, dass Zentralbanken wenig andere Möglichkeiten hätten, als das derzeitig bestehende System mit seinen inhärenten Mängeln aufrechtzuerhalten. Wer sich mit dieser Diagnose zufrieden gibt, kann einige Erkenntnisse aus diesem Buch ziehen. Wer das Thema aber grundsätzlicher weiterdenken möchte, der muss an anderer Stelle weiterlesen.

 

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

Leon Wansleben / 26.02.2020

„The Only Game in Town“: Mächtige Zentralbanken und Defizite in der Wirtschaftspolitik

Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung - Standpunkt

 

Externe Veröffentlichungen

Joscha Wullweber / 12.2018

Zentralbanken als marktmachende Akteure: Die global governance des Finanzsystems, das Schattenbankensystem und unkonventionelle Zentralbankpolitik seit der globalen Finanzkrise

Zeitschrift für Internationale Beziehungen