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Eine Literaturschau / 04.01.2017

Russland aus oppositioneller Sicht. Die Widersacher des russischen Regimes

Ähnlich wie vor 1989/91 erzählt auch heute wieder die Literatur über russische Oppositionelle oder von ihnen Geschriebenes Wesentliches über den Charakter der Regierung und den Zustand der Gesellschaft in Russland. Anhand von sechs Büchern – unter anderem von Garri Kasparow und über Anna Politkowskaja – lässt sich ermessen, wie schlecht es gegenwärtig um Freiheit, Pluralismus und Demokratie bestellt ist.

March in memory of Boris Nemtsov in Moscow 2017 02 26 Foto: Voice of AmericaMarsch im Gedenken an den ermordeten Boris Nemzow, Moskau am 26. Februar 2017. Der Politiker war zwei Jahre zuvor auf offener Straße erschossen worden. Foto: Voice of America (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:March_in_memory_of_Boris_Nemtsov_in_Moscow_(2017-02-26)_76.jpg)


Der Kalte Krieg ist wieder aufgeflammt, bedroht den Frieden und die Menschenrechte – nur habe sich der Westen das noch nicht eingestanden und viel zu lange gehofft, schreibt Garri Kasparow, Russland über die wirtschaftliche und politische Einbindung auf dem Weg in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit unterstützen zu können. Er lässt in seinem Plädoyer „Warum wir Putin stoppen müssen“ keinen Zweifel an dieser verhängnisvollen Entwicklung und fordert die USA und Europa auf, ihre – seiner Meinung nach – selbstgewählte außenpolitische Schwäche abzulegen, spürbare wirtschaftliche Sanktionen durchzusetzen und die Ukraine mit Waffen zu beliefern. Diese Forderung speist sich vor allem aus der Überzeugung, dass der Westen durch seine Haltung gegenüber Russland den Aufstieg Putins und die Entfaltung einer auf ihn zentrierten totalitären Macht maßgeblich befördert hat. So bedauert Kasparow, ehemaliger Schachweltmeister und prominenter Oppositionspolitiker im Exil, wiederholt die Wahlsiege demokratischer Präsidentschaftsbewerber (Clinton, Obama), die viel zu sehr auf einen internationalen Konsens und auf das Wohlergehen der USA bedacht gewesen seien und damit versäumt hätten – mutmaßlich anders als ein republikanischer Präsident – gegenüber Russland aus einer Position der Stärke heraus zu handeln. Kasparows Verzweiflung mag aus seiner Sicht nachvollziehbar sein, aber bei seinem Rückgriff auf den Kalten Krieg als Erklärungsmuster für richtiges Handeln ist er nicht überzeugend: Sicher meinte man vor 1989 zu wissen, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs sich Gut und Böse befinden – aber der ‚gute‘ Westen blieb (unabhängig davon, welcher US-Präsident an der Macht war) da, wo er war, schaute den Aufständen im Ostblock gegen die sowjetischen Besatzer tatenlos zu, um die Welt nicht in den Dritten Weltkrieg zu stürzen. Und auch mit Blick auf die östliche Ukraine lässt sich auf die Erfahrung verweisen, dass Waffenlieferungen nur die Zeit und das Leiden verlängern, bis in Verhandlungen eine Friedenslösung gefunden wird.

Trotz seiner Prämissen, die man teilen mag oder nicht, lohnt die Lektüre. Ähnlich wie vor 1989/91 erzählt auch heute wieder die Literatur über russische Oppositionelle oder von ihnen Geschriebenes Wesentliches über den Charakter der Regierung und den Zustand der Gesellschaft. Kasparow hält sich mit den innenpolitischen Gegebenheiten allerdings nur kurz auf, über andere Oppositionspolitiker erfährt man wenig. Einen Schlüssel zur gegenwärtigen Situation liefert er aber dennoch mit einer Kurzbeschreibung eines Missverständnisses: Da in der freien Welt augenscheinlich freie Wahlen und Geld vorhanden waren, so die Wahrnehmung in der späten Sowjetunion, gehört beides wohl zusammen. Allein auf diese Annahme vertrauend, blieb die Demokratie für die russische Gesellschaft aber ein „unklares Konzept“: „Als wir also 1991 zuversichtlich in die Wahllokale strömten, um Boris Jelzin unsere Stimmen zu geben, war es ein wenig so, als würden viele Russen erwarten, die Wahlurnen funktionierten wie Bankautomaten: Man steckte seinen Wahlzettel hinein, und es kam Geld heraus!“ Kasparow meint, dass dieses Missverständnis es später Putin erleichtert habe, „die Bürgerrechte mit der Behauptung zu beschneiden, die Demokratie habe versagt“ (111). Statt einer Demokratie, die sich auf eine funktionierende Zivilgesellschaft stützt, entstand – wesentlich ermöglicht durch die Art und Weise der drastischen Wirtschaftsreformen – in Russland nach 1991 zunächst eine Kleptokratie. Diese entwickelte sich – unter den Augen des zu freundlichen Westens, wie Kasparow immer wieder betont – zu einem Mafia-Staat, autoritär angeführt von Putin, der allein am Erhalt seiner persönlichen Macht interessiert ist. Kritiker, so sie denn Vermögen besitzen, werden enteignet, ins Ausland getrieben oder inhaftiert, einer der prominentesten Fälle ist Michail Chodorkowski, dessen Unternehmen Jukos „unter den von Putins Handlangern kontrollierten Ölgesellschaften“ (209) aufgeteilt wurde. Das heutige Russland ist gezeichnet von einer von der medialen Öffentlichkeit ausgesperrten Opposition, Wahlfälschungen, der Opferung Unschuldiger bei der rücksichtslosen Stürmung des besetzten Nord-Ost-Theaters in Moskau (2002) und der terrorisierten Schule in Beslan (2004), außerdem von der Ermordung des ehemaligen Geheimdienstoffiziers Alexander Litwinenko 2006 in London, der Journalistin Anna Politkowskaja 2006 und des Oppositionspolitikers Boris Nemzow 2015 (um nur die prominentesten Namen zu nennen). Aufzuzählen sind ferner die Kriege in Tschetschenien (bis 2009) sowie die militärischen Interventionen in Georgien (2008) und jüngst in der Ukraine (seit 2014). Im Kontext der Ermordung Nemzows schreibt Kasparow: „Solange Putin im Amt ist, wird uns niemand sagen, wer den Befehl gab. Aber es gibt keinen Zweifel daran, dass er dafür verantwortlich ist, dass er Bedingungen geschaffen hat, unter denen mit so furchtbarer Häufigkeit derart abscheuliche Verbrechen verübt werden.“ (382) Kasparow scheut daher nicht davor zurück, dieses Regime, das seiner Ansicht nach mit faschistischer Propaganda und Tricks arbeitet, mit den ersten Jahren der Herrschaft von Hitler zu vergleichen. Dies ist nicht als Panikmache, sondern als Hinweis darauf gedacht, dass – womit er wieder den Bogen zur westlichen Politik schlägt – eine Politik des Appeasements historisch keine Erfolge vorweisen könne.

Kasparow legt den Schwerpunkt seiner Darstellung auf die Ära Putin. Zum Verständnis von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Russland ist allerdings ein Blick auf den gesamten Zeitraum seit dem Ende der Sowjetunion hilfreich, denn in der Amtszeit von Präsident Boris Jelzin wurde die Ausgangslage für die heutige Situation geschaffen: Es ist die Geschichte einer missglückten Transformation, nachzulesen unter anderem in „Einführung des Kapitalismus in Russland“ von Felix Jaitner und „Red Notice“ von Bill Browder. Jaitner rekapituliert in seiner Literaturstudie die neoliberale „Schocktherapie“, die die führende Elite glaubte autoritär durchsetzen zu müssen. Seine Darstellung deckt sich mit den Erfahrungen, die Bill Browder persönlich sammelte, der sich zunächst sehr erfolgreich als Glücksritter des russischen Finanzkapitalismus versuchte. Er schildert in seinem autobiografischen Erfahrungsbericht nicht nur die frühen falschen Weichenstellungen durch die Ausgabe von Coupons, die den Startschuss für die Korruption bildete. Er bestätigt auch die Erfahrungen Chodorkowskis, dass derjenige, der die Geschäfte Putins und seiner Getreuen behindert, mit allerlei Tricks enteignet und sogar inhaftiert wird. Anderen wie dem einstigen Oligarchen und Putin-Vertrauten Boris Beresowski gelang es gerade noch, ihren Besitz zu verkaufen und ins Exil zu gehen. Im Fall von Browder nahm die Entwicklung noch eine zusätzliche tragische Wendung, denn sein Anwalt Sergej Magnitski kam in der willkürlichen Haft um. Browder initiierte daraufhin den Magnitsky Act: 2012 beschloss der US-Kongress, dass die für den Tod Magnitskis Verantwortlichen nicht mehr die USA betreten dürfen, ihr dort deponiertes Vermögen wurde eingefroren. Mit diesem politischen Paukenschlag wurde ein aufsehenerregendes Zeichen gesetzt, wie auch Kasparow lobt. Zugleich aber ist an der russischen Reaktion darauf – die Adoption russischer Kinder nach Amerika wurde untersagt – deutlich geworden, wie Browder aufzeigt, dass Putin nicht die Absicht hat, gegen die ihm nützliche Korruption vorzugehen.

Damit ist Russland in einer Gegenwart angekommen, in der ein Auftritt der Punkband Pussy Riot als staatsgefährdender Akt wahrgenommen wird (zur Band-Mitbegründerin Nadja Tolokonnikowa siehe „Anleitung für eine Revolution“). Die Verurteilung der drei politischen Performancekünstlerinnen wegen „Rowdytums“ legt nahe, dass Kasparow mit seiner Charakterisierung des Landes eine zutreffende Formulierung gefunden hat: Neosowjetunion.

 

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