Marc Saxer: Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise
Dass sich die westliche Welt in einer Dauerkrise befindet, ist eine oft gestellte Diagnose. Dass es nicht gelingt, diesen toten Punkt zu überwinden, sieht Marc Saxer, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, auch darin begründet, dass das „progressive Lager“ zu selten auf breit angelegte Allianzen setzt. In „Transformativer Realismus“ plädiert er daher für ein stärker integratives Vorgehen. Martin Repohl hat das Buch rezensiert. Während ihn das grundsätzliche Anliegen des Autors überzeugt, sieht er Unschärfen in Saxers Verwendung des für seine Argumentation zentralen Begriffs der Lebenswelt.
BTW-Schwerpunkt: Aus der Krise
Spätestens mit Beginn der globalen Finanzkrise befinden sich die westlichen Demokratien in einer tiefgreifenden Dauerkrise, die durch immer neue Erschütterungen, wie soziale Ungleichheit, Klimawandel oder Rechtspopulismus, stetig vertieft wird. In Politikwissenschaft und Soziologie herrscht ein breit geteilter Konsens darüber, dass sich das System in einer Krise befindet – wie diese im Sinne eines emanzipatorischen Fortschritts überwunden werden könnte, darüber besteht aber gewiss kein Konsens. Seit einigen Jahren gibt es daher eine Vielzahl von Analysen, die im weitesten Sinne innerhalb einer linken Strategiedebatte einzuordnen sind und die sich die Frage stellen, wie diese Systemkrise konkret zu überwinden sei. Auch Marc Saxers neues Buch „Transformativer Realismus“ verortet sich in dieser Debatte. Saxer, Politologe und Leiter des Asienreferates der Friedrich-Ebert-Stiftung sowie Mitglied der SPD-Grundwertekommission, geht hierbei von der These aus, dass unsere moderne Gesellschaft in konkurrierende Stämme zerfällt und eine progressive Politik daher vor allem auf lebensweltübergreifende Bündnisse setzen muss, um sich durchsetzen zu können. Realismus wird hier als Methode verstanden „[…] die Dinge zu sehen [,] wie sie sind, um sie zu ändern“ (Klappentext).
Die Argumentation ist übersichtlich in vier Teile gegliedert, die je einen Problemkomplex fokussieren. Abschnitt 1 befasst mit dem Neoliberalismus als einer der Ursachen der Krise und seinem – wie der Politologe Colin Crouch es nannte – befremdlichen Überleben: „Der Neoliberalismus hat also eine Systemkrise heraufbeschworen, die er selbst nicht lösen kann. Wenn der Neoliberalismus aber bankrott ist, warum gelingt es dann dem progressiven Lager nicht, einen Richtungswechsel zu erkämpfen?“ (10). Saxers Analyse orientiert sich hier an einer politikökonomischen und gramscianischen Perspektive. Im Fokus des ersten Abschnitts stehen daher die langjährige Produktivitätskrise in Deutschland und anderen westlichen Staaten, die Finanzkrise, die Staatsschuldenkrise sowie die rechtspopulistische Bedrohung der Demokratie.
Abschnitt 2 befasst sich mit der Frage, welche Antworten die einzelnen Fraktionen des – von Saxer so bezeichneten – progressiven Lagers bisher gegeben haben und wieso ein Schulterschluss trotz gemeinsamer Zielvorstellung bisher unmöglich war. Saxer gelingt hier eine treffende und nachvollziehbare Kritik einzelner, auch radikaler, Positionen und wagt auch eine Auseinandersetzung mit der sogenannten Cancel Culture, die er als paradigmatisches Symptom eines fraktionierenden Stammesdenkens deutet. Der Autor fordert daher: „Wir brauchen also ein neues Denken, das es erlaubt, gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Werten und Weltsichten, Identitäten und Interessen zusammenzuführen“ (11). Wie ein solches Denken zur Überwindung der „Klimafinanzeuropamigrationsdemokratiekrise“ (12) aussehen kann, wird in Abschnitt 3 erläutert. Dort heißt es: „Der Transformative Realismus versteht, dass sich die Systemkrise nicht mehr in der alten Ordnung lösen lässt, und kämpft daher dafür, einer neuen Ordnung zum Durchbruch zu verhelfen. Die neue Gesellschaftsordnung leitet sich aber nicht aus der Handlungslogik eines einzelnen Sektors ab […] oder aus den Ordnungsvorstellungen eines einzigen sozialen Milieus […]. Die neue Ordnung wird sich also erst dann nachhaltig etablieren, wenn sie von einer breiten gesellschaftlichen Mehrheit getragen wird. Dreh- und Angelpunkt des Transformativen Realismus ist daher die Bildung transformativer Allianzen, die in der Lage sind, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse neu zu ordnen“ (119). Um eine solche Politik realistisch gestalten zu können, skizziert Saxer im vierten Abschnitt mehrere Policy-Plattformen, die als Brücken zwischen den verschiedenen, durch ihren Realismus vereinten Lebenswelten fungieren. Hier spielen insbesondere ein Green New Deal, ein „hegender und pflegender Gärtnerstaat“, also ein fürsorglicher, aber auch intervenierender Sozialstaat, eine menschengerechte Wirtschaft sowie ein solidarisches Europa eine wichtige Rolle. Die Argumentation schließt mit der Überzeugung, dass nur mit breiten, lebensweltübergreifenden Bündnissen eine kritische Masse erreicht werden kann, die die bestehenden Systemlogiken zu einem Pfadwechsel bewegen können.
Saxers Analyse ist ausgewogen, schlüssig und präzise argumentiert. Man kann den Schlussfolgerungen in vielen Punkten vorbehaltlos zustimmen und ein inklusiver Ansatz, der sich auf eine gemeinsam geteilte Vorstellung von Realität – also nach Saxer von dem, was als gesellschaftlich pathologisch und daher als zu verändernd angesehen wird – stützt, ist hier sicherlich auch zielführender als die Grabenkämpfe gegenwärtiger Debatten. Aber darin liegt auch ein Knackpunkt verborgen, der dem Autor zu entgehen scheint. Denn bei aller argumentativen Klarheit folgt der Ansatz doch in seinen Prämissen einem Baukastenprinzip, das der Autor auch selbst für sich in Anspruch nimmt (133). Ansätze dieser Art wirken jedoch additiv und erinnern an strategische Planspiele, die zwar auf dem Reißbrett funktionieren (müssen), aber nur bedingt auf die Realität übertragbar sind. Es fehlt hier ein überzeugender Definitionsversuch dessen, was hier eigentlich realistisch sein soll. Denn die Auffassung, dass das gegenwärtige System in einer Krise sei und nur durch progressive Kräfte verändert werden könnte, ist ein analytischer Kurzschluss, der mehr vom Wunsch- als vom wirklichen Realitätsdenken getragen wird: Denn das vermeintlich so bankrotte System erweist sich trotz multipler Dauerkrisen als erstaunlich funktionsfähig und kann sich offenbar sogar weiter verfestigen. Die Frage, die sich hier stellt, ist daher die folgende: Warum findet sich kein gesellschaftlich breiter Handlungskonsens, wenn die Systemkrise doch so evident ist? Der aktuelle Bundestagswahlkampf verdeutlich einmal mehr, dass Beharrungskräfte sich nur bedingt durch kluge Problemanalysen irritieren lassen. Es ist daher problematisch, dass der Autor nicht auf die philosophischen Implikationen des von ihm häufig verwendeten Begriffes der Lebenswelt eingeht. Denn Lebenswelten sind mehr als Lebensalltäglichkeiten, sie sind Erfahrungszusammenhänge, die sich genuin durch Stabilität, Selbstverständlichkeit und Wandlungsresistenz auszeichnen, wie beispielsweise der Philosoph Hans Blumenberg deutlich gezeigt hat. Und Blumenberg hat auch verdeutlicht, dass es Realität nur im Plural gibt und dieser Begriff erst einmal wenig mit unmittelbarer Erfahrung zu tun hat[1]. Der von dem Autor eingeforderte Transformative Realismus benötigt daher eine – auch kommunikative – Sensibilität, um überhaupt an verschiedene Lebenswelten anschließen zu können. Hiermit ist weder eine milieuspezifische noch eine evidenzbasierte Kommunikation gemeint, sondern ein Vorgehen, das sich dem menschlichen Bedürfnis nach Stabilität – auch und gerade in Krisensituationen – reflexiv bewusst ist. Mit Blick auf die Bundestagswahl ist daher festzuhalten, dass übergreifende progressive Bündnisse sicherlich so nötig wie fehlend sind und der Autor hier wertvolle Überlegungen beisteuern kann. Es bleibt aber fraglich, ob ein Realitätsverständnis, das nur die bloße Evidenz des gesellschaftlichen Veränderungsbedarfes als gegeben und akzeptiert voraussetzt, überhaupt realistisch genug ist.
[1] Blumenberg, Hans (2020): Realität und Realismus. Berlin: Suhrkamp.
Demokratie und Frieden
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