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Rezension / 13.11.2020

Parag Khanna: Unsere asiatische Zukunft

Berlin, Rowohlt 2019

Parag Khanna widmet sich dem Aufstieg Asiens. Dabei stehe er laut Rezensent Rainer Lisowski nicht einfach staunend vor der wirtschaftlichen Leistungskraft, sondern beleuchte auch deren Schattenseiten. Khanna bringe eine Besonderheit asiatischer politischer Systeme auf den Punkt: den Wunsch und die Erwartung vieler dortiger Gesellschaften, demokratische Impulse mit technokratischer Lenkung, Effizienz und gouvernementaler Responsivität zu kombinieren: „Demokratien bringen Kompromisse hervor, Technokratien Lösungen; Demokratie genügt sich selber, Technokratie zielt auf Optimierung“.

Mühsam musste man vor fünfzehn Jahren nach deutschsprachigen Büchern zum Aufstieg Asiens suchen. Mittlerweile füllen sich ganze Bücherregale zum „asiatischen Jahrhundert“, wenngleich oftmals stillschweigend Asien mit China gleichgesetzt wird. Der Politikwissenschaftler, Publizist und Politunternehmer Parag Khanna legt mit „Unsere asiatische Zukunft“ nun ein weiteres Buch vor und übrigens eines, bei dem es eben nicht ausschließlich nur um China gehen soll. Der in Kanpur (im Bundesstaat Uttar Pradesh in Indien) geborene Khanna spricht Deutsch, das Buch wurde jedoch aus dem Englischen übersetzt. Khanna ist bekannt als politischer Kommentator für amerikanische Medien wie CNN oder die New York Times. Mit „FutureMap“ hat er – wie so oft typisch für die USA – ein weiteres als „Thinktank“ getarntes Politunternehmen aufgebaut.

Inhaltlich gliedert sich der Band in zehn Kapitel, die nur lose aufeinander aufbauen. Dass sein Buch primär für den amerikanischen Markt geschrieben ist, erkennt man gleich am Titel der Einleitung: „Asien zuerst!“ Diese Überschrift, als provozierender Kommentar zu Trumps „America first!“, ist ein bisschen wirr, ein bisschen herausfordernd. Der Autor stellt aber auch ein paar hierzulande eher selten gelesene Gedanken auf, wenn er etwa die chinesische Belt-and-Road-Initiative als das wichtigste diplomatische (sic!) Projekt des 21. Jahrhunderts bezeichnet (10) oder wenn er darauf verweist, dass Asien kulturell und geschichtlich extrem heterogen sei, es aber ebenso ein gewisses gemeinsames, mentales Fundament gäbe (14), wie etwa eine Art – anders als im Westen – politisch heikle oder gefährliche Themen im Sinne der Harmonie auszuklammern (23). Am stärksten bringt er aber eine Besonderheit asiatischer politischer Systeme auf den Punkt: den Wunsch und die Erwartung vieler asiatischer Gesellschaften, demokratische Impulse mit technokratischer Lenkung, Effizienz und gouvernementaler Responsivität zu kombinieren (35 f.). Demokratie? – nur halb so wichtig. In diesem Kontext nennt er sicher nicht zu Unrecht Singapur die „inoffizielle Hauptstadt“ Asiens (38). Diese Sicht auf Asiens technokratische Systeme ist der wichtigste Beitrag des Buches und hiervon wird gleich noch die Rede sein.  

Die „kurze Weltgeschichte aus der Sicht Asiens“ und die sich anschließende Frage, was denn die Welt aus Asiens Geschichte lernen könne (Kapitel 1 und 2) sind für jeden, der sich um das tiefere Verständnis historischer Zusammenhänge bemüht, eine kleine Brüskierung. Ägypten, China, Byzanz – alles ist bei Khanna irgendwie Asien. Der Gang der Argumentation holpert auf wenigen Seiten von rechts nach links im Galopp durch die Jahrtausende. Das Fazit, die Lehren daraus, fallen bei Khanna am Ende mager aus – nicht, weil es wenig zu lernen gäbe, sondern eher, weil er gedanklich oberflächlich bleibt. Er hat zwar absolut Recht, wenn er schreibt, dass man trotz der willkürlichen Grenzziehung in Zeiten des Kolonialismus (und damit der völkerrechtlichen Schaffung der heutigen, modernen Staaten) und trotz der teilweise übergestülpten Tradition des westlichen Rechtssystems getrost davon ausgehen dürfe, dass Länder wie Indien, China oder Iran künftig eher Lehren aus ihrer eigenen Geschichte ziehen werden und nicht, wie wir meinen, aus der des Westens (100). Exakt an dieser Stelle wäre es aber spannend gewesen, eine gründlichere Abhandlung zu lesen. Denn wenn es eine asiatische Art der Politikgestaltung geben sollte, dann müsste es folgerichtig auch eine asiatische Art geben, Gesetze zu erlassen und durchzusetzen.

Von den Überschriften „Asianomics“ (Kapitel 4) und „Erfolgsstories“ (Kapitel 5) darf man sich als wirtschaftswissenschaftlich gebildeter Mensch auch ein wenig mehr versprechen. So etwas wie ein „typisch asiatischer“ Zugang zu Wirtschaftspolitik wird nur in Teilen herausgearbeitet. Der deutlich stärker dirigistische Einfluss des Staates wird diskutiert, was aber weithin bekannt sein dürfte – ebenso wie die geringere Angst in Asien vor neuen Technologien (253). Auch die Skepsis gegenüber einem „deregulierten Finanzkapitalismus nach angloamerikanischem Vorbild“ (208) wird erwähnt. Wirklich interessant wären aber noch klarere Ausführungen der von ihm thematisierten Veränderung des globalen Finanzwesens durch den wachsenden Einfluss Asiens auf globaler Bühne.

Positiv sollte erwähnt werden, dass Khanna nicht wie so viele einfach staunend vor der wirtschaftlichen Leistungskraft Asiens steht, sondern sehr wohl auch deren Schattenseiten beleuchtet (236 ff.). Ob es bei all seinen Ausführungen grundsätzlich sinnvoll ist, die halbe Welt von der arabischen Halbinsel über die Türkei, Russland, Ostasien bis Australien und Neuseeland als „asiatische Wirtschaftszone“ (12) zu bezeichnen, sei dahingestellt. Überhaupt neigt Khanna gern zur Unschärfe. Eine Karte auf Seite 18 etwa stellt angeblich Asiens „eigenes diplomatisches System“ dar, ist bei genauerer Betrachtung aber eigentlich nur eine Grafik sich überschneidender Kreise bei der ein Zusammenhang völlig unterschiedlicher Institutionen wie ASEAN, TPP oder AIIB suggeriert wird. Die Aussage, die mit dem Bild erweckt werden soll, könnte auch als irreführend bezeichnet werden.

Viel nützlicher als diese Bilder sind für die vom westlichen Mediendiskurs eingenormten Leser*innen oft die kleinen Hinweise in Khannas Buch. – Die Nebensätze: Wenn er beispielsweise darauf verweist, dass aus japanischer Sicht die Krim-Sanktionen Europas und Amerikas gegen Russland nicht nur nutzlos gewesen seien, sondern dazu beigetragen haben, dass China und Russland enger zueinander gerückt seien, was aus Sicht japanischer Politik höchstproblematisch sei (112).

Warum Europa Asien, aber nicht die Asiaten liebt, erläutert der Autor in Kapitel 6. Eines seiner Argumente liefert den Tiefpunkt des Buches: Das positive Bild der asiatischen Länder resultiere aus ihrer wahrgenommenen politischen Stabilität. Das negative Bild von den Menschen Asiens hingegen komme zustande durch die „zentralasiatische[n] Banden, die die nachlässigen Grenzkontrollen in Litauen ausnutzen, um sich Zugang zu den 26 Ländern des Schengenraums zu verschaffen“ (322). Insgesamt blickt Khanna trotz der anderslautenden Kapitelüberschrift aber auf die USA und Europa im Vergleich – und die Frage, wer „näher dran“ ist an Asien. Interessant ist hier seine Einschätzung, Europa werde im Wettlauf die USA „besiegen“, um größtmöglichen Profit aus Asiens Aufstieg zu ziehen (304). Warum? Weil Europa mehr Schnittmengen mit Asien aufweise. Peking und Washington etwa seien echte Rivalen mit harten Spannungen untereinander, Europa und China dagegen Wettbewerber und ihre Konflikte vielmehr „Reibereien“ (315).

Das neunte Kapitel „Asiens Technokratien – ein Modell für das 21. Jahrhundert?“ ist für die Politikwissenschaft von besonderem Interesse. Es beginnt mit einer klaren These. Wohin man schaue – ökonomische Unsicherheit, technologische Neuerungen, sozioökonomische Ungleichheiten und Umweltbelastungen – kaum etwas spreche dafür, „dass westliche Regierungen am besten geeignet sind, diese große Herausforderung anzugehen“ (348). Das Buch hätte mehr Thesen dieser Art und ihre intensive Diskussion benötigt.

Obgleich in den USA sozialisiert, versucht Khanna für Verständnis des asiatischen politischen Denkens zu werben. Nicht von ungefähr schaut er dabei auf den vermutlich innovativsten und leistungsfähigsten Staat des asiatischen Kontinents: Singapur. Die im Westen so beliebte Formel „Recht und Ordnung“ stellte für Singapurs Gründungsvater Lee Kuan Yew bekanntlich die Verhältnisse bereits auf den Kopf: Recht gibt es nicht ohne garantierte Ordnung. Dies wiederum erfordert in nicht unerheblichem Maße einen starken Staat, aber keinen, der durch (sicher sinnvolle) Umverteilungsproramme immer aufgeblähter und damit selbstgenügsamer werde, sondern einen, der effizient nach Lösungen suche und dabei seine Bürgerinnen und Bürger konsultiere, der offen sei für leistungswillige Aufsteiger, der Wissenschaft und Technik einsetze.

Die „politische Oligarchie nach amerikanischem Muster“ (364) bringe weder Meritokratie noch technokratische Exzellenz hervor, aber immerhin Demokratie und Selbstbestimmung? Singapur müsse sich in demokratischer Hinsicht nicht verstecken, meint Khanna. Viel zu sehr arbeiteten Regierung und Parlament an ständiger Konsultation mit der Bevölkerung „in den Haushöfen“ (359) oder in öffentlichen Gebäuden. So gelangt er zu einer interessanten These: Eine auf Daten gestützte Technokratie mit offenen Ohren für die Wünsche der Bürger*innen sei einer repräsentativen Demokratie allein schon deshalb überlegen, weil Lobbyismus – für welche Sache auch immer – die Sicht der Regierung auf die Wünsche der Bevölkerung verzerre (366). Effiziente und kluge „bürokratische Eingreiftruppen“ seien „demokratischen Aktivisten“ in jedem Fall vorzuziehen (388). Das (neue) politische Denken asiatischer Provenienz bringt er auf eine einprägsame Formel: „Demokratien bringen Kompromisse hervor, Technokratien Lösungen; Demokratie genügt sich selber, Technokratie zielt auf Optimierung“ (357). „Responsive Autokratie“ nennt der Rezensent dies in seinen Vorlesungen. Von einem streitbaren Kapitel wie diesem hätte „Unsere Asiatische Zukunft“ zwei mehr vertragen.

Alles in allem wäre das Buch denjenigen zu empfehlen, die sich bislang wenig mit dem Erstarken Asiens beschäftigt haben. In der Klarheit seiner strategischen Analyse steht es Büchern wie etwa „New Asian Hemisphere“ (2008) von Kishore Mahbubani nach, der mehr als zehn Jahre früher im Wesentlichen dieselben Thesen vertrat und der zudem viel stärker in der Lage ist, seine Gedanken auf den Punkt zu bringen. Frei nach Goethe ließe sich über Khannas Buch auch sagen: „Lieber Freund, verzeihen Sie, dass ich ein langes Buch geschrieben habe. Ich hatte keine Zeit ein kurzes zu verfassen.“ Zweihundert Seiten weniger und mehr Konzentration hätten dem 400-Seiten-Werk gutgetan.

 

CC-BY-NC-SA
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