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Rezension / 27.05.2021

Astrid Kuhn: Bundesverfassungsgericht und Parlamentarismus. Entscheidungen seit 1975 im Spannungsfeld zwischen klassischem und parteiendemokratischem Verständnis

Baden-Baden, Nomos 2021

Das Bundesverfassungsgericht gilt allgemein als parlamentsfreundlich – aber hat es diesen Ruf zu Recht? Dieser Frage geht Astrid Kuhn, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Wissenschaft und Demokratie, in ihrer nun als Monografie vorliegenden Dissertation nach. Als Grundlage dienen ihr rund dreißig Urteile des Zweiten Senats zwischen 1975 und 2016. Nach Ansicht unseres Rezensenten Robert van Ooyen gelingt es ihr, das in Teilen altmodische Parlamentarismusverständnis des Gerichts herauszuarbeiten und zu unterstreichen, dass dieses nicht unbedingt die Handlungsmacht des Parlaments stärkt.

Gibt es ein „Verständnis“ einer Institution und daher auch das „Parlamentsverständnis“ des Bundesverfassungsgerichts? Während bei der ersten Frage leicht schon auf Maurice Hauriou verwiesen werden kann, scheint die zweite etwas kniffliger: Angesichts der personellen und zeitlichen Diskontinuitäten, der verschiedenen Entscheidungskontexte und jeweiligen Fall-Logiken sowie allein aufgrund des Bestehens zweier Senate gibt es das Bundesverfassungsgericht gar nicht. Und die Sondervoten zeugen von einer (zunehmenden) Pluralisierung innerhalb der Senate mit ihren jeweils acht, recht autonom handelnden Hauptakteuren. Die Richter und Richterinnen selbst wenden zudem ein, dass das Bundesverfassungsgericht bloß Fälle entscheide – und zwar nur juristisch. Das „unpolitische“ (Verfassungs)Recht und sein unpolitisches Gericht – das ist natürlich ein Mythos, mit dem sich die Richterinnen und Richter clever eine Legitimationsreserve für die Akzeptanz ihrer Urteile zu erschließen hoffen (und gerade gegenüber einer vermeintlich herrschaftskritischen deutschen Politikwissenschaft, die ausgerechnet das mächtige Bundesverfassungsgericht lange unbeachtet ließ, schien ihnen das früher auch bestens zu gelingen). Bloß „Fälle entscheiden“ – das mag stellenweise für das angloamerikanisch geprägte Recht gelten, kaum jedoch für die Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichts mit seiner dogmatischen, zeitlosen „Maßstabsbildung“ (Oliver Lepsius) und den ausufernden, prinzipiengeleiteten Begründungen. Gerade diese „deutsche“ Besonderheit bietet daher einen vorzüglichen Zugang, das „Verständnis“ des Gerichts anhand seiner Entscheidungen zu erfassen. 

Wenn Verfassungsgerichtsbarkeit „Deutungsmacht“ ist (Hans Vorländer), dann ist politikwissenschaftlich zu untersuchen, „wie“ hier in den jeweiligen Entscheidungen der Senate „Staat“, „Freiheit“, „Menschenwürde“, „Gewaltenteilung“, „Repräsentation“, „Volk“, „Gleichheit“ usw. gedeutet werden. Dass das Bundesverfassungsgericht dabei Vorverständnisse voraussetzen und sich zwischen dahinterstehenden, konkurrierenden politischen Theorien entscheiden muss, ist inzwischen in Arbeiten über die Rechtsprechung zu „Europa“ und „Demokratie“ herausgearbeitet worden. Astrid Kuhn setzt diese politikwissenschaftliche Untersuchungsrichtung nun mit ihrer sehr interessanten Dissertation (Universität Flensburg) speziell für das „Parlamentarismusverständnis“ des Gerichts fort. Dabei geht es auch um eine Überprüfung des öffentlich vorherrschenden Bilds einer „parlamentsfreundlichen“ Rechtsprechung, mit dem sich das Bundesverfassungsgericht selbst als „Hüter des Parlaments“ inszeniert hat: In den Blick gerät also die Frage, ob bei „vordergründig parlamentsfreundlicher Rechtsprechung“ der Bundestag „tatsächlich gestärkt“ oder ob die „Leistungsfähigkeit des parlamentarischen Regierungssystems“ nicht sogar „geschwächt“ (13) werde. 

Kuhn entwickelt zunächst differenziert Strukturprinzipien einer „idealtypischen“ Dichotomie von „klassischem“ und „parteiendemokratischem“ Parlamentsverständnis als Maßstab ihrer Entscheidungsanalyse. Etwas vereinfacht ausgedrückt stehen sich hier gegenüber: 

  • der individualistische Honoratioren-Parlamentarismus mit persönlichkeitsbezogenem Wahlrecht und klassischer Gewaltenteilung, bei dem die Plenardebatte aller Abgeordneten im deliberativen Ringen um Wahrheit und Gerechtigkeit das Zentrum parlamentarischer Entscheidungsfindung bildet, und 

  • der gruppenbezogene, auf politischen Machtkampf ausgerichtete Berufspolitiker-Parlamentarismus, mit seinem gewaltenintegrierenden Wechselspiel von Regierungsmehrheit und Opposition sowie einer politischen Willensbildung außerhalb des Plenums in zumeist nicht öffentlichen, auch informellen Partei-/Fraktionsgremien (oder Koalitionsrunden). 

Die sich hieran anschließende Rechtsprechungsanalyse der ausgewählten, knapp dreißig Entscheidungen des Zweiten Senats im Untersuchungszeitraum 1975 bis 2016 erfolgt nicht chronologisch, sondern anhand dreier inhaltlich-systematischer Teilbereiche von Parlamentarismus:

  1. Unter der Überschrift „Binnenstrukturen von Parlament und Regierung“ werden die Entscheidungen zu Stellung und Bild der Abgeordneten, parlamentarischer Gruppen und Ausschüsse sowie zur Bundestagsauflösung ausgewertet. Hier zeige sich, dass das Bundesverfassungsgericht noch in den 1960er-Jahren „stets davon ausgegangen [war], dass das Abgeordnetenmandat ein Ehrenamt sei“ (129). Mit der Entscheidung „Abgeordnetendiäten“ (1975) setze sich aber das „Leitbild des Berufsabgeordneten“ durch, bei deutlicher „Distanzierung vom [...] klassischen Honoratiorenabgeordneten“ und „Anerkennung der parteidemokratischen Eingebundenheit“ (214). Bei „Wüppesahl“ (1989) sähe das Gericht trotzdem „weiterhin im Staatsorgan Parlament“ den Ort substanzieller Entscheidungsfindung, sodass es die „Fachausschüsse des Bundestages [...] zu ‚Ersatzdeliberatorien‘“ stilisierte (319). So bleibe das Parlamentarismusverständnis durchzogen „von einer bis in die jüngeren Entscheidungen getragenen Skepsis gegenüber der potenziellen Usurpation der Unabhängigkeit des Abgeordneten durch seine Partei“ (218 f.). Das zeige sich weiterhin an den Urteilen zur Problematik der „fingierten“, sogenannten auflösungsgerichteten Vertrauensfrage (1983; 2005). Hier habe das Bundesverfassungsgericht einfach einen ungeschriebenen Prüfungsmaßstab („echte Vertrauenskrise“) gegen den formal korrekten Beschluss und politischen Willen aller Bundestagsparteien positioniert.  
       
  2. Das „(Kompetenz-)Verhältnis zwischen Parlament und Regierung“ wird exemplarisch anhand der Außenpolitik untersucht, insbesondere der Entscheidungen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Dabei habe die Rechtsprechung drei Phasen durchlaufen: Zunächst sei das Bundesverfassungsgericht dem klassischen Verständnis der „Gewaltenteilung“ gefolgt, wonach die Außenpolitik als (fast) parlamentsfreie Prärogative der Exekutive gilt (Atomenwaffenstationierung, 1984) – etwa, so ließe sich ergänzen, wie man es schon in der „föderativen Gewalt“ bei John Locke findet. Mit dem (wehrverfassungsrechtlichen) Parlamentsvorbehalt seiner ersten „Out-of-Area-Entscheidung“ (1994) habe das Gericht einen zumindest formellen Richtungsschwenk im Sinne einer „Ausbalancierung der Gewalten“ gemacht (255), ohne jedoch in seinem Verständnis zur Funktionsweise des parlamentarischen Regierungssystems durchzudringen. Erst danach sei es ihm gelungen, den Entscheidungsverbund von Regierung/Parlamentsmehrheit jenseits des formalen Bundestagsbeschlusses – und damit auch die besondere Rolle der Opposition – überhaupt zu berücksichtigen. Insgesamt mangele es aber auch hier an einer klaren parteiendemokratischen Sicht des Parlamentarismus. Daher bleibe die Problematik bestehen, dass das Gericht trotz seiner Absicht, mit dem Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen das Parlament zu stärken, dazu beitrage, die „Beschlussmacht [des Bundestags] als reine ,Akklamation‘ zu desavouieren“ (258). 

  3. Im Abschnitt „Wahlrecht und Repräsentationsverständnis“ schließlich untersucht Kuhn die Entscheidungen zu den Sperrklauseln sowie Überhangmandaten. Das Bundesverfassungsgericht habe hier im Laufe der Zeit sogar eine „Maßstabsverschärfung“ vorgenommen und die Rechtsprechung bleibe von „Parteienskepsis“ (311) gekennzeichnet. Dies wird flankiert, so ließe sich ergänzen, von seiner Skepsis gegenüber der parlamentarischen Parteiendemokratie der EU. Denn gerade zwei der Entscheidungen zur Verfassungswidrigkeit von Sperrklauseln (2011; 2014) betrafen die Europawahlen. Die Sperrklausel hatte das Gericht noch 1979 für zulässig erklärt und ja ausdrücklich mit der Handlungsfähigkeit des schon damals in seiner Bedeutung wachsenden EU-Parlaments begründet.

Mit Blick auf die eingangs genannte Überprüfung des Bilds vom „Hüter des Parlaments“ ergebe sich daher insgesamt, dass den „vordergründig parlamentsfreundlichen Entscheidungen Begründungsmuster auf der Grundlage eines eher klassischen Parlamentsverständnisses unterliegen“ (340). Zum Teil scheine es sogar, als forciere das Bundesverfassungsgericht eine „Renaissance von klassischen Elementen“, um die von ihm etwa angesichts des Wandels des Parteiensystems oder auch infolge der Internationalisierung beobachteten Legitimationsdefizite zu kompensieren (344). Das ist sehr bemerkenswert, „entlarvt“ es doch eine jenseits der konservativ-staatsrechtlichen Tradition stehende, weitere rechtspolitische Motivation in der Entscheidungspraxis. Und es erinnert zugleich an die frühere Rechtsprechung zum Bundesstaatsprinzip, mit der das Bundesverfassungsgericht der zunehmenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes zu Lasten der Länder rechtspolitisch durch eine extensive Auslegung der Zustimmungspflicht des Bundesrats zu begegnen suchte – und so die Situation „verschlimmbesserte“: Letztendlich verschärfte es damit den Exekutivföderalismus Bismarck‘scher Prägung und trieb die „Entparlamentarisierung“ voran. Auch bei der hier untersuchten Thematik zeigt sich daher, dass gute Absicht eben nicht reicht. Denn Kuhn kommt zu der Einschätzung, dass das Bundesverfassungsgericht durch sein Festhalten am klassischen Gegensatz von Regierung und Bundestag zwar die Kompetenzen des Bundestags „,stärkt’[...], jedoch damit nicht automatisch die Handlungsfähigkeit der Mehrheit, auf die es für ein starkes Parlament nicht nur, aber vor allem ankommt“ (341). Auch ein hiermit dann korrespondierendes Verständnis von parlamentarischer Opposition stehe noch aus, trotz einzelner Ansätze in der Entscheidung „Oppositionsrechte“ (2016). 

Man kann diskutieren, ob bei einer solchen Analyse zu Parlamentarismus und Parteiendemokratie nicht die Entscheidungen „Parteienbegriff“ aus den 1990er-Jahren zum Verbot der neonazistischen Organisationen FAP und NL sowie „NPD I und II“ einzubeziehen sind. Auch bleibt anhand weiterer Politikfelder zu prüfen, ob der Bereich der Außenpolitik als klassische „Regierungsdomäne“ wirklich typisch für das verfassungsgerichtliche Verständnis des Kompetenzverhältnisses von Parlament und Regierung ist – oder nicht doch eher eine Ausnahme aufgrund traditioneller Vorstellungen von internationaler Politik darstellt. An der Richtigkeit des Problembefunds, der kompetenten und kenntnisreichen Argumentation in der Arbeit ändert das nichts. Astrid Kuhn hat daher eine grundlegende Studie zum – „altmodischen“ – Parlamentarismusverständnis des Bundesverfassungsgerichts vorgelegt. Ihre Arbeit setzt eine Reihe jüngerer Forschungen zum Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts erfolgreich fort und beweist erneut, was gerade politikwissenschaftliche Analyse hier leisten kann.  

 

CC-BY-NC-SA
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Aus Politik und Zeitgeschichte

 

Bundeszentrale für Politische Bildung / 26.02.2014

kurz&knapp

 

Heiko Sauer / 07.01.2020

Verfassungsblog

 

Mehr zum Themenfeld Effizienz und Leistungsfähigkeit parlamentarischer Strukturen