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Rezension / 24.06.2024

Christina Morina: Tausend Aufbrüche. Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er Jahren

München, Siedler Verlag 2023

Die 2024 mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnete Studie von Christina Morina analysiert anhand von Bürgerbriefen, Flugschriften und Privatbriefen die demokratischen Vorstellungen und Ideen der ostdeutschen Bevölkerung vor und während der Wendezeit. Damit gelinge der Historikerin eine Demokratiegeschichte „von unten“, die bisherige Revolutionserzählungen um die spezifischen Perspektiven und Fragen jener Tage erweitert, was denn die Demokratie als ‚Herrschafts- und Lebensform‘ ausmache, lobt Michael Kolkmann: beispielsweise die Diskussion über das Verständnis von Demokratie als Zustand oder Prozess oder ihr Verhältnis zur Freiheit.

Mit einer Reihe von aktuellen empirischen Befunden – seien es die Ergebnisse der sogenannten „Mitte-Studie“, der Ausgang der Europa- und Kommunalwahlen sowie den Umfragen zu den bevorstehenden Landtagswahlen (gerade in den ostdeutschen Bundesländern) oder Debatten im politisch-gesellschaftlichen Raum wie jene über die kürzlich erschienenen Publikationen von Dirk Oschmann und Katja Hoyer – steht die Demokratie dort stärker denn je auf dem Prüfstand. Dieses Thema greift auch Christina Morina in ihrem neuen Buch „Tausend Aufbrüche“ auf, die als Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld lehrt. Dabei kann sie sich auf die langjährige wissenschaftliche Beschäftigung mit Themen wie dem Verhältnis von Gedächtnis und Geschichte, der politischen Kulturgeschichte im geteilten Deutschland oder grundsätzlich der Erinnerungsgeschichte in unterschiedlichen politischen Systemen stützen.

Auf der Rückseite des Buchs wird die „erste Demokratiegeschichte aus gesamtdeutscher Sicht“ angekündigt. Morina ist Jahrgang 1976, in Frankfurt (Oder) geboren und war damit zum Zeitpunkt des Mauerfalls 13 Jahre alt. Mit Blick auf die DDR- bzw. Transformationsforschung konstatiert die Autorin einen „Boom an Spezial-, Einzel- und Überblicksdarstellungen“ (131). Mit ihrem aktuellen Buch versucht sich Morina in Abgrenzung zu den genannten Werken an einer Demokratiegeschichte „von unten“. Auf breiter Basis hat sie für die Publikation die Dokumente und Quellen der Akteure „von unten“ ausgewertet, nämlich Flugblätter, Protestschreiben, Eingaben und ähnliche Dokumente. Das Werk lässt sich einordnen in das Politikfeld der Geschichtspolitik, das seit einigen Jahren auch in der politikwissenschaftlichen Disziplin verstärkt aufgegriffen wird, nachdem es über einen längeren Zeitraum hinweg vor allem in den Nachbardisziplinen der Kulturwissenschaft und der geschichtswissenschaftlichen Public History seinen Platz gefunden hatte.

Bei ihrer Analyse stützt sich Morina quellentechnisch vor allem auf mehrere, große Bereiche. Da sind zunächst – mit Blick auf die alte Bundesrepublik – die Briefe an die Bundespräsidenten Karl Carstens und Richard von Weizsäcker aus dem Bundesarchiv. Die in der Öffentlichkeit dominierenden „Protestchiffren“ wie „Wackersdorf“, „Gorleben“ oder „Startbahn West“ als „Brennpunkte gesellschaftlicher Politisierung“ (102) spiegelten sich in entsprechenden Zuschriften an die erwähnten Bundespräsidenten wider, etwa im Kontext des Vermummungsverbotes oder der Volkszählung. Diese vielfältigen Äußerungen aus Briefen verwebt Morina mit einschlägigen Befunden zum Beispiel aus der Meinungs- und Einstellungsforschung.

Darüber hinaus stehen vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR abgefangene oder dorthin übergebene Bürgerpost an die Staats- und Parteiführung, Ministerien und Medien der DDR im Fokus. Da es seit der Verwaltungsreform 1952 keine Möglichkeit gab, individuelle Rechte auf dem Rechtsweg einzuklagen, gab es in der DDR auch keine unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit. Bürger konnten und sollten stattdessen ihre Anliegen per Eingaben „einklagen“ (111). Im Mittelpunkt standen hier unter anderem Fragen nach dem Schulfach Staatsbürgerkunde, dem Verhältnis zur Sowjetunion sowie - nach dem Amtsantritt von Gorbatschow - auch die Frage von Reformen in der DDR, wie in Bezug auf die Meinungs- und Pressefreiheit oder die gefälschte Kommunalwahl vom Mai 1989 (110).

Hinzu kommen themenbezogene Petitionen, Flugschriften, Unterschriftensammlungen und Privatbriefe an die Bürgerrechtsgruppe „Neues Forum“ der Wendezeit sowie die Auswertung alter und neuer Zeitungen aus den Berliner und Leipziger Oppositionsarchiven. Mit Blick auf die Auswertung der Leipziger Dokumente konstatiert die Autorin: „[L]iest man diese Materialien aus der Zeit zwischen Herbst 89 und etwa Ende 1990 in Ergänzung zu den programmatischen Texten der DDR-Bürgerbewegung, zeugen sie von einer demokratischen Vorstellungswelt ganz eigener Prägung und Virulenz. Am auffälligsten ist dabei, dass Demokratie hier fast ausschließlich als Frage der Bürgerbeteiligung gedacht und verhandelt wurde: teils als konstruktive Ergänzung des parlamentarischen Mehrparteiensystems, teils als dessen beherzte Herausforderung und teils auch als radikale Alternative zum – je nach ideologischem Standpunkt – ‚verkrusteten‘ westlich-liberalen oder ‚bankrotten’ staatssozialistischen Modell“ (146). Die Autorin schlägt an dieser Stelle den Bogen vom Osten in den Westen, indem sie die vielfältigen Verbindungen nach Westdeutschland thematisiert: „[M]it dem Umbruch ‚drüben‘ wandelte sich die DDR in den Augen vieler Westdeutscher buchstäblich über Nacht vom eingemauerten ‚Imaginarium‘ zum demokratischen Laboratorium“. Und sie ergänzt: „[D]er so rege daherkommende Frühling im Herbst war also keineswegs nur eine ostdeutsche Erfahrung, sondern ein erstaunlich grenzenloses, vielstimmiges innerdeutsches Geschehen“ (147).

Morina thematisiert (und beseitigt) in ihrem Buch ein Forschungsdesiderat, denn „die Formierung einer breiteren innerostdeutschen Öffentlichkeit“ (136) galt bislang als weitgehend unerforscht. Die Autorin „überrascht das Desinteresse an der Frage, welche demokratischen Vorstellungen die damals handelnden Menschen in der Breite der Gesellschaft eigentlich hegten und pflegten oder auch ablehnten und verwarfen“ (132). Im Folgenden kartiert sie die unterschiedlichen Demokratievorstellungen der einzelnen Gruppierungen. Ist Demokratie ein Prozess oder eher ein Zustand? Und wäre eine parlamentarische Demokratie eine realistische und wünschbare Alternative (vgl. 144f.)? Und ging es in den Monaten der Wende eher um das Aufbrechen der alten Ordnung, also eher um „Freiheit“ oder tatsächlich um „Demokratie“?

Schließlich werden darüber hinaus Tausende von Bürgerschreiben an die 1992/93 tagende Gemeinsame Verfassungskommission (GVK) von Bundestag und Bundesrat ausgewertet, die im Zuge der Wiedervereinigung die Aufgabe hatte, mögliche Änderungen des Grundgesetzes zu prüfen. Hier wurden allerdings nur kleinere, vor allem technische Änderungen vorgenommen, eine stärkere Berücksichtigung ost-demokratischer Erfahrungen bzw. deren Einbindung in eine (aktualisierte) gesamtdeutsche Verfassung sowie deren positive Wirkungen kam nicht zustande – ein Aspekt, auf den die Autorin später mehrfach und insbesondere mit Blick auf die daraus möglicherweise resultierenden Konsequenzen für demokratische Teilhabe und die politische Kultur zurückkommt.

Mit Blick auf diese bearbeiteten Bereiche konstatiert die Autorin: Aus dem Arsenal an Ideen, Konzepten, Projekten und Initiativen „lässt sich eine historisch einzigartige Demokratiegeschichte von unten erzählen. Diese Perspektive soll die bislang verfügbaren Revolutionserzählungen keineswegs ersetzen, sie aber um eine wichtige Dimension bereichern: die des innerdeutschen Gesprächs darüber, was eine Demokratie als ‚Herrschafts- und Lebensform‘ ausmacht“ (133). Morina richtet die Perspektive ihrer Untersuchung auf die Zivilgesellschaft bzw. die Öffentlichkeit und damit auf die „Grundbedingung jeder demokratischen Emanzipation: die Herstellung einer authentischen, das heißt pluralen Öffentlichkeit“ (135). Die (wissenschaftliche) Herausforderung ist natürlich, wie sich diese detaillierten und konkreten Befunde in einen größeren systematischen Rahmen einpassen lassen. Da sich Morina jedoch eines breiten Demokratiebegriffs bedient, kann sie im Folgenden auch weitere Teildimensionen des Themas mit einbinden. Im fünften Kapitel zum Beispiel thematisiert sie – dem Kapitel über die „Ankunft in der Berliner Republik“ (179 ff.) folgend - den Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ (AfD) in vergleichender deutsch-deutscher Perspektive und zieht damit unter anderem eine Verbindung von deren aktueller Parteienkritik und den nicht erfüllten Wünschen vieler DDR-Bürgerinnen und Bürger der Wendezeit nach mehr politischer Beteiligung (siehe oben). Auch die politische Biografie Angela Merkels wird unter der Überschrift „Die ostdeutsche Kanzlerin und das Repräsentationsparadox“ (266 ff.) berücksichtigt. Morina zufolge ist es bis heute nicht gelungen, „Ostdeutschland und damit die ostdeutsche Diktatur- und Demokratiegeschichte auf angemessene Weise in das politische Koordinatensystem der Bundesrepublik zu integrieren“ (279).

Gerade die Verknüpfung von zivilgesellschaftlichen Akteuren mit Aspekten politischer Partizipation, etwa über den Themenkomplex Parteien und Wahlen - und das alles vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Transformation bzw. der darauffolgenden gemeinsamen deutschen Politikgeschichte - macht das Buch auch für politikwissenschaftlich Interessierte zu einem großen Gewinn. Christina Morina entwirft in ihrem Buch ein buntes Panoptikum, indem sie einen unschätzbaren vielstimmigen und vielschichtigen Fundus an Bürgerstimmen zusammenträgt. Ausgiebig zitiert sie aus Briefen und Statements von Rentner*innen, Schüler*innen, Gruppen und verbindet diese Analyseebene mit allgemeineren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre und Jahrzehnte. Gerade angesichts der zuletzt teilweise hitzigen Ost-West-Debatte handelt es sich bei „Tausend Aufbrüche“ um eine wohltuend zurückhaltend formulierte und zugleich viele unterschiedliche Aspekte miteinander verwebende Studie, die auf absehbare Zeit den öffentlichen wie auch den wissenschaftlichen Diskurs über eine gemeinsame deutsch-deutsche Demokratiegeschichte prägen dürfte.

 

DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.5
CC-BY-NC-SA
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