Matthias Zehnder: Die Aufmerksamkeitsfalle. Wie Medien zu Populismus führen
Der Schweizer Publizist und Medienwissenschaftler Matthias Zehnder vertritt die These, dass die Boulevardisierung medialer Inhalte zu einer Boulevardisierung der Politik und damit letztendlich zu Populismus führt. Für seine Argumentation greift er die seit Jahrzehnten geführte Debatte über den Zusammenhang von Medien, Kommunikation und Politik auf und stellt sie plausibel in den Kontext der aktuellen Krisenerscheinungen einer Demokratie, die ihre Öffentlichkeit immer mehr im Internet findet. Damit wird – auch für ein breites Publikum – eine verständliche Einführung in ein komplexes Thema geboten.
Das Verhältnis der beiden Sphären Medien und Politik und die sich wechselseitig vollziehende Kommunikation beider ist lange schon Gegenstand politikwissenschaftlicher Debatten. Keine Sphäre kann ohne die andere funktionieren. Ihre Akteure reagieren aufeinander – auch betreffend der Aneignung der Art und Weisen der Bereitstellung öffentlichkeitsrelevanter Leistungen. Die These, die nun der Schweizer Publizist und Medienwissenschaftler Matthias Zehnder aufstellt, scheint unerhört: Die Boulevardisierung medialer Inhalte führe zu einer Boulevardisierung der Politik und damit letztendlich zu Populismus.
So unerhört diese These sein mag: Zehnder führt dem Leser schrittweise den Zusammenhang zwischen der Aufmerksamkeitsfalle, in welche die Medien geraten sind, und dem Populismus vor Augen – und das sehr überzeugend. Weil Medien auf die Aufmerksamkeit der Rezipienten angewiesen sind, diese aber evolutionär bedingt nicht leicht zu bekommen ist, entwickelten sie schon zu Anfang des 20. Jahrhunderts eine Methode, die vorhandene Stand-by-Aufmerksamkeit (awareness) in eine fokussierte Aufmerksamkeit (attention) zu überführen. Ausgehend von den Bedingungen eines evolutionär fest verankerten Aufmerkens nutzen die Medienschaffenden die verlockend erscheinende Formel „Gefahr, Sex und Niedlichkeit“. Der erhöhte Zugang zu Informationen durch eine erhöhte Auswahl an Medien, insbesondere das Internet, stellt den einzelnen Medienkonsumenten einem unendlich groß erscheinenden Mediensupermarkt gegenüber, mit oft kostenfreien Angeboten (Schlaraffenlandproblem).
Die neuen Umstände brachten neue werbebasierte Finanzierungsmodelle und einen Rückgang der klassischen Medienabonnements mit sich – und einen verschärften Kampf um Aufmerksamkeit. Die hieraus resultierende Überflutung der Konsumenten mit Reizen lässt diese abstumpfen (De-Sensibilisierungeffekte). Eine Nachricht hat es somit schwer, wahrgenommen zu werden. Medien suchen also nach immer neuen Möglichkeiten der Aufmerksamkeitsgewinnung (Push-Meldungen). Entsprechend schnell aber nutzen sich auch diese ab, sodass deren Quantität zunimmt, bei gleichzeitigem Verlust der Glaubwürdigkeit (Hirtenjungen-Phänomen). Zusätzlich verschärft wird das Problem durch die Fokussierung auf Außergewöhnliches, was zu einem verzerrten Bild der Welt führt. Da Politik sich ebenfalls um Aufmerksamkeit zu bemühen hat, wird sie aufgrund dieses verzerrten Weltbildes boulevardisiert: Symbolpolitik gewinnt den Vorrang vor der Lösung echter, aber nur wenig Aufmerksamkeit garantierender Probleme. Diese Boulevardisierung der Politik infolge der Aufmerksamkeitsspirale, so die Argumentation Zehnders, ziehe den Populismus nach sich.
Zur diskursiven Vorgeschichte
Zehnders voraussetzungsreiches und doch nichts voraussetzendes Werk greift zurück auf grundlegende Werke zur Medientheorie von Werner Faulstich, Heinz Bude, Georg Franck oder Stefan Weber und bedient sich vieler anschaulicher Beispiele aus der Berichterstattung und aussagekräftiger Analogien (Schlaraffenlandproblem, Hirtenjungenphänomen etc.) mit vor allem didaktischer Funktion. Die Publikation ist daher ein geeigneter Einstieg für all jene, die sich den Themenschwerpunkt „Rechtspopulismus und Medien“ erst noch erschließen wollen. Zahlreiche andere Werke ermöglichen tiefergehende Einblicke in das wechselseitige Abhängigkeitsverhältnis zwischen Medien und Politik. Viel ist über die Funktion der Massenkommunikation vermittels Medien geschrieben worden. Beispielsweise spricht Faulstich (2004) in seiner Einführung in die Medienwissenschaften hierzu wesentliche Aspekte an. Thomas Meyer beschreibt die Rolle der (Massen-)Medien bezüglich der Wirklichkeitswahrnehmung und ihren hohen Einfluss auf alle anderen gesellschaftlichen Bereiche. Mediendemokratie, als Bezeichnung der Aneignung der massenmedialen Logiken und Funktionsweisen durch die politische Sphäre, und Mediokratie, als einseitige Fokussierung der Berichterstattung auf den Massengeschmack, sind zentrale Begriffe. Meyer hat bereits 2001 die Entwicklung der Parteiendemokratie zu einer Mediendemokratie dargelegt. Anstelle des Machtdreiecks aus Gesellschaft, Parteien und Staat trete das Machtdreieck aus Spitzenakteuren, Medien und populistischen Strategien (Meyer 2001).
Ulrich Sarcinelli und Heribert Schatz sprechen im Rahmen ihrer Wahlkampfstudie zu Nordhrein-Westfalen im Jahr 2000 von einer „medialisierten Parteiendemokratie“ als Vorstufe einer Mediendemokratie. Sie sei gekennzeichnet durch eine erhöhte Professionalität des Kampagnenmanagements und geprägt vom Fernsehen als Leitmedium; bewährte Konzepte politischer Öffentlichkeitsarbeit werden durch neue, modernere Elemente angereichert und akzentuiert, zugleich sei eine medieninduzierte Tendenz zur Personalisierung der Politikvermittlung zu beachten. Diagnostiziert wird eine „Entertainisierung“, verbunden mit einem hohen Maß an Ritualisierung und Routinen (Sarcinelli / Schatz 2002: 429 ff.).
Die zunehmende Bedeutung der Medien im politischen Prozess und für den Verlauf politischer Karrieren analysiert Peter Massing. Er definiert Mediendemokratie als ein politisches System, in dem die Medien die zentrale Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung übernommen haben und zugleich Beobachter und Beobachtete sowie Instrumentalisierte sind. Mediokratie umfasst für ihn professionelle Selbstmedialisierung der Politik, welche nach den Regeln theatralischer Inszenierungslogik qualitativ und quantitativ zur Hauptaktivität des politischen Systems geworden ist. Das demokratische Potenzial des Internets sieht Massing kritisch. Es bedeute keine automatische Stärkung der Demokratie, aber auch keine Gefahr für die repräsentative Demokratie. Wie andere Autoren konstatiert auch er eine wachsende Bedeutung der Medien in der Demokratie. Die These, dass wir uns in einer Mediendemokratie oder gar einer Mediokratie befinden, weist Massing als eher wissenschaftliche Überzeichnung zurück (Massing 2004: 6 ff.).
Das Angewiesensein der Demokratie auf eine funktionierende Kommunikation thematisiert auch Ute Scheub, die ähnlich wie Zehnder mit größerem Nachdruck auf die Gefahren mangelnden Interesses für die repräsentative Demokratie hinweist: Um die Zugehörigkeit derer, denen das Recht zukommen soll, politisch partizipieren zu dürfen, findet bereits seit Jahrhunderten ein Streit statt. Es bedurfte weltweit eines langen Kampfes, um Mitwirkungsrechte für alle, ausgestaltet in der einen oder anderen Form von Demokratie, durchzusetzen. Er ist noch nicht vollendet. Mancherorts entbehren Menschen immer noch der geringsten Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen. Vor dem Hintergrund der zunächst weltweiten Ausbreitung und des sich nun augenscheinlich vollziehenden Rückzugs der Demokratien fragen sich Politiker, Wissenschaftler und Publizisten, weshalb etwa immer weniger Menschen wählen gehen oder wie antidemokratische Kräfte, in der Bundesrepublik Deutschland vor allem die AfD, so zügig zu erstarken vermochten. Ute Scheub stellt sich auch dieser Frage in ihrem Buch „Demokratie. Die Unvollendete“ und konstatiert: Sowohl als Regierungsform als auch als normative Idee für die Legitimität politischer Ordnungen ist die Demokratie in der Krise, weil vielen Bürgern das Vertrauen in selbige verloren gegangen ist. Aus verschiedenen Gründen ist die Idee der Demokratie seit einiger Zeit in Gefahr geraten. Scheub untersucht diese Gründe, die sich unter der Diagnose fehlender Resonanz aller staatsbürgerlichen Interessen zusammenfassen lassen. Bunt ist ihr Repertoire an Lösungsansätzen, um der demokratischen Regierungsform wieder Leben einzuhauchen und die Bürger*innen für diese Idee zurückzugewinnen (Scheub 2017).
Bewertung
Schlussendlich lässt sich sagen: Zehnders Buch ist höchst lesenswert. Es geht dem Autor nicht darum, einen neuen Beitrag zu einer längst andauernden Forschungsdebatte zu leisten. Vielmehr bringt er Erkenntnisse von Jahrzehnten mit einem hochaktuellen Problem in Zusammenhang, um das Ergebnis einem breiteren Publikum verfügbar zu machen. Das Buch funktioniert deshalb als verständliche Einführung in ein komplexes Thema und ermöglicht /index.php?option=com_content&view=article&id=41317übergreifende Denkanstöße. Die kurze Skizze zu Scheubs Überlegungen verdeutlicht jedoch, dass Zehnders Buch nur eine Erklärung von mehreren für den Aufstieg des Populismus anbietet und anbieten will. Für Forschende, die öffentliche Debatten untersuchen, wie für Didaktiker, die sich beispielsweise für die Auswirkungen des Medienkonsums von Schülern auf deren Lernerfolg interessieren, dürfte das Buch aufgrund des diskursiven Zusammenhangs, in dem es erscheint, interessant sein.
Literatur
Faulstich, Werner: Medienwissenschaft, Paderborn 2004
Massing, Peter: Einführung: Mediendemokratie, 2. Auflage, Schwalbach/Ts. 2004
Meyer, Thomas: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, Frankfurt am Main 2001.
Sarcinelli, Ulrich / Schatz, Heribert (Hrsg.): Mediendemokratie im Medienland. Inszenierungen und Themensetzungsstrategien im Spannungsfeld von Medien und Parteieliten am Beispiel der nordrhein-westfälischen Landtagswahl 2000 (Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Rundfunk Nordrhein-Westfalen, Bd. 41), Opladen 2002
Scheub, Ute: Demokratie. Die Unvollendete, München 2017.
Repräsentation und Parlamentarismus