Die Krise der CDU. Zukunftsperspektiven der christdemokratischen Volkspartei
Nach Annegret Kramp-Karrenbauers erklärtem Rückzug zeigt sich: Das Experiment „AKK“ ist gescheitert, die Partei ist nicht befriedet, sie hat keine Zukunftsstrategie gefunden und die Führungsfrage ist wieder offen. Die Ursachen für diese Krise liegen allerdings tiefer, reichen weiter zurück und umfassen mehr Ebenen als nur situative Wahlverluste oder die Frage eines personellen Erneuerungsbedürfnisses, schreibt Michael Freckmann und fragt, ob die CDU die Rolle einer Volkspartei heute überhaupt noch spielen kann.
Die CDU sieht sich als die letzte verbliebene Volkspartei. Doch in bundesweiten Umfragen rangiert die Union aktuell bei unter 30 Prozent. Nach Annegret Kramp-Karrenbauers erklärtem Rückzug zeigt sich: Das Experiment „AKK“ ist gescheitert, die Partei ist nicht befriedet, sie hat keine Zukunftsstrategie gefunden und die Führungsfrage ist wieder offen. Die Ursachen für diese Krise liegen allerdings tiefer, reichen weiter zurück und umfassen mehr Ebenen als nur situative Wahlverluste oder die Frage eines personellen Erneuerungsbedürfnisses. Kann die CDU die Rolle einer Volkspartei heute überhaupt noch spielen?
Die goldenen Zeiten der Volkspartei
Über verschiedene Schichten, Bildungsniveaus, Regionen und Generationen hinweg integrierten Volksparteien in den vergangenen Jahrzehnten Wähler und Wählerinnen. Parteiorganisatorisch waren Volksparteien stark föderal und hatten professionalisierte Strukturen sowie ein differenziertes Vor- und Umfeld wie etwa die Junge Union oder die Frauenunion. Aufgrund dieser unterschiedlichen Interessengruppen fand gesellschaftlicher Ausgleich innerparteilich statt. Sie orientierten sich dabei weniger an programmatischer Konsistenz denn an Wahlerfolgen. Ihr Ziel war es, die gesellschaftliche „Mitte“ zu erreichen, wo sich die Mehrheit der Wählerschaft befindet. Ihr folgten die Parteistrategen inhaltlich dann auch bei sich ändernden Einstellungen; zu allen Extremen grenzte sich die Volkspartei ab. Kompromissfähige Koalitionsarbeit mit wechselnden Partnern war für sie zentral.
In den 1950er- bis 1990er-Jahren erreichte die Union bei Bundestagswahlen verlässlich über 40 Prozent der Stimmen. Während der politische Gegner die Christdemokraten bewusst als „Konservative“ titulierte, speiste sich diese Partei seit jeher aus den politischen Strömungen der Wirtschaftsliberalen, den Konservativen und den sozialkatholischen Milieus. Dass die CDU als Volkspartei so lange erfolgreich war, hatte mehrere strukturelle Ursachen (vgl. Walter/ D'Antonio/ Werwarth 2011): Zunächst profitierten die Christdemokraten von einem stabilen, bei Wahlen verlässlich mobilisierbaren, katholischen Milieu, das aber über die Jahrzehnte immer schwächer wurde. Die CDU galt lange als Gründungspartei der Bundesrepublik. Die Gegnerschaft des Kapitalismus zum Sozialismus als konkurrierendem System mobilisierte in die CDU hinein und führte auch über Konfessionsgrenzen hinaus Wählergruppen zusammen. Obwohl sich die CDU-Wählerschaft und -Mitgliedschaft zwar sozialstrukturell aus Menschen unterschiedlichster Schichten zusammensetzte, waren die moralischen Vorstellungen doch weit homogener und wirkten als integrierende Klammer. Die CDU profitierte in der Hochphase des Volksparteikonzeptes von der Bildungsexpansion und der Liberalisierung der Gesellschaft in den 1970er-Jahren. Gesellschaftliche Gruppen konnten sozial aufschließen, Milieuschranken verblichen.
Diese Lebenswelten entwickelten sich jedoch immer weiter auseinander. Die Konservativen, die Wirtschaftsliberalen, die Gesellschaftsliberalen und die christlich-sozialen Anhänger der CDU verband immer weniger in ihrem Blick auf politische Fragestellungen. Die über lange Jahre prägenden politischen Ziele der „Westintegration“ und der sozialen Marktwirtschaft bildeten für weite Teile der Gesellschaft einen breiten Konsens, der jedoch über die Jahrzehnte selbstverständlich geworden war. Besonderen Wert legte die CDU auch auf den „Mitte“-Begriff. Dieser ist aber gerade wegen seiner konzeptuellen Unschärfe für andere Akteure ebenso leicht zu besetzen. Die SPD, die Grünen und die FDP bestimmten so ebenfalls „ihre“ Mitte. Wenn nun gleichzeitig die AfD sich selbst als bürgerlich beschreibt, verlieren jahrzehntelange Markenzeichen der CDU ihre bisher als selbstverständlich angesehene Verbindung zu den Christdemokraten.
Ära Merkel – Anfang vom Ende oder erneuerte Volkspartei?
Viele Merkel-Kritiker betrachten den vielfach als „Sozialdemokratisierung“ charakterisierten gesellschaftspolitischen Modernisierungskurs der CDU als Fehler, der die Profilunschärfe der Union verursacht habe. Jedoch schwenkte Angela Merkel, nachdem sie mit ihrem marktliberalen Kurs beinahe die Bundestagswahl 2005 verloren hätte, wieder auf die parteiliche Linie der Jahre davor zurück. Den beispielsweise lange vom wirtschaftskonservativen Teil der Partei bekämpften Mindestlohn forderte Jahre vor seiner Einführung auch schon die Christlich-Demokratische Arbeitnehmerschaft (CDA). Besonders stark liberalisierte sich die CDU auf den soziokulturellen Feldern der Familien-, Frauen-, und Migrationspolitik. Sie distanzierte sich von jahrzehntelangen Kernprogrammpunkten wie der Hauptschule, der Wehrpflicht und der Atomenergie. Dadurch wurde sie anschlussfähig an die SPD und die Grünen und auch an viele Milieus der bürgerlichen Mitte, die ebenfalls für sich diese Modernisierung vollzogen hatten. Merkels CDU vollzog damit eine Öffnung hin zu neuen Wählerschichten, die aber auch dazu führte, dass dies einen Teil der bisherigen Stammwählerschaft erodieren ließ.
Inhaltlich verflachten in der Folge die innerparteilichen Diskussionen, um potenzielle Wählergruppen nicht abzuschrecken. Gesamtgesellschaftlich nutzte der CDU lange die gute wirtschaftliche Lage. Sie mobilisierte so weniger durch konkret inhaltliche als durch funktionelle Gründe. Dies waren etwa die Stabilität versprechende Person der Kanzlerin, das heraufbeschworene Schreckgespenst „Rot-Rot-Grün“ auf Bundesebene und die Tatsache, dass gegen die CDU keine Regierung gebildet werden konnte. Die sozialdemokratische Richtungssuche beantwortete die CDU mit der „asymmetrischen Demobilisierung“, indem sie viele Themenangebote der SPD übernahm und so die sozialdemokratische Wählerschaft demotivierte. Das Ausscheiden der FDP 2013 aus dem Bundestag brachte der CDU zunächst zusätzlich mehr Gewicht. Da die Kanzlerin als Krisenmanagerin wahrgenommen wurde, wegen des programmatischen Modernisierungskurses der Partei und durch große Wählerwanderungen von der FDP zur Union erreichte die CDU bei der Bundestagswahl 2013 noch einmal unerwartet eine Zustimmung von 41,5 Prozent.
Doch dieses beständige Austarieren der verschiedenen Interessen nach thematischen Konjunkturen und gesellschaftlichen Befindlichkeiten geriet zusehends ins Schlingern. Die CDU lief ihrer gesellschaftlichen „Mitte“ hinterher. Aufwallungen innerparteilichen Unmuts wegen des Liberalisierungskurses, wegen der „Eurorettungspakete“ für Griechenland oder der „Flüchtlingskrise“ 2015, wurden von der Parteiführung nicht aufgenommen. Beispielhaft irritierend war innerparteilich auch, dass Merkel die Abstimmung zur „Ehe für alle“ erst wahltaktisch ermöglichte, dann aber selbst parteitaktisch dagegen stimmte. Wie bereits in den Wahlkämpfen von Adenauer und Kohl waren auch Merkels Kampagnen sehr stark auf die Person der Kanzlerin zentriert. Ihre programmatische Kernaussage im Kanzlerduell 2017 „Sie kennen mich“ ist Ausdruck dessen. So machte sich die CDU umso mehr von der Person Merkel und ihren Beliebtheitswerten abhängig. Bis in den Herbst 2015 hatten die jahrelang kritischen Konservativen der eigenen Partei, selbst ohne kohärentes Programm, kein anderes parteiliches Repräsentationsangebot und wählten weiterhin zerknirscht die CDU oder glitten in die Nichtwahl ab. Das in der Person Merkel verkörperte „Regime der ewigen Gegenwart“ (Heinz Bude), welches für die CDU lange Zeit Erfolg lieferte, büßte seit der außerordentlichen Fluchtbewegung von 2015 merklich an Strahlkraft ein. Viele konservative Wählerinnen und Wähler, für die der Staat im Inneren und an den Außengrenzen zeitweise handlungsunfähig erschien, wurden irritiert. Mit der Etablierung der AfD und mit der „Verbürgerlichung“ der Grünen veränderte sich das Umfeld der CDU drastisch. Auch der monatelange Streit im Sommer 2018 zwischen CDU und CSU in der Migrationspolitik zeigte die nur noch schwer zu lösenden Spannungen.
Die soziale Basis der CDU
Die 40-Prozent-Marke wurde lange als Wert für eine Volkspartei angenommen, was auch immer der Anspruch der CDU gewesen ist. Bei der Bundestagswahl 2017 kam jedoch Merkels Partei nur noch in wenigen Bevölkerungsgruppen auf dieses Niveau. Entlang der Berufsgruppen erhielt die CDU die höchste Zustimmung mit 61 Prozent unter den Landwirt*innen; auch bei den Rentner*innen erreicht sie noch 40 Prozent. Den höchsten Anteil nach Bildungsabschlüssen erreichte die CDU bei den Hauptschulabsolvent*innen mit 37 Prozent, je höher der Abschluss, desto geringer der Wählerzuspruch. In den urbanen Zentren schnitt die CDU schwächer ab als in ihrem Gesamtergebnis. Auch auf weiteren Ebenen bieten die Traditionsbestände Halt: Unter den Katholiken lag die Zustimmung zur CDU bei der Bundestagswahl 2017 noch bei 44 Prozent. Lediglich die über 60-Jährigen wählten zu 45 Prozent die CDU, bei den bis 29-Jährigen lag sie nur bei 25 Prozent. Auf der Landesebene sieht es nicht viel besser aus: In den vergangenen Wahlen erreichte sie in Sachsen bei den älter als 60-Jährigen noch 37 Prozent der Stimmen, in Hessen bei den über 70-Jährigen 42 Prozent, bei der Europawahl in derselben Altersgruppe 47 Prozent und in Niedersachsen 43 Prozent (vgl. Infratest Dimap). Bei den älteren Wähler*innen, die noch in den Kohl-Jahren und früher sozialisiert wurden – also in den starken Zeiten der Volksparteien –, hält sich die CDU stabil. In breiten Bevölkerungsschichten schmilzt die Zustimmung aber erkennbar zusammen.
Die Zuschreibung „bürgerlich“, über welche die CDU sich maßgeblich charakterisierte, ist in den vergangenen Jahrzehnten äußerst unscharf geworden. Die seit den 2000er-Jahren entstandene „neue Mittelklasse“ (vgl. Reckwitz 2020) charakterisiert sich durch gehobenen Bildungsstandard und überdurchschnittliches Einkommen, die Orientierung an Entgrenzungserfahrungen und urbanen Lebensräumen. Ein Teil dieser Schicht ist eher an moralischen und ökologischen Fragen interessiert, während andere der materiellen Selbstverwirklichung den uneingeschränkten Vorzug geben. Ihnen stehen jene Schichten gegenüber, die im Ordnungsdenken verhaftet sind und sich am Nationalstaat orientieren. Spannungen entstehen dort, wo jene traditionelle Schicht bürgerliche Statusangst entwickelt sowie sozialen Abstieg erlebt und auf der anderen Seite die modernen Bürgerlichen sich wegen kultureller Differenzen von den „Provinzlern“ und Unmodernen abgrenzen. Besonders große Verluste erlitt die CDU bei der vergangenen Bundestagswahl in den Milieus der sogenannten „Bürgerlichen Mitte“, der „Konservativ-Etablierten“ und der „Traditionellen“. Diese Milieus zeichnen sich etwa dadurch aus, dass sie auf gesellschaftliche Sicherheit und Ordnung, traditionelle Moralvorstellungen und Leistung Wert legen, Werteverfall bemängeln und in Teilen Abstiegsängste haben. Bisher zählten diese Gruppen zu den Kernwählern der CDU (vgl. Vehrkamp/ Wegschaider 2017). Problematisch ist hierbei besonders, dass der Stimmenverlust in diesen Milieus nicht durch Gewinne in anderen Milieus in ähnlichem Maß aufgewogen wurde. Für die CDU bedeutet dies, dass diese Konflikte quer durch ihre eigene Anhängerschaft verlaufen. Ein Brückenschlagen durch die Union ist jedoch weitaus schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Das Bedürfnis nach Distinktion ist gegenwärtig so stark ausgeprägt, dass eine Partei diese verbindenden Kräfte nur schwer aufbringen kann.
Besonders in parteilichen Krisen finden Führung und Mitglieder wieder zusammen; werden diese von der Führung als Seismographen der Gesellschaft gesehen, verlangen jene nach Mitsprache. Am Ende des Jahres 2018 hatte die CDU 414.905 Mitglieder; das entspricht gegenüber 1990 einem Verlust von 47,5 Prozent. Gerade einmal 5,7 Prozent der Mitglieder sind 30 Jahre alt oder jünger, der Anteil der CDU-Mitglieder über 60 Jahre beträgt 52 Prozent. Der Frauenanteil liegt bei 26 Prozent. Auch zeigen sich weiterhin konfessionelle Konstanten; so sind 47 Prozent der Mitglieder Katholiken. Mehr als 124.500 Mitglieder bei 18 Mio. Einwohner*innen stammen aus dem Landesverband NRW. Alle ostdeutschen Landesverbände, inklusive Berlin, kommen zusammen gerade einmal auf etwa 49.600 Mitglieder bei 16 Mio. Einwohner*innen (vgl. Niedermayer 2019). Der Anteil der ostdeutschen Parteimitglieder liegt außer bei den Linken bei allen Parteien unter einem Drittel der Gesamtmitgliedschaft. Ein Anteil ostdeutscher Mitglieder von 12 Prozent in der CDU-Mitgliedschaft hat jedoch entsprechende Folgen für die innerparteiliche Willensbildung.
Zwischen Wählerschaft und Mitgliedschaft zeigen sich auch deutliche Unterschiede (vgl. Neu 2015): Die Mitglieder stufen sich selbst auf einer Links-Rechts-Skala merklich weiter rechts ein als die Position ihrer Partei. Für die Mitglieder sind Grundwerte wesentlich mehr von Bedeutung als für die Wählerschaft der Partei. Auch wollen die Mitglieder weniger widerstreitende Interessen in sich aufnehmen, sehen den Zeitgeist kritischer und wollen eher dem „christlichen Menschenbild“ folgen als die CDU-Wählerschaft. Es gibt hierbei auch altersmäßige Unterschiede: Jüngere Mitglieder sind dem Zeitgeist gegenüber offener eingestellt, fühlen sich aber weniger stark dem „christlichen Menschenbild“ verbunden als die Älteren, und ihnen ist die Integration verschiedener Interessen in ihrer Partei weniger wichtig. Dies zeigt, dass die Jüngeren zwar offener für aktuelle Entwicklungen sind, aber gleichzeitig die Interessenintegration, und damit diesen Teil des Volksparteigedankens als Integrationsprojekt, kritischer sehen.
Ein Bedürfnis nach Partizipation seitens der Parteimitglieder, etwa bei Personal oder Programmatik, stellt die Parteispitze vor die Herausforderung, diese Spannung der Werteinstellungen zwischen Mitgliedern und Wählerschaft überbrücken zu müssen. Die Parteiführung ist der eigenen Basis Rechenschaft schuldig; dies bedeutet aber nicht, dass Personen oder inhaltliche Standpunkte, die sich in der Mitgliedschaft größter Beliebtheit erfreuen, ebensolchen Anklang in der eigenen Wählerschaft finden. Der Trend zur Professionalisierung von Parteien mit der damit einhergehenden Schwächung der Rolle der Mitglieder verkompliziert zudem die Situation, besonders deshalb, weil Parteimitglieder als Multiplikatoren in den gesellschaftlichen Raum hinein und als Wahlkämpfer wichtig bleiben werden.
Widerstreitende Erwartungen: Bruch, Aufbruch oder Kontinuität?
Vor dem Hintergrund dieser dargestellten Entwicklungen muss die Partei versuchen, eine Neuaufstellung zu wagen. Sie ist dabei mit widerstreitenden Erwartungen konfrontiert. Innerhalb von Parteien kann nach langen Führungsphasen, die mit einer Person verbunden werden, das Bedürfnis nach einer strukturellen Erneuerung entstehen. Gesichter, Kommunikationsweisen, Handlungsmuster und inhaltlicher Kurs haben sich dann in ihrer Mobilisierungsfähigkeit erschöpft. Für eine Nachfolgerin kann es dann sehr belastend sein, wenn diese als Kronprinzessin der Vorgängerin gesehen wird.
In der Gesellschaft und der CDU gibt es daneben ein offenkundiges Bedürfnis nach Orientierung und Beständigkeit. Vergangene und aktuelle Krisen rund um das Finanzsystem, die Migration und das Klima verunsicherten Teile der Bevölkerung. Auch Skandale in der katholischen Kirche, der Automobilindustrie und im Fußball, niedrige Zinsen und die Schwächung der transatlantischen Zusammenarbeit führten zu Verwässerungen bürgerlicher Gewissheiten. Die großen Parteien haben im Rahmen ihrer Öffnung hin zu neuen Wählergruppen eigene ideologische Bestände abgebaut, ohne jedoch irgendeine Art Erzählung oder Zielrichtung an ihre Stelle zu setzen. Sie traten allein als „Problemlöser“ auf. Gerade in solchen Situationen entsteht, besonders auf bürgerlich-konservativer Seite, das Bedürfnis nach einer Rückbesinnung auf eindeutige Verhältnisse. Doch ist dieser Führungsstil auch trügerisch: Parteivorsitz oder Kanzlerschaft verlangen integrative Fähigkeiten, keine polarisierenden. Die „klare Kante“ suggeriert Eindeutigkeit und einfache Verhältnisse, wo keine sind; die Enttäuschung der Anhänger*innen wird hinterher umso größer. Wenn im Regieren durch Machtworte einzelne Akteure nicht folgen und diese sich nicht disziplinieren lassen, erodiert die Macht der Führung schnell. Ganz davon zu schweigen, dass bei einem „Basta“-Stil die Anhänger, die sonst stark nach Mitbestimmung streben, gerade nicht gefragt werden.
Die verschiedenen innerparteilichen Lager stehen durchaus differenziert zu den Fragen von Kontinuität und Wandel. Während für die einen Kontinuität zur Merkel-Ära die Politik der „Flüchtlingskrise“ und das vielerorts unbeliebte kleinschrittige Handeln der großen Koalition bedeutet, sehen andere in der Kontinuität die erfolgreiche Krisenkanzlerin und die unideologisch-nüchtern agierende pragmatische Politikerin, deren Politikstil in weiten Teilen der bürgerlichen Milieus nach wie vor beliebt ist. Auch braucht es für einen Bruch mit dem Vorherigen oft die als existenziell wahrgenommene Krisensituation: Eine dramatische Wahlniederlage, Skandale, abrupter Verlust der Regierungsbeteiligung oder gar das Ausscheiden aus dem Parlament. Die Krise der Partei ist, wenn auch langanhaltend schlimmer werdend, eher schleichend. Die Situation verkompliziert sich dadurch, dass Merkel gegenwärtig noch immer die beliebteste Politikerin in Deutschland ist.
Besonders jenes innerparteiliche Lager, welches sich hinter Friedrich Merz versammelt, steht auch für eine Sehnsucht nach der „alten“ CDU vor Merkels Zeit, als die Partei noch katholisch, männlich und westdeutsch geprägt war. Aber auch innerhalb dieses Lagers sind die Erwartungen widersprüchlich: Die einen erwarten eine zentrale Stärkung wirtschaftsliberaler Positionen – jedoch sind gesellschaftliche Mehrheiten hierfür nicht in Sicht. Andere fordern eine konservative Wende. Ob diese jedoch wert- oder strukturkonservativ unter Zurückdrehung Merkel‘scher Liberalisierungen geprägt sein soll, ist in der Partei nicht durchdekliniert und dürfte in breiten, gegenwärtigen CDU-Wählergruppen auf Ablehnung stoßen. Die „Werteunion“, selbst keine anerkannte Plattform der CDU, ist eher medial präsent als innerparteilich stark verankert. In ostdeutschen Landesverbänden gibt es zudem Sympathien für eine Zusammenarbeit mit der AfD, was im Westen der Republik diametral anders gesehen wird.
Die CDU hat in den letzten Jahren ihre Kraft über den Regierungspragmatismus gezogen und /index.php?option=com_content&view=article&id=41317konjunkturell und umfragebasiert kleinschrittig aus dem Kanzleramt heraus Politik gemacht. Aufgrund dieser diskursiven Entleerung der Union, die auch zeitweise Voraussetzung für Merkels Wahlerfolge war, kann sie aktuell auf diese Lücken nicht schnell reagieren. Zudem müssen der Positionsbestimmung auf diesen Problemfeldern innerparteiliche Auseinandersetzungen vorausgehen. Erschwerend kommt für eine selbst erklärte „Mitte“-Partei hinzu, dass sie nicht wie andere Klientel- oder Themenparteien einseitig Antworten auf bestimmte Themen finden kann. Maßgeblich für die inhaltliche Ausrichtung der Parteien in den vergangenen Jahrzehnten waren die Konflikte auf der sozioökonomischen Ebene zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Markt und Staat. So ging es bei Wahlen oft zentral um Arbeitslosigkeit und Wirtschaftswachstum. Hierfür hatte jeder seine Rezepte, manchmal auch Reflexe, parat. Gegenwärtig jedoch prägen andere Konfliktlinien die Gesellschaft (vgl. Lucke 2019). Es geht etwa um soziokulturelle Auseinandersetzungen, um Identität, den Gegensatz zwischen Globalisierung und Nationalstaat, zwischen Modernisierungsoffenheit und Veränderungsskepsis. Dies wird an der wachsenden Zustimmung für die Grünen und die AfD deutlich, die sich hauptsächlich entlang dieses Konfliktfeldes positionieren. Fragen der Generationengerechtigkeit in einer alternden Gesellschaft bergen ebenso sozialen Sprengstoff wie auch die Auseinandersetzungen zwischen ländlichen und urbanen Regionen mit ihren jeweils divergenten Problemlagen. Während die Grünen in westlichen Bundesländern teils über 20 Prozent Zustimmung erhalten, trifft dies auf die AfD im Osten des Landes zu. Eine bundesweit den Erfolg suchende Partei muss dies bei ihrer Ausrichtung berücksichtigen.
Mit Blick auf die Koalitionsfähigkeit der CDU ist die Partei strategisch lange gut damit gefahren, sich von neuen Parteien abzugrenzen und diese als unsichere Kantonisten darzustellen. Im Sinne des Adenauer-Slogans „Keine Experimente“ trug die CDU zu einem langsamen Fortschritt der Gesellschaft bei. Dies gelang aber nur, solange unter den bisher bestehenden Akteuren Mehrheiten möglich waren, und es keinen Aderlass ehemaliger CDU-Wähler*innen zu den neuen Gruppierungen gegeben hat. Gegenwärtig jedoch fühlen sich Teile des Bürgertums in ökolibertärem Erbe früherer Alternativkultur zu Hause, andere Bürger können mit „Maß und Mitte“ nichts mehr anfangen und streben zurück in alte gefestigte Weltbilder. Lange galt auch, dass eine Zusammenarbeit mit der FDP nur an rechnerischen Mehrheiten scheitern könnte, nicht aber an politischen. Seit „Jamaika“ ist diese Erkenntnis vergangen, das alte Lagerdenken überholt. Eine Mehrheitsbildung innerhalb des „rechten“ Lagers ist dadurch blockiert, dass die AfD seitens der anderen nicht für koalitionsfähig gehalten wird. Auch regiert die CDU aktuell schon als Juniorpartner; dahin sind die Zeiten, in denen die Christdemokraten natürlicherweise das Regierungsoberhaupt stellten und so ihnen als größerem Partner die Strahlkraft zufiel. Weil die CDU nicht mit der AfD regieren will, muss sie weiterhin mit den Parteien links von ihr in Koalitionen zusammenarbeiten, was eine konservativere Politik und die Profilbildung insgesamt erschwert. Wie das Beispiel der thüringischen Lage nach der Landtagswahl 2019 zeigt, können Situationen entstehen, in denen ohne Linke oder AfD keine Mehrheiten mehr gebildet werden können. Der von der CDU auf ihrem Bundesparteitag 2018 verfasste „Unvereinbarkeitsbeschluss“ gegen Linke und AfD gleichermaßen ist für eine Partei, deren Markenkern immer unideologisches Handeln und situativer Pragmatismus war, untypisch. Ein solcher kategorischer Beschluss zeigt die Verunsicherung der CDU. Er macht deutlich, dass die Mobilisierung der eigenen Wähler stark aus der Abgrenzung zu anderen Parteien und nicht so sehr programmatisch aus sich heraus geschehen ist.
Ausblick: Eine unter mehreren oder zurück zu alter Stärke?
Die alten Integrationsmechanismen der Volksparteien wirken nicht mehr, die traditionelle soziale Basis der CDU ist geschrumpft, die Gesellschaft hat sich differenziert, die Gegnerstellung zu konkurrierenden Systemen ist überflüssig geworden und die Konfliktlinien haben sich maßgeblich verändert. Ob es zukünftig wie in anderen Ländern mehrere sich bei 20 Prozent einpendelnde Parteien geben oder eine Partei strukturell die stärkste bleiben wird, ist noch nicht abzusehen. Die CDU könnte aber bis auf Weiteres die hegemoniale Kraft des Parteiensystems bleiben, wenngleich auch Zustimmungsraten jenseits der 40 Prozent nicht realistisch erscheinen. Die Frage nach Alleinstellungsmerkmalen und Gründen für die Wahl einer Partei stellen sich für alle Parteien immer wieder neu, für die Christdemokraten aber an ihrer gegenwärtigen Wegscheide ganz besonders. Über die Frage hinaus, welche Personen den Parteivorsitz übernehmen sollen, muss sich die CDU mit ihrer zukünftigen inhaltlichen Schwerpunktsetzung und Profilgewinnung auseinandersetzen. Sie muss klären, welchen Platz sie im Parteienwettbewerb einnehmen will und wie sie zur politischen Konkurrenz steht. Die CDU muss sich fragen, welche Wählergruppen sie ansprechen, für wen sie Politik machen will.
Gerade weil die langfristige Bindung an die Parteien nachlässt, werden die inhaltlichen kurzfristigen Positionen, die strategische Rolle im Parteiensystem und das Personal der Parteien noch einmal wichtiger. Dennoch: Weniger funktionale Faktoren, wie das Regieren als Selbstzweck oder dass gegen die CDU keine Regierung gebildet werden könne, wirken allein auf Wähler anziehend. Notwendig ist eine Parteiführung, die personell und habituell die für die Union wesentlichen Wählergruppen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Konfliktfelder repräsentieren kann. Hierzu bedarf es auch der Bereitschaft von bei Kandidaturen unterlegener Kandidaten, sich mit einbeziehen zu lassen, sowie der Kanzlerin, einen Übergang im Sinne der Partei aktiv mitzugestalten. So besteht auch eine der schwierigsten Leistungen innerparteilicher Führung darin, die durch Kampfkandidaturen sichtbar werdenden Lager wieder zu einen. Dies erfordert markante Köpfe, diskursive Breite und sich ergänzende Zentren, die eigene Akzente setzen und so Bedürfnisse potenzieller Wählergruppen widerspiegeln und in die CDU hinein integrieren.
Um koalitionsfähig zu bleiben, muss die CDU flexibel sein; dies bedeutet jedoch nicht, beliebig zu sein. Die Koalitionsoptionen auf Bundesebene sind bis auf Weiteres vermutlich Schwarz-Grün, respektive „Jamaika“, oder die „Große Koalition“. Dass die CDU in diesen Modellen, und in einigen Bundesländern sogar noch in weiteren Varianten, regieren kann, zeigt sie bereits. Jedoch braucht es dafür nicht nur Offenheit und programmatische Anschlussfähigkeiten. Es benötigt koalitionslogisch die Fähigkeit, über die Koalitionspartner komplementäre Schichten zu vereinen und jedem Partner seine Profilierungsspielräume zu lassen. Parteilogisch hingegen braucht es auch einen stärker sichtbaren eigenen Markenkern.
Dieser darf nicht allein darin begründet liegen, ein Übermaß an „roter“ oder „grüner“ Politik zu verhindern. Umso mehr muss die Partei aus sich heraus, aus programmatischer und wertbezogener Überzeugung, agieren. Das ausgleichende Prinzip im politischen Handeln, das sich im Begriff „Volkspartei“ ausdrückte, bedarf wieder einer inhaltlichen Aufladung. Gerade in der aktuellen Weltlage der politischen Polarisierungen könnte eine ausgleichende Kraft vonnöten sein. Das ökologische Bedürfnis nach dem Schutz der Natur vor Umweltzerstörung kann sich mit dem konservativen Bewahrungsgedanken und dem christlichen Erhalt der Schöpfung verbinden. Auch in der Migrationspolitik ließe sich Humanität mit wertebasiertem Handeln und einer Politik der Nächstenliebe zusammenbringen. Eine Art erneuertes Wohlstandsversprechen, das sich beispielsweise von einem naiven reinen Technikoptimismus in der Digitalisierung abgrenzt und die Auswirkungen auf Sozialsysteme und Arbeitsmarkt generationengerecht aktiv mitgestaltet, könnte ein Ansatz sein. Ein Interessensausgleich unter Anerkennung des Klimawandels zwischen linksliberal-urbanen und ländlichen Lebenslagen, der pro-europäisch gedacht wird, ist ebenso naheliegend. Auch die klassische Betonung des Sicherheitsgedankens, abgebildet auf den Feldern des Inneren, Sozialen und Äußeren, bietet sich an und verbindet die Bedürfnisse nach gesellschaftlichem Zusammenhalt, Orientierungssuche und der Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit gegen Extremisten.
Dies kann für die CDU aber nicht gelingen, indem sie sich auf konservative Interessen zurückzieht, wirtschaftsliberale Abenteuer vollführt oder gar in der Gesellschaftspolitik Liberalisierungen zurücknimmt. In einem volatilen Parteiensystem gewinnt die Partei keine Identität durch Rückzug ins Gestern oder in ein vermeintlich reines Weltbild. Das würde nicht nur konträr zur innerparteilichen Kultur der Verbindung unterschiedlicher Lager stehen, sondern auch einen massiven Verlust an in der Mitte gewonnenen Wählern bedeuten. Die Krise der CDU wird nicht durch eine Führungsperson allein gelöst werden, diese kann aber den Startschuss zu einer umfassenden Selbstvergewisserung geben.
Literatur
Infratest Dimap: Wahlanalysen von Infratest Dimap abrufbar unter: https://www.wahl.tagesschau.de.
Lucke, Albrecht von: Die Transformation der Volksparteiendemokratie, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 7/2019.
Neu, Viola: „Ich wollte etwas bewegen” Die Mitglieder der CDU, Konrad-Adenauer-Stiftung, Berlin 2015
Niedermayer, Oskar: Parteimitglieder in Deutschland, Version 2019, Arbeitsheft aus dem Otto-Stammer-Zentrum der FU Berlin, Berlin 2019.
Reckwitz, Andreas: Wie die CDU das Bürgertum zurückgewinnen kann, in: Spiegel, 8/2020.
Vehrkamp, Robert / Wegschaider, Klaudia: Populäre Wahlen: Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017, Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2017.
Walter, Franz / Werwath, Christian / D'Antonio, Oliver: Die CDU: Entstehung und Verfall christdemokratischer Geschlossenheit, Stuttgart 2011.
Repräsentation und Parlamentarismus
Rezension
{BID=40496} Der Vorwurf wankelmütiger Prinzipienlosigkeit ist stete Begleitmusik der Kanzlerschaft Angela Merkels. Die CDU-Chefin, argwöhnen Kritiker, suche ihr Heil stets im taktierenden Abwarten und gebe im Zweifelsfall auch eherne Grundüberzeugungen ihrer Partei preis, wenn dies nur dem Machterhalt diene. Aber hat die CDU unter Merkel tatsächlich ihr programmatisches Profil verloren? Petra Hemmelmann analysiert die Programmatik der Partei seit ihrer Gründung und kann nicht feststellen, dass sie mit ihrem Wertekanon gebrochen habe. Auch sei die CDU keineswegs nur ein Kanzler(in)wahlverein.
weiterlesen
Medienschau
Albrecht von Lucke
Merz, Laschet, Söder: Die CDU und die Quadratur des Kreises
Blätter für deutsche und internationale Politik, April 2020
Andreas Rödder
Die CDU muss sich erneuern, bevor sie implodiert
Cicereo, 3. März 2020
Marc Brost, Mariam Lau und Martin Machowecz
Wer sind wir – und wie viele?
Zeit online, 26. Februar 2020
Nico Fried
Union in der Krise: Droht der CDU der Niedergang
Süddeutsche Zeitung, 15. Februar 2020
Florian Gathmann
„Die tiefste Krise, in der die CDU je steckte“
Stimmenfang-Podcast, Der Spiegel, 13. Februar 2020