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Rezension / 18.05.2017

Harald Schoen, Hans Rattinger, Maria Preißinger, Konstantin Gavras, Markus Steinbrecher: Election Campaigns and Voter Decision-Making in a Multi-Party System. The 2009 and 2013 German Federal Elections

Baden-Baden, Nomos 2017

Unter welchen Bedingungen nehmen Bürgerinnen und Bürger an Bundestagswahlen teil und wodurch festigen oder ändern sich politische Präferenzen im Laufe eines Wahlkampfes? Das Buch von Harald Schoen, Hans Rattinger, Maria Preißinger, Konstantin Gavras und Markus Steinbrecher liefert Antworten auf diese Fragen. Das Autorenteam nutzt die German Longitudinal Election Study (GLES) der Bundestagswahlen 2009 und 2013, um die Dynamiken im Vorfeld einer Wahl aufzuzeigen. Dabei sticht vor allem ein Resultat ins Auge: Ein Drittel der Befragten hat seine Zweitstimmenpräferenz geändert.

Unter welchen Bedingungen nehmen Bürgerinnen und Bürger an Bundestagswahlen teil und wodurch festigen oder ändern sich politische Präferenzen im Laufe eines Wahlkampfes? Das Buch von Harald Schoen, Hans Rattinger, Maria Preißinger, Konstantin Gavras und Markus Steinbrecher liefert Antworten auf diese Fragen. Das Autorenteam nutzt die German Longitudinal Election Study (GLES) der Bundestagswahlen 2009 und 2013. Für beide Wahlen existiert eine sieben Wellen umfassende Wiederholungsbefragung, mit der Dynamiken auf der aggregierten und individuellen Ebene ermittelt werden können. Panel-Designs bieten die beste Möglichkeit, Verhaltensänderungen auf dem Level der Befragten zu ermitteln. Dennoch wird richtigerweise bereits zu Beginn des Buchs darauf hingewiesen, dass auch durch eine Wiederholungsbefragung die tatsächlichen Effekte über- oder unterschätzt werden können.

Während in einigen Bereichen keine klaren Dynamiken sichtbar werden, sticht vor allem ein Resultat ins Auge: Ein Drittel der Befragten scheint im Laufe der Wahlkampagnen die Zweitstimmenpräferenz geändert zu haben. Die deutsche Wählerschaft ist volatil und Wahlkampfstrategien, Spitzenkandidaten und wichtige (Medien-)Ereignisse können über den Ausgang einer Wahl entscheiden. Die Autorinnen und Autoren empfehlen daher, das „minimal effects model“ hinsichtlich der Effekte von Wahlkämpfen kritisch zu hinterfragen.

Um sich über die Parteipositionen zu informieren, haben vor beiden Wahlen mehr als die Hälfte der Befragten eine TV-Debatte der Spitzenkandidaten geschaut. Für die Wahl 2013 erklärten 47 Prozent von ihnen, den „Wahl-O-Mat“ genutzt zu haben, um die Positionen der Parteien mit den eigenen Ansichten zu vergleichen. Dieser Wert liegt 25 Prozentpunkte über den der tatsächlichen Nutzer, gemessen an der Anzahl der Wahlberechtigten (siehe Karl-Rudolf Korte [Hrsg.]: Die Bundestagswahl 2013. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung: 189). Wie erwartet scheinen die online durchgeführten Panelbefragungen eine überproportionale Anzahl an internetaffinen Teilnehmer*innen zu umfassen, was auch die Autor*innen eingestehen.

Die Befragten sind tendenziell politisch äußerst interessiert. Im Schnitt gaben 61 (2009) und 66 (2013) Prozent von ihnen an, ein hohes politisches Interesse zu besitzen. Um herauszufinden, ob erneut Auswahleffekte zu diesen außerordentlich hohen Werten geführt haben könnten, hätten diese Angaben mit ähnlichen, nicht auf Online-Panels basierenden Studien verglichen werden können. Politisches Interesse und Parteizugehörigkeit erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Befragte Medienberichte und den „Wahl-o-Mat“ zurate ziehen. Auf der anderen Seite erreichen die Kommunikations- und Wahlkampfstrategien der Parteien Bürger*innen mit geringem Interesse an der Politik nur selten. Die Autor*innen bilanzieren deshalb, dass sich die Partizipationslücke zwischen potenziellen Wähler*innen mit niedrigem und hohem Interesse weiter vergrößert habe.

Auf den ersten Blick scheinen die Koalitionswünsche vor der Bundestagswahl 2013 eine Ausnahme darzustellen. Nur 25 bis 40 Prozent der Teilnehmer*innen besaßen eine stabile Koalitionspräferenz. Vier Jahre zuvor lag dieser Wert bei über 70 Prozent. Die Autor*innen führen diese signifikanten Unterschiede jedoch vor allem auf unterschiedliche Messinstrumente zurück: „Yet a considerable portion of this additional variation might also stem from random measurement error due to the somewhat less strict measurement strategy employed in the later year“ (115 f.). Diese Differenzen zeigen drastisch, wie die gewährten Antwortmöglichkeiten und Skalierungen zu unterschiedlichen Resultaten und Schlussfolgerungen führen können. Selektionseffekte machen sich auch im Hinblick auf die Wahlbeteiligung bemerkbar, die anhand von Regressionsmodellen über 15 Prozentpunkte höher eingeschätzt wird als sie in der Realität ist. In beiden Fällen wäre ein Vergleich – zum Beispiel mit Landtagswahlstudien – zielführend gewesen, um einzuordnen, welche Werte realistisch erscheinen.

Der Band beschränkt sich auf die Analyse der fünf etablierten Parteien (Union, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Die Linke). Wie die Befragten der Alternative für Deutschland im Laufe des Wahlkampfes 2013 gegenüberstanden, bleibt unbeantwortet, weil die Partei erst kurz zuvor gegründet wurde. Da die GLES jedoch auch für die Bundestagwahl 2017 umfangreiche Panel-Befragungen durchführt, werden in kommenden Studien voraussichtlich einige bislang offene Fragen beantwortet werden können: Wie hat die Wählerschaft Entscheidungen über die Spitzenkandidaten der SPD und AfD wahrgenommen? Welchen Einfluss hatten die Landtagswahlergebnisse im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen auf die Wahlentscheidung? Und wie haben sich die Koalitionspräferenzen im Laufe des letzten Jahrzehnts verschoben?

Der Band stellt ohne Zweifel eine große Bereicherung für die deutsche Wahlforschung dar und liefert neue Einblicke in individuelle Verhaltensänderungen und Dynamiken im Vorfeld von Wahlen. Außerdem legen die Autor*innen hohen Wert auf Transparenz und Reproduzierbarkeit der Ergebnisse. Die Rohdaten und Scripts für (ergänzende) Tabellen und Abbildungen sind im Open-Source-Datenarchiv „Dataverse“ verfügbar. Dennoch hätten die präsentierten Resultate in manchen Fällen mit anderen Wahlen oder Ergebnissen von unterschiedlichen Umfragemethoden abgeglichen werden können. Andernfalls fällt es schwer, die Ergebnisse in den (internationalen) Kontext einzuordnen und die Einflüsse von Selektionseffekten, dem Fragenformat und wahlspezifischen Umständen nachzuvollziehen.

 

CC-BY-NC-SA
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